Eine Kommentierung von Tommaso Caprara
Herausgegeben von Sonja Koch
Art. 378 Verwendung zugunsten der geschädigten Person
Die Staatsanwaltschaft oder das Gericht entscheidet auch über die Anträge der geschädigten Person auf Verwendung der eingezogenen Gegenstände und Vermögenswerte zu ihren Gunsten. Artikel 267 Absätze 3–6 ist sinngemäss anwendbar.
I. Grundsatz
1 Gemäss Art. 378 Satz 1 StPO entscheidet die Staatsanwaltschaft (im Einziehungsbefehl gemäss Art. 377 Abs. 2 StPO) oder das Gericht (falls es zu einem Einspracheverfahren nach Art. 377 Abs. 4 Satz 1 StPO in Verbindung mit Art. 352 ff. StPO kommt) im Rahmen des selbstständigen Einziehungsverfahrens auch über die Anträge der geschädigten Person auf Verwendung der eingezogenen Gegenstände und Vermögenswerte zu ihren Gunsten.
II. Verwendung zu Gunsten des Geschädigten nach Art. 73 StGB
A. Wortlaut
2 Gemäss Art. 73 Abs. 1 StGB («Verwendung zu Gunsten des Geschädigten») spricht das Gericht dem Geschädigten, der durch ein Verbrechen oder ein Vergehen einen Schaden erleidet, der nicht durch eine Versicherung gedeckt ist, auf dessen Verlangen bis zur Höhe des Schadenersatzes beziehungsweise der Genugtuung, die gerichtlich oder durch Vergleich festgesetzt wurde, namentlich eingezogene Gegenstände und Vermögenswerte oder deren Verwertungserlös unter Abzug der Verwertungskosten (lit. b) zu, wenn anzunehmen ist, dass der Täter den Schaden nicht ersetzen oder eine Genugtuung nicht leisten wird. Das Gericht kann die Verwendung zu Gunsten des Geschädigten jedoch nur anordnen, wenn der Geschädigte den entsprechenden Teil seiner Forderung an den Staat abtritt (Art. 73 Abs. 2 StGB).
B. Regelungszweck
3 Art. 73 StGB bezweckt, dem Geschädigten bei der Durchsetzung seiner Schadenersatzforderung zu helfen, indem der Staat auf einen ihm zustehenden Anspruch verzichtet.
4 Mit der Abtretung der Forderung an den Staat als Voraussetzung für die Verwendung zu Gunsten des Geschädigten (Art. 73 Abs. 2 StGB) wird zudem verhindert, dass sich die geschädigte Person über die Zusprechung der Vermögenswerte und die Durchsetzung des Ersatzanspruches für ihre Forderung zweimal bezahlt machen kann.
C. Geschädigteneigenschaft
5 Als «Geschädigte» im Sinne von Art. 73 StGB gilt jede natürliche oder juristische Privatperson,
6 Die Geschädigteneigenschaft im Sinne von Art. 73 StGB steht in erster Linie dem direkt Geschädigten zu, der über eine Schadenersatzforderung nach Art. 41 ff. OR verfügt.
D. Voraussetzungen
1. Materielle Voraussetzungen
7 Der Anspruch des Geschädigten auf Verwendung zu seinen Gunsten nach Art. 73 StGB beschlägt nur Vermögenswerte, die das Ergebnis einer gegen ihn gerichteten Straftat sind.
8 Zwischen Schaden, Anlasstat und zuzusprechenden Werten muss ein doppelter Konnex bestehen. Erstens muss der gemäss Art. 73 StGB geltend gemachte Schaden «durch» die Anlasstat entstanden sein, d.h. zwischen Schaden und Anlasstat muss ein Kausalzusammenhang bestehen. Zweitens muss diese Anlasstat dieselbe sein, aus welcher auch die zuzusprechenden Werte (eingezogene Gegenstände etc.) stammen. Die gemeinsame Anlasstat ist somit verbindendes Glied zwischen den zuzusprechenden Werten und dem auszugleichenden Schaden. Nicht deliktskonnexe Vermögenswerte können hingegen höchstens indirekt nach Beschlagnahme und SchKG-Vollstreckung der Ersatzforderung zugunsten des Geschädigten verwendet werden. Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung ist Art. 73 StGB nicht darauf ausgelegt, als Vollstreckungshilfe für Zivilgeschädigte zu wirken und für diese den Anspruch unter Umgehung des SchKG vorwegzunehmen beziehungsweise sicherzustellen.
9 Die Anwendung von Art. 73 StGB setzt weiter voraus, dass die Höhe des Schadenersatzes beziehungsweise der Genugtuung gerichtlich oder durch Vergleich festgesetzt worden ist.
2. Formelle Voraussetzungen
10 In formeller Hinsicht setzt die Verwendung zu Gunsten des Geschädigten voraus, dass dieser erstens eine solche Zuweisung ausdrücklich verlangt (Art. 73 Abs. 1 StGB) und dass er zweitens den entsprechenden Teil seiner Forderung an den Staat abtritt (Art. 73 Abs. 2 StGB).
11 Der Zuweisungsantrag des Geschädigten kann sowohl im Rahmen des selbstständigen Einziehungsverfahrens vor der Staatsanwaltschaft als auch erst (nach einer allfälligen Einsprache gegen den Einziehungsbefehl; vgl. Art. 377 Abs. 2 und Abs. 4 Satz 1 StPO) vor dem für das Hauptverfahren zuständigen Gericht gestellt werden.
12 Falls der Einziehungsentscheid im Rahmen einer Einstellung (vgl. Art. 320 Abs. 2 Satz 2 StPO), eines Strafurteils (vgl. Art. 81 Abs. 3 lit. a und Abs. 4 lit. b StPO), eines Strafbefehls (vgl. Art. 353 Abs. 1 lit. h StPO) oder eines selbstständigen Einziehungsverfahrens nach Art. 376 f. StPO ergeht, kann sich die Frage einer Verwendung zugunsten der geschädigten Person nach Art. 378 StPO beziehungsweise Art. 73 StGB unter Umständen erst nachträglich stellen, wenn beispielsweise die Ersatzforderung (vgl. Art. 71 StGB) erst später bezahlt wird. In einem solchen Fall hat der Entscheid über die Verwendung zugunsten der geschädigten Person in einem nachträglichen ergänzenden Einziehungsbefehl (im Sinne eines nachträglichen richterlichen Entscheids nach Art. 363 ff. StPO) zu erfolgen.
3. Rechtsanspruch auf Zusprechung eingezogener Vermögenswerte
13 Sind die materiellen und formellen Voraussetzungen von Art. 73 StGB erfüllt, hat die geschädigte Person
III. Die sinngemässe Anwendbarkeit von Art. 267 Abs. 3-6 StPO
14 Art. 378 Satz 2 StPO erklärt bei der Entscheidung über die Verwendung zugunsten der geschädigten Person im selbstständigen Einziehungsverfahren Art. 267 Abs. 3-6 StPO für sinngemäss anwendbar. Dieser Verweis ist jedoch unklar, wird doch in Art. 267 Abs. 3-6 StPO die Situation geregelt, in welcher keine Einziehung der beschlagnahmten Gegenstände oder Vermögenswerte erfolgt, während Art. 378 StPO die Verwendung zugunsten der geschädigten Person nach erfolgter Einziehung zum Gegenstand hat.
Zum Autor
Dr. iur. Tommaso Caprara, Rechtsanwalt, CAS Forensics, ist Gerichtsschreiber bei der II. strafrechtlichen Abteilung des Schweizerischen Bundesgerichts in Lausanne.
Literaturverzeichnis
Baumann Florian, Kommentierung zu Art. 73 StGB; in: Niggli Marcel Alexander/Wiprächtiger Hans (Hrsg.), Basler Kommentar, Strafrecht, Band I, 4. Aufl., Basel 2019.
Baumann Florian, Kommentierung zu Art. 378 StPO, in: Niggli Marcel Alexander/Heer Marianne/Wiprächtiger Hans (Hrsg.), Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 3. Aufl., Basel 2023.
Bernasconi Paolo, Kommentierung zu Art. 378 StPO, in: Bernasconi Paolo/Galliani Maria/Marcellini Luca/Meli Edy/Mini Mauro/Noseda John (Hrsg.), Commentario, Codice svizzero di procedura penale, Zürich/St. Gallen 2010.
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Conti Christelle/Tunik Daniel, Kommentierung zu Art. 378 StPO, in: Jeanneret Yvan/Kuhn André/Perrier Depeursinge Camille (Hrsg.), Commentaire romand, Code de procédure pénale suisse, 2. Aufl., Basel 2019.
Hirsig-Vuilloz Madeleine, Kommentierung zu Art. 73 StGB, in: Moreillon Laurent/Macaluso Alain/Queloz Nicolas/Dongois Nathalie (Hrsg.), Commentaire Romand, Code pénal, Bd. I, 2. Aufl., Basel 2021.
Jositsch Daniel/Schmid Niklaus, Schweizerische Strafprozessordnung, Praxiskommentar, 4. Aufl., Zürich 2023.
Moreillon Laurent/Parein-Reymond Aude, Code de procédure pénale (CPP), Petit commentaire, 2. Aufl., Basel 2016.
Perrier Depeursinge Camille, Code de procédure pénale suisse (CPP) annoté, 2. Aufl., Basel 2020.
Piquerez Gérard/Macaluso Alain, Procédure pénale suisse, 3. Aufl., Zürich 2011.
Pitteloud Jo, Code de procédure pénale suisse (CPP), Commentaire à l'usage des praticiens, Zürich/St. Gallen 2012.
Schmid Niklaus, Kommentierung zu Art. 73 StGB, in: Schmid Niklaus (Hrsg.), Kommentar Einziehung, Organisiertes Verbrechen, Geldwäscherei, Band I, 2. Aufl., Zürich 2007.
Schwarzenegger Christian, Kommentierung zu Art. 378 StPO, in: Donatsch Andreas/Lieber Viktor/Summers Sarah/Wohlers Wolfgang (Hrsg.), Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung (StPO), 3. Aufl., Zürich 2020.
Thommen Marc, Kommentierung zu Art. 73 StGB, in: Jürg-Beat Ackermann (Hrsg.), Kommentar Kriminelles Vermögen - Kriminelle Organisationen, Band I, Zürich 2018.
Trechsel Stefan/Jean-Richard-dit-Bressel, Kommentierung zu Art. 73 StGB, in: Trechsel Stefan/Pieth Mark (Hrsg.), Schweizerisches Strafgesetzbuch, Praxiskommentar, 4. Aufl., Zürich 2021.
Wohlers Wolfgang, Kommentierung zu Art. 73 StGB, in: Wohlers Wolfgang/Godenzi Gunhild/Schlegel Stephan (Hrsg.), Schweizerisches Strafgesetzbuch, Handkommentar, 5. Aufl., Bern 2024.
Fussnoten
- Bernasconi, Art. 378 StPO N. 1; Jositsch/Schmid, Art. 378 StPO N. 1; Schwarzenegger, Art. 378 StPO N. 1.
- BGer 6B_511/2020 vom 10.5.2021 E. 5.4.3; 6B_1353/2019 vom 23.9.2020 E. 3.2; BGer 6B_474/2018 vom 17.12.2018 E. 3.1; vgl. bereits BGer 6B_344/2007 vom 1.7.2008 E. 5.1.
- BGer 6B_204/2023 vom 25.9.2023 E. 2.1; BGer 6B_176/2011 vom 23.12.2011 E. 4.2.
- BGer 6B_511/2020 vom 10.5.2021 E. 5.4.3; BGer 6B_190/2010 vom 16.7.2010 E. 2.1; CR-Hirsig-Vouilloz, Art. 73 StGB N. 15a; Thommen, Art. 73 StGB N. 72.
- BGE 145 IV 237 E. 5.1 = Pra 109 (2020) Nr. 6; BGer 6B_834/2011 vom 11.1.2013 E. 4; BSK-Baumann, Art. 73 StGB N. 5; CR-Hirsig-Vouilloz, Art. 73 StGB N. 9; Schmid, Art. 73 StGB N. 16.
- BGE 145 IV 237 E. 5.1 = Pra 109 (2020) Nr. 6; BSK-Baumann, Art. 73 StGB N. 5; Schmid, Art. 73 StGB N. 16.
- Ist eine Tat nur auf Antrag strafbar, kann gemäss Art. 30 Abs. 1 StGB jede Person, die durch sie verletzt worden ist, die Bestrafung des Täters beantragen. «Verletzt» im Sinne dieser Norm ist, wer Träger des unmittelbar betroffenen Rechtsguts ist. Dieser ergibt sich durch Auslegung des betreffenden Tatbestands (BGE 146 IV 320 E. 2.3; BGE 128 IV 81 E. 3a = Pra 91 [2002] Nr. 114; BGE 118 IV 209 E. 2 mit Hinweisen). Bei höchstpersönlichen Rechten (z.B. Ehre) ist Verletzter nur der Träger des Rechtsguts selbst (BGE 130 IV 97 E. 2.1; BGE 121 IV 258 E. 2b); bei anderen (d.h. nicht höchstpersönlichen) Rechtsgütern sind auch andere Personen, die ein rechtlich geschütztes Interesse an der Erhaltung des Rechtsguts haben, antragsberechtigt (BGE 121 IV 258 E. 2b; BGE 118 IV 209 E. 3b).
- BGE 145 IV 237 E. 5.1 = Pra 109 (2020) Nr. 6; a.M. CR-Hirsig-Vouilloz, Art. 73 StGB N. 7, die für die Definition der Geschädigteneigenschaft im Rahmen von Art. 73 StGB auf Art. 115 Abs. 1 StPO verweist.
- Als «geschädigt» im Sinne von Art. 115 Abs. 1 StPO gilt, wer Träger des durch die verletzte Strafnorm geschützten oder zumindest mitgeschützten Rechtsguts ist (BGE 148 IV 170 E. 3.2; BGE 140 IV 155 E. 3.2; je mit Hinweisen).
- BGE 145 IV 237 E. 5.1 = Pra 109 (2020) Nr. 6; BSK-Baumann, Art. 73 StGB N. 5 ff.; Thommen, Art. 73 StGB N. 22; Trechsel/Jean-Richard, Art. 73 StGB N. 3; Wohlers, Art. 73 StGB N. 2; enger Bommer, S. 113 f., der auf den Begriff des «Verletzten» abstellt; Schmid schliesst von Art. 73 StGB im Ergebnis Personen aus, die nicht unmittelbar vom Delikt geschädigt worden sind, indem er einen direkten Konnex zwischen Anlassdelikt und Schädigung verlangt (Schmid, Art. 73 StGB N. 15).
- Trechsel/Jean-Richard, Art. 73 StGB N. 3; Wohlers, Art. 73 StGB N. 2.
- BGE 145 IV 237 E. 5.1.1 = Pra 109 (2020) Nr. 6; BGer 6B_344/2007 vom 1.7.2008 E. 5.2.
- BGE 145 IV 237 E. 5.1.1 = Pra 109 (2020) Nr. 6; Wohlers, Art. 73 StGB N. 2.
- BGer 6B_344/2007 vom 1.7.2008 E. 5.3; Trechsel/Jean-Richard, Art. 73 StGB N. 3; Wohlers, Art. 73 StGB N. 2.
- BGE 122 IV 365 E. III.2b = Pra 86 (1997) Nr. 45; BGer 6B_204/2023 vom 25.9.2023 E. 2.1; BGer 6B_1084/2022, 6B_1096/2022 vom 5.4.2023 E. 7.1; BGer 6B_1126/2013 vom 21.7.2014 E. 2.3; je mit Hinweisen.
- BGE 122 IV 365 E. III.2b = Pra 86 (1997) Nr. 45; BGer 6B_1084/2022, 6B_1096/2022 vom 5.4.2023 E. 7.1; 6B_659/2012 vom 8.4.2013 E. 3.1 mit Hinweis.
- BGer 6B_204/2023 vom 25.9.2023 E. 2.1 mit Verweis auf BSK-Baumann, Art. 73 StGB N. 11 ff.
- BGer 6B_64/2021 vom 7.9.2022 E. 4.3 mit Hinweisen; Wohlers, Art. 73 StGB N. 3.
- BGE 145 IV 237 E. 3.1 = Pra 109 (2020) Nr. 6; BGer 6B_64/2021 vom 7.9.2022 E. 4.1; CR Conti/Tunik, Art. 378 StPO N. 2; Moreillon/Parein-Reymond, Art. 378 StPO N. 3.
- BSK-Baumann, Art. 378 StPO N. 2; Piquerez/Macaluso, Rz. 1873; Schwarzenegger, Art. 378 StPO N. 1c.
- BGer 6B_53/2009 vom 24. August 2009 E. 2.7; BSK-Baumann, Art. 73 StGB N. 19; BSK-Baumann, Art. 378 StPO N. 2; Schmid, Art. 73 StGB N. 76; Schwarzenegger, Art. 378 StPO N. 1c.
- Bernasconi, Art. 378 StPO N. 2; Jositsch/Schmid, Art. 378 StPO N. 2; Pitteloud, Rz. 1108; Schwarzenegger, Art. 378 StPO N. 1b.
- Vgl. oben N. 5.
- Vgl. BGer 1B_168/2009 vom 14.10.2009 E. 2.2; BSK-Baumann, Art. 73 StGB N. 5; Perrier Depeursinge, S. 571; vgl. oben N. 3.
- Dies ergibt sich bereits aus dem Wortlaut von Art. 378 Satz 1 StPO: «Die Staatsanwaltschaft oder das Gericht entscheidet auch über die Anträge der geschädigten Person auf Verwendung der eingezogenen Gegenstände und Vermögenswerte zu ihren Gunsten» (Hervorhebung nur hier).
- Bernasconi, Art. 378 StPO N. 3; Jositsch/Schmid, Art. 378 StPO N. 2; Pitteloud, Rz. 1108; Schwarzenegger, Art. 378 StPO N. 2.
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