Eine Kommentierung von Lukas Brugger / Claude Humbel
Herausgegeben von Nils Güggi / Lukas von Orelli
IV. Unwesentliche Änderungen der Stiftungsurkunde
Art. 86b
Die Aufsichtsbehörde kann nach Anhörung des obersten Stiftungsorgans unwesentliche Änderungen der Stiftungsurkunde vornehmen, sofern dies aus sachlichen Gründen als gerechtfertigt erscheint und keine Rechte Dritter beeinträchtigt.
I. Normentwicklung
1 Art. 86b ZGB wurde wie kaum eine andere Norm im Schweizer Stiftungsrecht durch Bedürfnisse der Praxis geprägt. Ursprünglich kannte das Schweizer Stiftungsrecht vor dem Hintergrund eines streng verstandenen Trennungs- und Erstarrungsprinzips nur die stark eingeschränkte Möglichkeit, die Statuten unter den Voraussetzungen von Art. 85 f. ZGB zu ändern (vgl. OK-Brugger/Humbel, Art. 85/86 N. 2). Allerdings waren diese Bestimmungen auf wesentliche Änderungen der Stiftungsurkunde bzw. Statuten ausgerichtet. Der korrekte Umgang mit weniger weitreichenden Änderungen war gesetzlich nicht geregelt worden, was die Doktrin und Praxis
2 Die von Art. 85 f. ZGB für klassische Stiftungen errichtete Ordnung stellte vor allem für Personalfürsorgestiftungen ein allzu enges Korsett dar, weil diese eine höhere Anpassungsfähigkeit an gewandelte Verhältnisse erfordern, der mit der gesetzlichen Ordnung nicht Genüge getan werden konnte. Dessen ungeachtet anerkannte das Bundesgericht die vorgenannte Unterscheidung in einem eine Personalfürsorgestiftung betreffenden Leitentscheid nicht nur in diesem Teilbereich, sondern für alle Stiftungen.
3 Diese Rechtsprechung praeter legem wurde sodann mit dem Reformgesetz vom 8. Oktober 2004 erstmals in Gesetzesform gegossen (Art. 86b ZGB).
II. Anwendungsbereich, Voraussetzungen und praktische Umsetzung
A. Anwendungsbereich
4 Art. 86b ZGB ist auf alle gesetzlichen und faktischen Stiftungstypen anwendbar. Insbesondere findet er neben klassischen und Personalfürsorgestiftungen
5 In sachlich-inhaltlicher Hinsicht sind die Grenzen der Anwendbarkeit fliessend.
B. Voraussetzungen
6 Unwesentliche Änderungen sind nach dem neuen Gesetzeswortlaut unter den folgenden Voraussetzungen zulässig: Erstens müssen sie aus sachlichen (d.h. objektiven) Gründen als gerechtfertigt erscheinen. Die vom Bundesgericht in BGE 103 Ib 161 geforderten schützenswerten Interessen
7 Zweitens ist – unverändert – erforderlich, dass die Änderung keine Drittrechte beeinträchtigt. Dazu gehören nach der Rechtsprechung auch die Destinatärsrechte oder spezielle Wahlrechte.
8 Im Zusammenhang mit Fusionen und Vermögensübertragungen erübrigt sich ein Vorbehalt, wie er für Art. 86 ZGB erforderlich war, weil die Voraussetzungen einer Fusion (gemäss Art. 78 Abs. 2 FusG) und einer Vermögensübertragung (gemäss Art. 86 Abs. 2 FusG) materiell jenen einer unwesentlichen Urkundenänderung nach Art. 86b ZGB entsprechen.
III. Verfahren
9 Das Verfahren hängt vom Stiftungstyp ab: Bei klassischen Stiftungen und Personalfürsorgestiftungen liegt es an der Aufsichts- bzw. Umwandlungsbehörde, die Änderung nach Anhörung des obersten Stiftungsorgans vorzunehmen und anschliessend von Amtes wegen bei den Handelsregisterbehörden anzumelden.
10 Bei Familienstiftungen kommt die Änderungskompetenz nach der h.L. und u.E. zu Recht dem obersten Stiftungsorgan zu. Dieses ist dafür verantwortlich, das Vorliegen der Änderungsvoraussetzungen eigenständig zu verifizieren und die Änderung anschliessend umzusetzen.
11 Das Verfahren bei kirchlichen Stiftungen schliesslich richtet sich nach den für diese geltenden Regeln (so kann die Genehmigung durch kirchliche Gremien erforderlich sein).
12 Die Änderungen sind ebenfalls im Handelsregister einzutragen, wobei – wie bei Änderungen nach Art. 85 und 86 ZGB – eine neue Fassung der Statuten eingereicht werden muss (vgl. Art. 22 Abs. 3 und Art. 97 Abs. 1 HRegV, vgl. auch OK-Brugger/Humbel, Art. 85/86 ZGB N. 22).
13 Gegenüber der Änderungsverfügung bestehen dieselben Rechtsmittel wie bei Änderungen nach Art. 85 oder 86 ZGB sowie bei Anordnungen der Aufsichtsbehörde gemäss Art. 84 ZGB.
Literaturverzeichnis
Amadò Flavio/Manfredi Valentina, Il diritto svizzero delle fondazioni in vigore dal 1° gennaio 2023 e dal 1° gennaio 2024 – Le recenti novità legislative riferite alle fondazioni di diritto svizzero, Novità giuridiche 1 (2024), S. 31 ff.
Grüninger Harold, in: Geiser Thomas/Fountoulakis Christiana (Hrsg.), Basler Kommentar, Zivilgesetzbuch I, Art. 1–456 ZGB, 7. Aufl., Basel 2022.
Jakob Dominique, in: Büchler Andrea/Jakob Dominique (Hrsg.), Kurzkommentar ZGB, Schweizerisches Zivilgesetzbuch, 2. Aufl., Basel 2018.
Riemer Hans Michael, Berner Kommentar, Schweizerisches Zivilgesetzbuch, Die juristischen Personen, Die Stiftungen, Art. 80–89c ZGB, 2. Aufl., Bern 2020 (zit. BK-Riemer).
Riemer Hans Michael, Stämpflis Handkommentar, Vereins- und Stiftungsrecht (Art. 60–89bis ZGB) mit den Allgemeinen Bestimmungen zu den juristischen Personen (Art. 52–59 ZGB), Bern 2012
(zit. SHK-Riemer).
Schönenberger Wilhelm, Abänderung von Stiftungssatzungen nach schweizerischem Zivilrecht,
ZSR 66 (1947), S. 41 ff.
Sprecher Thomas, Vom Recht des Stifters, «seine» Stiftung auf den Kopf zu stellen,
Jusletter vom 13. März 2023.
Sprecher Thomas, Die Revision des schweizerischen Stiftungsrechts, Zürich 2006
(zit. Sprecher, Revision).
Von Orelli Lukas, Zur Auslegung des Stifterwillens, Basel 2019.
Fussnoten
- BGE 103 Ib 161 E. 2.
- Grundlegend das Gutachten des Bundesrichters Schönenberger, ZSR 66 (1947), S. 41 ff., insb. S. 58 ff. Ferner BSK ZGB I-Grüninger, Art. 86b N. 2; KUKO ZGB-Jakob, Art. 86b N. 1; BK ZGB-Riemer, Art. 86b N. 5 ff.
- Eingehend zur früheren Lehre BK ZGB-Riemer, Art. 86b N. 5 ff., insb. 10. Ferner KUKO ZGB-Jakob, Art. 86b N. 1.
- Grundlegend BGE 103 Ib 161 E. 2.
- AS 2005 4545. Vgl. dazu auch KUKO ZGB-Jakob, Art. 86b N. 2.
- S. zur Abgrenzung BK ZGB-Riemer, Art. 86b N. 10; SHK ZGB-Riemer, Art. 86b N. 1.
- Parlamentarische Initiative «Schweizer Stiftungsstandort. Stärkung» (14.470), eingereicht von (Alt-)Ständerat Werner Luginbühl <https://www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/suche-curia-vista/geschaeft?AffairId=20140470>.
- Vgl. Parlamentarische Initiative. Schweizer Stiftungsstandort, Stärkung. Bericht der Kommission für Rechtsfragen des Ständerates vom 22.2.2021 (BBl 2021 485); ferner Parlamentarische Initiative Schweizer Stiftungsstandort, Stärkung Bericht der Kommission für Rechtsfragen des Ständerates vom 22.2.2021. Stellungnahme des Bundesrates (BBl 2021 1169).
- Statt vieler Sprecher, Jusletter vom 13. März 2023, N. 19, s. ferner Amadò/Manfredi, Novità giuridiche 1 (2024), S. 37.
- Bei Patronalen Wohlfahrtsfonds wurde mit der Revision von Art. 89a Abs. 8. Ziff. 4 die möglichen Leistungen erweitert. Nach Art. 6cbis SchlT ZGB können entsprechende Zweckänderung (ausweislich der Materialien BBl 2023 2077, BBl 2023 2481) vorgenommen werden, ohne dass die Voraussetzungen von Art. 86 oder Art. 86b erfüllt sein müssen. Ausserhalb dieses engen Anwendungsbereichs bleibt selbstverständlich Raum für Änderungen nach Art. 86 oder Art. 86b ZGB.
- Dies ergibt sich bereits aus dem Grundsatz a maiore ad minus. Gl.M. wie hier, aber ohne Begründung BK ZGB-Riemer, Art. 86b N. 16.
- BK ZGB-Riemer, Art. 86b N. 19.
- In den Worten des Bundesgerichts dürfen unwesentliche Änderungen «weder den eigentlichen Stiftungszweck verletzen, [sic] noch gegen Anordnungen der Stiftungsurkunde verstossen, von denen angenommen werden muss, dass sie nach dem Willen des Stifters als wesentlich und unabänderlich gelten sollen», BGE 103 Ib 161 E. 2.
- S. dazu KUKO ZGB-Jakob, Art. 86b N. 3.
- Gl.M. KUKO ZGB-Jakob, Art. 86b N. 3. Keine praktische Hilfe ist in diesem Zusammenhang die teils im Schrifttum anzutreffende Formel, wonach die Änderung aller Urkundenbestimmungen, die nicht wesentlich sind, unwesentliche Änderungen darstellen, SHK ZGB-Riemer, Art. 86b N. 7.
- SHK ZGB-Riemer, Art. 86b N. 7; nach der von Riemer vetretenen Auffassung handelt es sich immer um unwesentliche Änderungen, vgl. BK ZGB-Riemer, Art. 86b N. 11, was u.E. unter verändertem Recht nicht mehr überzeugen kann, dazu OK-Brugger/Humbel, Art. 85/86 ZGB N. 9.
- Dazu inter alia BSK ZGB I-Grüninger, Art. 86b N. 2; KUKO ZGB-Jakob, Art. 86b N. 3; SHK ZGB-Riemer, Art. 86b N. 7; weitere Beispiele in BK ZGB-Riemer, Art. 86b N. 20 f.
- SHK ZGB-Riemer, Art. 86b N. 7.
- BK ZGB-Riemer, Art. 86b N. 7; BSK ZGB I-Grüninger, Art. 86b N. 2.
- Von Orelli, S. 165 ff.
- Vgl. die dortige E. 2, wo dies als «positive Voraussetzung» umschrieben wird.
- Exemplarisch vgl. BGer, Urteile 5A_719/2017, 5A_734/2017 sowie 5A_725/2017; ferner BVGer B-565/2015 vom 4.10.2015 («Stefanini-Stiftung»), betr. Abschaffung des Wahlorgans.
- SHK ZGB-Riemer, Art. 86b N. 9.
- BSK ZGB I-Grüninger, Art. 86b N. 1; Sprecher, Revision, N. 253.
- SHK ZGB-Riemer, Art. 86b N. 4.
- OK-Brugger/Humbel, Art. 85/86 ZGB N. 8; OK-Brugger/Humbel, Art. 87 ZGB N. 14.
- BK ZGB-Riemer, Art. 86b N. 28.
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