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Kommentierung zu
Art. 55 BPR
defriten

I. Entstehungsgeschichte

1 Mit der Einführung des Proporzwahlrechts 1919 für die Bestellung des Nationalrates wurde auch eine Bestimmung zum Nachrücken etabliert. Das Bundesgesetz betreffend die Wahl des Nationalrates vom 14. Februar 1919 sah in Art. 24 vor, dass die Wiederbesetzung von Stellen im Nationalrat im Falle der Erledigung während der Amtsdauer in der Weise erfolgt, dass die Kantonsregierung von der Liste, auf welcher das ausscheidende Mitglied gewählt worden ist, denjenigen der nicht gewählten Kandidaten als gewählt erklärt, welcher am meisten Stimmen erhalten hat; bei gleicher Stimmenzahl entschied die Reihenfolge der Kandidaten auf der Wahlliste. War der Ersatzmann in der Zwischenzeit bereits verstorben oder wahlunfähig, rückte der Nachfolgende auf der Liste an seine Stelle.

2 Das Modell des Nachrückens bei vorzeitigem Ausscheiden aus dem Nationalrat war in den eidgenössischen Räten im Grundsatz unbestritten. Der damalige Berichterstatter der ständerätlichen Kommission, Ständerat Gottfried Kunz (FDP/BE), begründete die Notwendigkeit des Nachrückens wie folgt: «Die […] Proporzwahl ist auf dem Grundsatz aufgebaut, dass den Parteien die ihrer zahlenmässigen Stärke entsprechende Zahl von Mandaten zukommen soll und das die auf diesem Wege erhaltenen Mandate während einer Amtsdauer im Eigentum bleiben sollen.»

Deshalb seien die während einer Amtsdauer erledigten Mandate durch Kandidaten der Liste wieder zu besetzen, auf welcher das ausgeschiedene Mitglied gewählt worden war.

3 Im Nationalrat drehte sich die Diskussion nicht um die unbestrittene Einführung des Grundsatzes des Nachrückens, sondern vielmehr um die Frage, welcher Ersatzmann nachrücken darf, sofern zwei Kandidaten auf der Liste die gleiche Stimmenzahl aufweisen. Ein Antrag von Nationalrat Robert Schmid (FDP/ZH), wonach in diesen Fällen das Los entscheiden soll, wurde abgelehnt.

Damit wurde der Einfluss der Wähler geschwächt und derjenige der Parteifunktionäre gestärkt.

4 Mit der Einführung des BPR 1975 wurde das System des Nachrückens bei Ausscheiden aus dem Amt während der Legislaturperiode übernommen.

Jedoch entschieden sich die eidgenössischen Räte – entgegen der bisherigen Regel von 1919 und entgegen des Antrags des Bundesrates –, dass bei gleicher Stimmenzahl der Ersatzleute nicht die Reihenfolge der Kandidierenden auf der Wahlliste, sondern vielmehr das Los über den Einzug in den Nationalrat entscheiden soll (siehe Art. 43 Abs. 3 BPR).
Seit der Inkraftsetzung des BPR blieb dessen Art. 55 unverändert.

II. Rechtsvergleich

5 Siehe hierzu ausführlich OK-Lehner, Art. 43 N. 5–8.

III. Bedeutung der Vorschrift und Norminhalt

A. Abs. 1: Erste Ersatzperson rückt nach (Regelfall)

6 Scheidet ein Mitglied des Nationalrates vor Ablauf der Legislaturperiode aus dem Nationalrat aus,

so wird nicht automatisch eine Ergänzungswahl notwendig.
Vielmehr wird mit dem Verfahren des Nachrückens der vakante Sitz im Nationalrat ersetzt.
Beim Nachrücken wird die nachrückende Person («Ersatzmann» gemäss Gesetzeswortlaut) aufgrund des Wahlergebnisses der Gesamterneuerungswahl des Nationalrates bestimmt. Das ausscheidende Mitglied wird durch eine Ersatzperson seiner ursprünglichen Liste ersetzt. Ersatzleute sind Kandidierende, die bei der Wahl nicht gewählt wurden (Art. 43 Abs. 2 BPR).
Mit dem Verfahren des Nachrückens wird das im Zeitpunkt der Gesamterneuerung des Nationalrates bestehende Kräfteverhältnis der Parteien gewahrt.

7 Für das Nachrücken in den Nationalrat braucht es keinen weiteren Wahlakt.

Die Ersatzperson wird von der entsprechenden Kantonsregierung als gewählt erklärt.

8 Das Nachrücken ohne weiteren Wahlakt wird damit begründet, dass ein Mandat während der ganzen Legislaturperiode «im Eigentum» derjenigen Liste steht, die es bei der Gesamterneuerung des Nationalrates auch errungen hat.

Dass die Ersatzleute ohne weiteren Wahlakt als gewählt erklärt werden, mindert ihre Legitimität jedoch nicht. Denn die Mandate, die aufgrund des Nachrückens gemäss Art. 55 BPR erlangt werden, leiten ihre Legitimität unmittelbar aus dem Willen der Wählerinnen und Wähler ab, die die Ersatzleute bei der Gesamterneuerungswahl (mit)gewählt haben. Die Legitimation der nachrückenden Mitglieder des Nationalrates unterscheidet sich demnach nicht von der Legitimation derjenigen, welche direkt nach ihrer Wahl in den Nationalrat einziehen.

9 Das Verfahren des Nachrückens wird nur in den Kantonen (Wahlkreisen) angewendet, in denen zwei oder mehr Nationalratsmandate zu vergeben sind; also in jenen Kantonen, in denen die Mitglieder des Nationalrates nach dem Grundsatz der Verhältniswahl gewählt werden. In Wahlkreisen, in denen nur ein Mitglied des Nationalrates zu wählen ist und damit das System der Mehrheitswahl angewendet wird, wird bei einem vorzeitigen Ausscheiden aus dem Nationalrat eine Ersatzwahl gemäss Art. 51 BPR angeordnet.

B. Abs. 2: Weitere Ersatzpersonen

10 Abs. 2 von Art. 53 BPR regelt den Fall, dass die erste Ersatzperson auf der Liste ihr Amt als Nationalrat nicht antreten will oder kann. In diesem Fall rückt die Person an der nächsten Stelle auf der Liste als Ersatzperson in den Nationalrat. Die Reihenfolge ergibt sich aus ihrer persönlichen Stimmenzahl, welche sie bei der Gesamterneuerungswahl erreicht haben (Art. 43 Abs. 2 BPR).

Bei Stimmengleichheit entscheidet das Los (Art. 43 Abs. 3 BPR).

11 Kann ein Sitz nicht nach dem Verfahren des Nachrückens besetzt werden, findet nach dem in Art. 56 BPR geregelten Verfahren eine Ergänzung durch die Wahllistenverantwortlichen oder eine Ergänzungswahl statt.

C. Exkurs: Parteiwechsel von Ersatzleuten vor dem Nachrücken

12 Wie hiervor festgehalten, ermöglicht das Verfahren des Nachrückens grundsätzlich das Kräfteverhältnis im Parlament für die gesamte Legislaturperiode zu erhalten.

Dieser Grundsatz kann insbesondere nicht mehr eingehalten werden, wenn eine Ersatzperson vor dem Nachrücken aus der politischen Partei oder ihrer «Listenträgerschaft» ausgetreten ist.
Dieser Umstand wird in der Lehre verschieden bewertet: Für Anina Weber ist ein Austritt aus der Partei bzw. «Listenträgerschaft» unabhängig vom Moment des Austritts, proporzwidrig und verletzt verschiedene verfassungsrechtliche Bestimmungen.
Tomas Poledna hingegen erkennt im Austritt aus der Partei bzw. der «Listenträgerschaft» keine Verletzung der Treuepflicht gegenüber der Wählerschaft und damit auch keine Verletzung der politischen Rechte.

13 In einem den Kanton St. Gallen betreffenden Fall, in dem die gewählte Barbara Keller-Inhelder zwischen ihrer Wahl und der Konstituierung des Kantonsrates von der CVP zur SVP wechselte, hielt das Bundesgericht fest, dass ein Parteiwechsel, unabhängig davon, ob dieser zwischen Wahl und Amtsantritt oder auch während der Amtsausübung vorgenommen wird, nicht gegen die verfassungsmässigen politischen Rechte verstosse.

Jedoch fügte das Bundesgericht hinzu, dass solche Parteiwechsel durchaus «fragwürdig» seien und mit einem «Verlust an politischer Glaubwürdigkeit» einhergingen.

14 Auch wenn sich das Bundesgericht im ebenerwähnten Urteil zur Frage des Parteiwechsels von Ersatzleuten nicht äusserte, ist aufgrund seiner Argumentation davon auszugehen, dass ein Parteiwechsel von Ersatzleuten vor dem Nachrücken ebenfalls nicht gegen die politischen Rechte verstösst. Denn das Bundesgericht hielt in allgemeiner Weise fest, dass sich aus den verfassungsmässigen politischen Rechten keine Anforderungen an die Zulassung zum Amtsantritt ableiten lassen.

15 Im Lichte dieser bundesgerichtlichen Rechtsprechung

bleibt ein Parteiwechsel für die gewählte Person oder die nachrückende Person unabhängig des Zeitpunkts stets folgenlos. Erachtet der Gesetzgeber diesen Umstand als stossend, steht es ihm selbstverständlich frei, eine Regelung über Konsequenzen eines Parteiwechsels vorzusehen.

Ich danke Benjamin Böhler, BLaw, Hilfsassistent am Zentrum für Demokratie Aarau, für die Mithilfe bei der Materialrecherche und die wertvollen Anmerkungen und Janis Denzler, BLaw, Hilfsassistent am Zentrum für Demokratie Aarau, für die kritische Durchsicht des Textes und die wertvollen Anmerkungen.

Literaturverzeichnis

Aubert Jean-François, Bundesstaatsrecht der Schweiz, Band II, 1995, Basel/Frankfurt a.M. 1995.

Gfeller Katja, Kommentierung zu Art. 51 BPR, in: Glaser Andreas/Braun Binder Nadja/Bisaz Corsin/Tornay Schaller Bénédicte (Hrsg.), Onlinekommentar zum Bundesgesetz über die politischen Rechte, abrufbar unter https://onlinekommentar.ch/de/kommentare/bpr51, besucht am 10.10.2023.

Hangartner Yvo/Kley Andreas/Braun Binder Nadja/Glaser Andreas, Die demokratischen Rechte in Bund und Kantonen der Schweizerischen Eidgenossenschaft, 2. Aufl., Zürich 2023.

Lehner Irina, Kommentierung zu Art. 43 BPR, in: Glaser Andreas/Braun Binder Nadja/Bisaz Corsin/Tornay Schaller Bénédicte (Hrsg.), Onlinekommentar zum Bundesgesetz über die politischen Rechte, abrufbar unter https://onlinekommentar.ch/de/kommentare/bpr43, besucht am 10.10.2023.

Markić Luka, Kommentierung zu Art. 54 BPR, in: Glaser Andreas/Braun Binder Nadja/Bisaz Corsin/Tornay Schaller Bénédicte (Hrsg.), Onlinekommentar zum Bundesgesetz über die politischen Rechte, abrufbar unter https://onlinekommentar.ch/de/kommentare/bpr54, besucht am 18.10.2023.

Markić Luka, Kommentierung zu Art. 56 BPR, in: Glaser Andreas/Braun Binder Nadja/Bisaz Corsin/Tornay Schaller Bénédicte (Hrsg.), Onlinekommentar zum Bundesgesetz über die politischen Rechte, abrufbar unter https://onlinekommentar.ch/de/kommentare/bpr56, besucht am 18.10.2023.

Poledna Tomas, Wahlrechtsgrundsätze und kantonale Parlamentswahlen, Diss. Zürich, Zürich 1988.

Schiess Rütimann Patricia M., Parteiwechsel am Wahlabend, Kritik an BGE 1C.291/2008 vom 17.12.2008, in: Jusletter vom 16.3.2009.

Weber Anina, Mandatsverlust bei Parteiwechsel, in: SJZ 107 (2011), S. 349–358 (zit. Weber, Mandatsverlust).

Weber Anina, Schweizerisches Wahlrecht und die Garantie der politischen Rechte, Eine Untersuchung ausgewählter praktischer Probleme mit Schwerpunkt Proporzwahlen und ihre Vereinbarkeit mit der Bundesverfassung, Diss. Zürich, Zürich 2016.

Fussnoten

  • Art. 24 des Bundesgesetzes betreffend die Wahlen des Nationalrates vom 14.2.1919, publ. in: BS I 180; AS 1975 601.
  • Votum Kunz (Berichterstatter), AB 1919 I SR 63; Anm. d. Verf.
  • Ebd.
  • AB 1918 VI NR 546 f. Die Diskussion um die Reihenfolge beim Nachrücken war und ist eng verknüpft mit der Reihenfolge der Gewählten bei Stimmengleichheit. Hierzu siehe OK-Lehner, Art. 43 BPR N. 2.
  • Bundesrat, Botschaft an die Bundesversammlung zu einem Bundesgesetz über die politischen Rechte vom 9.4.1975, BBl 1975 I 1317, hier S. 1343.
  • Votum Amstad (Berichterstatter), AB 1976 III SR 530; Votum Mugny (Berichterstatter) AB 1976 IV NR 1486; siehe zum Ganzen auch OK-Lehner, Art. 43 BPR N. 2.
  • Für den Fall des Rücktritts aus dem Nationalrat gemäss Art. 54 BPR siehe OK-Markić, Kommentierung zu Art. 54 BPR.
  • OK-Lehner, Art. 43 N. 13.
  • Poledna, S. 284.
  • Vgl. OK-Lehner, Art. 43 N. 14; Weber, Wahlrecht, Rz. 1000.
  • Vgl. Weber, Mandatsverlust, S. 351.
  • OK-Lehner, Art. 43 N. 14; Hangartner/Kley/Braun Binder/Glaser, Rz. 665.
  • Votum Kunz (Berichterstatter), AB 1919 I SR 63; Weber, Wahlrecht, Rz. 1001.
  • Zum Ganzen Weber, Wahlrecht, Rz. 1001 m.w.H.
  • Siehe OK-Gfeller, Art. 51 N. 7.
  • OK-Lehner, Art. 43 N. 15.
  • Siehe OK-Markić, Kommentierung zu Art. 56 BPR.
  • Siehe N. 6 hiervor.
  • Poledna, S. 283; Weber, Wahlrecht, Rz. 1001. Das Kräfteverhältnis kann des Weiteren auch nicht mehr gewahrt werden, wenn Abgeordnete im Verlauf der Legislaturperiode die Partei wechseln (vgl. Poledna, S. 283).
  • Weber, Wahlrecht, passim.
  • Poledna, S. 283; siehe auch Aubert, Rz. 119.
  • BGE 135 I 19 E. 5.6.
  • Ebd.
  • Ebd.
  • Zur Kritik an BGE 135 I 19 siehe Spiess Rütimann, Rz. 11 ff.
  • Vgl. BGE 135 I 19 E. 5.6.

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