PDF:
Kommentierung zu
Art. 370 StPO

Eine Kommentierung von Denise Weingart

Herausgegeben von Sonja Koch

defriten

I. Neues Urteil (Abs. 1)

1 Gemäss Art. 370 StPO fällt das Gericht, wenn in Anwendung von Art. 369 StPO die Voraussetzungen für eine neue Beurteilung erfüllt sind und eine neue Hauptverhandlung durchgeführt wurde, ein neues Urteil. Da anlässlich der dritten Hauptverhandlung die Verfahrensrechte der beschuldigten Person aufgrund deren Anwesenheit vollumfänglich gewahrt werden konnten, ergeht im Rahmen von Art. 369/370 StPO kein Abwesenheitsurteil, sondern ein «gewöhnliches» Urteil nach Art. 348 ff. StPO. Dieses neue Urteil kann seinerseits mit den ordentlichen Rechtsmitteln nach StPO angefochten werden (Art. 370 Abs. 1 StPO). Die beschwerten Parteien können im Rahmen dieser Rechtsmittel insbesondere rügen, dass die Voraussetzungen für eine neue Beurteilung nicht gegeben waren.

Sofern es sich beim neuen Urteil um ein reines Prozessurteil handelt, bspw. um eine Einstellung nach Art. 329 Abs. 4 StPO aufgrund der inzwischen eingetretenen Verjährung, ist die Beschwerde denkbar.

II. Wirkung des neuen Urteils (Abs. 2)

2 Das neue Urteil wird gemäss den Voraussetzungen von Art. 437 StPO rechtskräftig.

Wesentlich ist, dass das Abwesenheitsurteil nicht bereits mit der Bewilligung des neuen Verfahrens oder der Eröffnung der neuen Hauptverhandlung dahinfällt, sondern erst dann, wenn ein rechtskräftiges neues Urteil nach Art. 370 StPO vorliegt.
Das ursprüngliche Kontumazialurteil wird durch das neue Urteil ersetzt.

3 Wenn das frühere Abwesenheitsurteil dahinfällt, das Verfahren sich mithin so darstellt, als wäre es nie ergangen, muss die zwischen den beiden Urteilen verstrichene Zeit bei der Verfolgungsverjährung nach Art. 97 StGB berücksichtigt werden: Es ist davon auszugehen, dass die Verfolgungsverjährung weitergelaufen ist, wie wenn das Abwesenheitsurteil nie bestanden hätte.

Mit diesem Grundsatzurteil vom 28. Oktober 2019 hat das Bundesgericht eine Änderung seiner Rechtsprechung zur Unterbrechungswirkung der Strafverfolgungs­verjährung nach Art. 97 Abs. 3 StGB vorgenommen. Es kann folglich sein, dass die Verfolgungsverjährung seit Tatbegehung inzwischen eingetreten und das Verfahren aufgrund dessen einzustellen ist. Bei noch nicht abgelaufener Verfolgungsverjährung kann das Gericht im neuen Urteil den Zeitablauf seit der Tatbegehung bei der Strafzumessung allenfalls strafmindernd berücksichtigen.

4 Mit der Rechtskraft des neuen Urteils fallen ebenfalls die gegen ein Abwesenheitsurteil ergriffenen Rechtsmittel und die im Rechtsmittelverfahren bereits ergangenen Entscheide dahin (Art. 370 Abs. 2 StPO).

Literaturverzeichnis

Botschaft zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts vom 21. Dezember 2005, BBl 2006 1085 ff.

Maurer Thomas, in: Niggli Marcel Alexander/Heer Marianne/Wiprächtiger Hans (Hrsg.), Basler Kommentar zur Strafprozessordnung, 2. Aufl., Basel 2014.

Schmid Niklaus/Jositsch Daniel, Handbuch des schweizerischen Strafprozessrechts, 3. Aufl. Zürich/St.Gallen 2017 (zit. Handbuch).

Schmid Niklaus/Jositsch Daniel, Praxiskommentar zur schweizerischen Strafprozessordnung, Dike Kommentar, 3. Aufl. Zürich 2018 (zit. Praxiskommentar).

Summers Sarah, in: Donatsch Andreas/Lieber Viktor/Summers Sarah/Wohlers Wolfgang (Hrsg.), Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung, 3. Aufl., Zürich 2020.

Fussnoten

  • Schmid/Jositsch, Praxiskommentar, N. 2 zu Art. 370.
  • BSK-Maurer, N. 1 zu Art. 370 StPO.
  • SK-Summers, N. 3 zu Art. 370 StPO.
  • Schmid/Jositsch, Handbuch, Rz. 1412.
  • Botschaft, 1303; Urteil 1B_478/2021 vom 28. September 2021 E. 2.3.
  • Urteil 6B_389/2019 vom 28. Oktober 2019 E. 3.4.5.

Kommentar drucken

DOI (Digital Object Identifier)

10.17176/20230411-201516-0

Creative Commons Lizenz

Onlinekommentar.ch, Kommentierung zu Art. 370 StPO ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

Creative Commons