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BUNDESVERFASSUNG
OBLIGATIONENRECHT
BUNDESGESETZ ÜBER DAS INTERNATIONALE PRIVATRECHT
LUGANO-ÜBEREINKOMMEN
STRAFPROZESSORDNUNG
ZIVILPROZESSORDNUNG
BUNDESGESETZ ÜBER DIE POLITISCHEN RECHTE
ZIVILGESETZBUCH
BUNDESGESETZ ÜBER KARTELLE UND ANDERE WETTBEWERBSBESCHRÄNKUNGEN
BUNDESGESETZ ÜBER INTERNATIONALE RECHTSHILFE IN STRAFSACHEN
DATENSCHUTZGESETZ
BUNDESGESETZ ÜBER SCHULDBETREIBUNG UND KONKURS
SCHWEIZERISCHES STRAFGESETZBUCH
CYBERCRIME CONVENTION
HANDELSREGISTERVERORDNUNG
- I. Entstehungsgeschichte
- II. Rechtsvergleich
- III. Bedeutung der Vorschrift und Norminhalt
- Literaturverzeichnis
I. Entstehungsgeschichte
1 Die ersten Wahlen für die Bestellung des Nationalrats nach der Gründung des modernen Bundesstaats fanden nicht an einem einheitlichen Termin statt. Sie wurden an verschiedenen Tagen zwischen dem 1. und dem 27. Oktober 1848 durchgeführt.
2 Mit Inkraftsetzung des Bundesgesetzes betreffend die Wahl der Mitglieder des Nationalrates vom 21. Dezember 1850 wurde der letzte Sonntag im Oktober am Ende der Amtsperiode als Wahltag bezeichnet. Dieser Wahlzeitpunkt wurde mit der Inkraftsetzung des Bundesgesetzes betreffend die Wahlen des Nationalrates vom 14. Februar 1919 bestätigt. Somit fanden die Wahlen für die ordentliche Gesamterneuerung des Nationalrates für die Jahre 1851 bis 1975 jeweils am letzten Sonntag im Oktober statt.
3 Die Nationalratswahlen werden seit 1979 am zweitletzten Sonntag im Oktober durchgeführt. Die Vorverlegung des Termins um eine Woche nach vorne erfolgte mit dem im Jahr 1978 in Kraft getretenen Bundesgesetz über die politischen Rechte. Begründet wurde die Verlegung damit, dass die Frist zwischen dem letzten Oktobersonntag (Wahltag) und der konstituierenden Sitzung des Nationalrates, welche (bis und mit den Wahlen 1999) am letzten Montag im November stattfand,
II. Rechtsvergleich
4 Im Gegensatz zum Bund sieht die Mehrheit der Kantone keinen durch Verfassung oder Gesetz bestimmten Zeitpunkt für die Wahl (Wahltag)
ZH: zwischen Januar und April des Wahljahres
Statt vieler § 44 Abs. 2 des Gesetzes des Kantons Zürich vom 1.9.2003 über die politischen Rechte (GPR/ZH; LS 161). NW: spätestens am 15. April des Wahljahres
Art. 2 Abs. 1 des Gesetzes des Kantons Nidwalden vom 26.4.1981 (PropG/NW; NG 132.1). FR: im vierten Quartal des Wahljahres
Art. 47 Abs. 1 des Gesetzes des Kantons Freiburg vom 6.4.2001 über die politischen Rechte (PRG/FR; SGF 115.1). AI: eine Woche nach der ordentlichen Landsgemeinde in den Jahren der Gesamterneuerungswahlen des Nationalrates oder, sofern der Bezirk die Urnenwahl eingeführt hat, spätestens am dritten Sonntag im Mai
Art. 33 Abs. 4 und 5 KV/AI. GR: im Mai oder Juni des Wahljahres
Art. 16 lit. a des Gesetzes des Kantons Graubünden vom 17.6.2005 über die politischen Rechte im Kanton Graubünden (GPR/GR; BR 150.100). AG: spätestens im Oktober des Wahljahres
§ 2 Abs. 1 des Gesetzes des Kantons Aargau vom 19.6.1990 über die Organisation des Grossen Rates und über den Verkehr zwischen dem Grossen Rat, dem Regierungsrat und der Justizleitung (GVG/AG; SAR 152.200). TI: an einem Tag im April des Wahljahres
Art. 52 KV/TI. NE: im April des Wahljahres
Art. 37 Abs. 1 der Loi du Canton de Neuchâtel du 17.10.1984 sur les droits politiques (LDP/NE; RSN 141). GE: zwischen dem 1. März und dem 30. April des Wahljahres
Art. 168 der Loi du Canton de Genève du 15.10.1982 sur l’exercice des droits politiques (LEDP/GE; RSG A 5 05).
5 Nur drei Kantone sehen, wie der Bund, einen durch Rechtssatz festgelegten, bestimmten Wahltag vor:
ZG: erster Sonntag im Oktober des Wahljahres
§ 30 Abs. 1 des Gesetzes des Kantons Zug vom 28.9.2006 über die Wahlen und Abstimmungen (WAG/ZG; BGS 131.1). Gemäss § 30 Abs. 3 WAG/ZG kann der Regierungsrat die Wahltermine verschieben, wenn besondere Verhältnisse es nahelegen. VS: erster Sonntag im März des Wahljahres
Art. 86 Abs. 1 KV/VS. JU: vorletzter Sonntag im Oktober des Wahljahres
Art. 22 der Loi du Canton du Jura du 26.10.1978 sur les droits politiques (LDP/JU; RSJU 161.1).
6 Durch Rechtssatz festgelegte, bestimmte Wahltermine können nur auf dem Weg der Verfassungs- bzw. Gesetzgebung abgeändert werden. Sie bieten dadurch eine gewisse Rechts- und Planungssicherheit für alle politischen Akteurinnen und Akteure sowie für Wahlberechtigte, weil die Daten für die Wahl des Parlaments über Jahrzehnte hinweg bekannt sind. In denjenigen Kantonen, in welchen die wahlleitende Behörde den konkreten Wahltermin bestimmt, kann die Anordnung einer politischen Einflussnahme unterliegen. Wird diese im Vorfeld zum Politikum, kann sie Wahlen auch beeinflussen. Beispielsweise kam es bei den Erneuerungswahlen für den Kantons- und Regierungsrat des Kantons Zürich 2023 in Bezug auf die Anordnung des Wahltermins zu einer Kontroverse, da der Regierungsrat den Wahltermin früher als üblich (Februar statt April) angesetzt hatte
7 Für Ersatz- oder Ergänzungswahlen sehen die Kantone, in Übereinstimmung mit dem Bund, vor, dass der Zeitpunkt durch die wahlleitende Behörde festgesetzt wird.
III. Bedeutung der Vorschrift und Norminhalt
8 Art. 19 BPR statuiert den Zeitpunkt der Wahl des Nationalrates für die ordentliche Gesamterneuerung gemäss Art. 149 BV sowie die Kompetenz zur Festsetzung des Zeitpunkts für Ersatz- und Ergänzungswahlen gemäss Art. 51 und 56 BPR und für die ausserordentliche Gesamterneuerung gemäss Art. 193 Abs. 3 BV.
A. Abs. 1 Satz 1: Zeitpunkt der ordentlichen Gesamterneuerung
9 Gemäss Art. 19 Abs. 1 Satz 1 BPR finden die Wahlen für die ordentliche Gesamterneuerung des Nationalrates, welche alle vier Jahre erfolgt (Art. 149 Abs. 2 Satz 2 BV), am zweitletzten Sonntag im Oktober statt.
10 Aufgrund der gesetzlichen Festsetzung des Zeitpunkts der Wahl sind die Wahltermine für die nächsten Wahlen der ordentlichen Gesamterneuerung bereits bekannt (22. Oktober 2023, 24. Oktober 2027, 19. Oktober 2031, 21. Oktober 2035, 23. Oktober 2039 usw.).
B. Abs. 1 Satz 2: Zeitpunkt von Ersatz- und Ergänzungswahlen
11 Für die Festsetzung des Zeitpunktes der Ersatzwahlen (Art. 51 BPR) und der Ergänzungswahlen (Art. 56 BPR) in den Nationalrat ist gestützt auf Art. 19 Abs. 1 Satz 2 BPR diejenige Regierung des Kantons zuständig, in dem die Ersatz- bzw. Ergänzungswahl durchzuführen ist. Eine Ersatzwahl ist durchzuführen, wenn in Wahlkreisen, in denen nur ein Mitglied des Nationalrats zu wählen ist, das gewählte Mitglied aus dem Nationalrat zurücktritt oder während der Legislaturperiode verstirbt.
12 Die Kantonsregierung setzt die Wahl auf den nächstmöglichen Termin an. Beim Begriff «nächstmöglicher Termin» handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff. Er wird weder durch das Bundesrecht definiert, noch finden sich in den Materialien Anhaltspunkte zu dessen Auslegung. Es liegt jedoch nahe, dass die Gesetzesbestimmung garantieren soll, dass ein vakanter Sitz im Nationalrat möglichst zeitnah wiederbesetzt und der durch Art. 149 Abs. 1 BV garantierte Bestand von 200 Abgeordneten rasch wiederhergestellt werden kann. Demnach hat eine Ersatz- bzw. Ergänzungswahl grundsätzlich an demjenigen Termin stattzufinden, der «sich als nächste Möglichkeit bietet»
13 Die Bestimmung kann insbesondere zu Schwierigkeiten führen, wenn der Rücktritt eines Mitglieds des Nationalrates kurz vor einer bevorstehenden Gesamterneuerung erfolgt. Als Beispiel zu nennen ist ein Fall aus dem Kanton Appenzell Innerrhoden: Die Landsgemeinde wählte den damaligen Nationalrat Daniel Fässler (CVP/AI) am 28. April 2019 in den Ständerat. Das Amt als Ständerat trat Fässler am 3. Juni 2019 an. Aufgrund der Unvereinbarkeitsregel gemäss Art. 144 Abs. 1 BV trat er am Tag zuvor aus dem Nationalrat zurück. Der innerrhodische Nationalratssitz wurde damit viereinhalb Monate vor der ordentlichen Gesamterneuerungswahl vakant. Die Kantonsregierung (Standeskommission) verzichtete daraufhin aber auf die Anordnung einer Ersatzwahl für den vakanten Sitz im Nationalrat.
C. Abs. 2: Zeitpunkt der ausserordentlichen Gesamterneuerung
14 Art. 19 Abs. 2 BPR regelt den Zeitpunkt für die ausserordentliche Gesamterneuerung des Nationalrates im Sinne von Art. 193 Abs. 3 BV. Art. 193 BV regelt das Verfahren der Totalrevision der Bundesverfassung. Eine solche kann vom Volk oder von einem der beiden Räte vorgeschlagen oder von der Bundesversammlung beschlossen werden (Art. 193 Abs. 1 BV). Geht die Initiative vom Volk aus oder sind sich die beiden Räte uneinig, so entscheidet das Volk über die Durchführung der Totalrevision (Art. 193 Abs. 2 BV). Wenn das Volk einer Totalrevision der Bundesverfassung zustimmt, wird eine Gesamterneuerung des National- und des Ständerates notwendig. Der Zeitpunkt für die ausserordentliche Gesamterneuerung des Nationalrates wird vom Bundesrat festgesetzt. Zwar gibt die Bundesverfassung keine Frist oder Zeitspanne vor, bis wann die Gesamterneuerung stattzufinden hat; gemäss einhelliger Lehre ist sie jedoch unverzüglich durchzuführen.
15 Stimmt das Volk einer Totalrevision der Bundesverfassung zu, so ist auch für den Ständerat eine (sonst nicht bekannte) Gesamterneuerung durchzuführen (Art. 193 Abs. 3 BV). Eine Gesamterneuerung des Ständerates ist grundsätzlich nicht vorgesehen: Da die Mitglieder des Ständerates nach kantonalem Recht gewählt werden (Art. 150 Abs. 3 BV), ergibt sich die Amtsdauer der Mitglieder des Ständerates aus dem jeweilig einschlägigen kantonalen Recht. Das Bundesrecht sieht für den Ständerat deshalb keine Amtsdauer oder Legislaturperiode vor.
16 Hangartner/Kley/Braun Binder/Glaser vertreten in der zweiten Auflage ihres Standardwerks «Die demokratischen Rechte in Bund und Kantonen der Schweizerischen Eidgenossenschaft» die Auffassung, dass aufgrund von Art. 19 Abs. 2 BPR der Bundesrat den Zeitpunkt der ausserordentlichen Gesamterneuerung festlegt, ohne dabei zwischen der Gesamterneuerung des National- und derjenigen des Ständerates zu unterscheiden.
17 Aus den vorstehenden Ausführungen folgt, dass bei einer Zustimmung des Volkes zur Totalrevision der Bundesverfassung der Bundesrat gestützt auf Art. 19 Abs. 2 BPR ausschliesslich den Zeitpunkt für die ausserordentliche Gesamterneuerung des Nationalrates festsetzt. Weil gemäss Art. 53 Abs. 1 BPR die konstituierende Sitzung zwingend am siebenten Montag nach der Wahl stattfinden muss, wäre mit der Festsetzung des Wahltermins auch das Datum der konstituierenden Sitzung des neu gewählten Nationalrates bekannt. Aufgrund der Gleichstellung des National- und des Ständerates (Art. 148 Abs. 2 BV) drängt sich auf, dass die – seit 1848 erstmals wieder stattfindende – konstituierende Sitzung des Ständerates am gleichen Tag stattfinden muss wie diejenige des Nationalrates.
18 Da eine Gesamterneuerung beider Räte im Sinne von Art. 193 Abs. 3 BV seit Beginn des modernen Bundesstaates noch nie vorgekommen ist, hat Art. 19 Abs. 2 BPR bisher keine Anwendung gefunden.
Ich danke Benjamin Böhler, Hilfsassistent am Zentrum für Demokratie Aarau, für die Mithilfe bei der Materialrecherche und die wertvollen Anmerkungen bei der Durchsicht des Textes.
Literaturverzeichnis
Biaggini Giovanni, Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Kommentar, 2. Aufl., Zürich 2017.
Epiney Astrid/Diezig Stefan, Kommentierung zu Art. 193 BV, in: Waldmann Bernhard/Besler Eva Maria/Epiney Astrid (Hrsg.), Basler Kommentar, Bundesverfassung, Basel 2015.
Hangartner Yvo/Ehrenzeller Bernhard, Kommentierung zu Art. 193 BV, in: Ehrenzeller Bernhard/Schindler Benjamin/Schweizer Rainer J./Vallender Klaus A. (Hrsg.), St. Galler Kommentar, Bundesverfassung, 3. Aufl., Zürich 2014.
Hangartner Yvo/Kley Andreas, Die demokratischen Rechte in Bund und Kantonen der Schweizerischen Eidgenossenschaft, 1. Aufl., Zürich 2000.
Hangartner Yvo/Kley Andreas/Braun Binder Nadja/Glaser Andreas, Die demokratischen Rechte in Bund und Kantonen der Schweizerischen Eidgenossenschaft, 2. Aufl., Zürich 2023.
Gfeller Katja, Kommentierung zu Art. 51 BPR, in: Glaser Andreas/Braun Binder Nadja/Bisaz Corsin/Tornay Schaller Bénédicte (Hrsg.), Onlinekommentar zum Bundesgesetz über die politischen Rechte, abrufbar unter https://onlinekommentar.ch/de/kommentare/bpr51, besucht am 15.6.2023.
Mahon Pascal/Weerts Sophie, Partie VII Procédures: La procédure d’adaption et de révision de la Constitution fédérale, in: Diggelmann Oliver/Hertig Randall Maya/Schindler Benjamin (Hrsg.), Verfassungsrecht der Schweiz, Zürich 2020, S. 1883–1911.