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Kommentierung zu
Art. 322decies StGB

Eine Kommentierung von Loris Baumgartner / Marco Hurni

Herausgegeben von Marianne Johanna Lehmkuhl / Jan Wenk

defriten

I. Abgrenzung nicht strafbaren Verhaltens

1 Art. 322decies StGB wurde anlässlich der letzten Revision des Korruptionsstrafrechts im Jahr 2016 geschaffen. Das Ziel dieser Revision war es, Lücken im Korruptionsstrafrecht zu schliessen, welche in der Schweiz als Sitzstaat diverser internationaler Sportgrossverbände sowie als globalisierter Wirtschaftsstandort noch vorhanden waren.

Durch die Einführung der Tatbestände der Vorteilsgewährung bzw. Vorteilsannahme wuchs gleichzeitig das Bedürfnis, bestimmte Handlungen von der Strafbarkeit in jedem Fall auszunehmen.
Diesem Bedürfnis wurde mit den gemeinsamen Bestimmungen gemäss Art. 322decies StGB Rechnung getragen.

A. Dienstrechtlich erlaubte Vorteile

2 Der Gesetzgeber hat mit Art. 322decies Abs. 1 lit. a StGB einen Ausnahmetatbestand geschaffen, der dienstrechtlich erlaubte Vorteile von der Strafbarkeit ausnimmt. Ein Vorteil ist von lit. a erfasst, wenn die Annahme gestützt auf eine generell-abstrakte Norm des öffentlichen Dienstrechts erlaubt ist.

Im Zuge der Revision des Korruptionsstrafrechts wies die Botschaft darauf hin, dass solche generell-abstrakten Normen bereits vor der Tathandlung in Kraft getreten sein müssen.
Zu denken ist dabei etwa an administrative Normen bezüglich der Meldung, Bewilligung oder Ablieferung von Geschenken oder anderen Vorteilszuwendungen, wie sie beispielsweise in Art. 21 Abs. 3 des Bundespersonalgesetzes und in Art. 93 und 93a der Bundespersonalverordnung vorgesehen sind.

3 Liegt der Verdacht auf eine Bestechung fremder Amtsträger vor, sind zur Beurteilung der generell-abstrakten Norm die Verhältnisse im betreffenden Land entscheidend. So stellen Zahlungen an fremde Amtsträger, welche nach dem jeweiligen lokalen geschriebenen Recht oder einem gefestigten Fall- oder Gewohnheitsrecht erlaubt oder gar vorgeschrieben sind, keinen nicht gebührenden Vorteil dar.

B. Vertraglich genehmigte Vorteile

4 Mit der Regelung der Bestechung im Privatsektor im StGB wurde in Art. 322decies Abs. 1 lit. a StGB das Pendant zu den dienstrechtlich erlaubten Vorteilen geschaffen.

Keine nicht gebührenden Vorteile sind demnach auch vertraglich vom Dritten genehmigte Vorteile. Als Dritter gilt der Vertrauensgeber, welcher mit dem Vertrauensnehmer in einem vertraglichen Verhältnis steht.

5 In der Lehre umstritten ist die Frage, ob die Einwilligung vor oder nach der Tathandlung zu erfolgen hat. Folgt man der Botschaft, so muss bereits vor der betreffenden Handlung klar sein, welche Vorteile genehmigt sind.

Demgegenüber gibt es Lehrmeinungen, die dem Wortlaut von Art.322decies Abs. 1 lit. a, 2. Satzteil folgen und darin die Möglichkeit einer nachträglichen Bewilligung dieses Vorteils sehen.
Der hier vertretenen Meinung nach muss diese Thematik differenziert betrachtet werden. Eine tatbestandsmässige Handlung ist bereits dann vollendet, wenn das Angebot den Amtsträger bzw. die Privatperson erreicht.
In einem nachträglichen Zeitpunkt kann zwar eine Genehmigung erteilt werden, die (strafbare) Tat ist mithin jedoch bereits vollendet. Eine nachträgliche Genehmigung eines Vorteils kann daher lediglich eine strafverfolgungsausschliessende Wirkung im Sinne einer Desinteresseerklärung bewirken. Da die Erfüllung der Tatbestandsmerkmale jedoch bereits vollendet war, kann die Genehmigung kein tatbestandsausschliessendes Einverständnis darstellen.

6 Vordergründig für die Privatbestechung gemäss Art. 322octies StGB stellt sich des Weiteren die Frage, ob die Leistung eines Vorteils an eine Drittperson, und folglich nicht an den Vertrauensnehmer, durch den Vertrauensgeber (sog. Prinzipal) genehmigt werden kann.

Zu beachten ist, dass der Vertrauensgeber in aller Regel nicht in einem vertraglichen Verhältnis zu dieser Drittperson steht und entsprechend auch keine Loyalitätspflichten zwischen der Drittperson und dem Vertrauensgeber bestehen. Bei der Privatbestechung steht jedoch immer eine Verletzung der Loyalitätspflichten zwischen dem Vertrauensnehmer und dem Vertrauensgeber im Vordergrund. Ob die bestechende Person einen Vorteil an eine Drittperson oder an den Vertrauensnehmer leistet, ist aus Sicht des Vertrauensnehmers unerheblich, da der Vertrauensnehmer seine Loyalitätspflichten auch dann verletzt, wenn die bestechende Person auf Anweisung des Vertrauensnehmers einen Vorteil an eine Drittperson leistet. Daher scheint es stossend, wenn eine Genehmigung ausschliesslich dann erfolgen kann, wenn der Vertrauensnehmer den Vorteil selbst einbehält, nicht jedoch, wenn der Vorteil an eine Drittperson gerichtet ist.

7 Zur Vereinfachung ein Beispiel: Ein Arbeitnehmer, welcher als Leiter Einkauf für seinen Arbeitgeber tätig ist, steht in einem freundschaftlichen Verhältnis zu einem möglichen Lieferanten des Arbeitgebers. Der Arbeitnehmer kann sich im Rahmen der Privatbestechung strafbar machen, wenn er sich dadurch bestechen lässt, dass der Lieferant einen Vorteil an den vom Arbeitnehmer bevorzugten Sportverein gewährt, damit der Arbeitnehmer zukünftige Zuschläge diesem Lieferanten zuteilt. Da der Arbeitgeber die Auftragserteilung an den Lieferanten als Folge einer direkten Gewährung eines Geschenks vom Lieferanten an den Arbeitnehmer genehmigen kann, erscheint es nur als logisch, wenn der Arbeitgeber auch die Auftragserteilung an den Lieferanten als Folge der Zuwendung an den Sportverein genehmigen kann.

C. Geringfügige, sozial übliche Vorteile

8 Nach Art. 322decies Abs. 1 lit. b StGB sind geringfügige, sozial übliche Vorteile von der Strafbarkeit ausgenommen, wobei die Voraussetzungen kumulativ erfüllt sein müssen.

Ob sich ein Vorteil im Bereich der Geringfügigkeit und sozialer Üblichkeit bewegt, muss anhand einer Gesamtbetrachtung beurteilt werden.

9 Als sozial üblich werden Vorteilsleistungen angesehen, wenn sie auf gesellschaftlichen Übereinkünften basieren und von der Gesellschaft als Ganzes nicht als ungebührlich angesehen werden.

Eine Strafbarkeit wird dann nicht angenommen, wenn es sich um Vorteile handelt, die beim Empfänger keine Befangenheit hervorrufen können und entsprechend keine Beeinflussung durch den Absender möglich ist.
Die Botschaft spricht hier von Fällen im absoluten Bagatellbereich, wie beispielsweise einem Kaffee während einer Besprechung oder dem Schenken eines Taschenkalenders.
Von solchen absoluten Bagatellfällen muss man denjenigen Fall abgrenzen, bei dem zwar ein geringfügiger Vorteil ausgerichtet wird, dies jedoch im direkten Zusammenhang bzw. mit dem Ziel geschieht, eine Bestechungshandlung vorzunehmen.
Wird der Vorteil im Hinblick auf eine Bestechungshandlung erbracht, so fehlt die soziale Üblichkeit.
Bei der Geringfügigkeit und der Sozialüblichkeit handelt es sich folglich um kumulative Voraussetzungen, um eine Strafbarkeit ausschliessen zu können.

10 Ab wann eine Vorteilsleistung nicht mehr geringfügig ist, lässt sich aufgrund des Fehlens einer gesetzlichen Höchstgrenze nicht genau definieren. Die Grenze der Geringfügigkeit muss an der Schwelle angesetzt werden, ab welcher eine Beeinflussungmöglich wird. Diese Schwelle ist in der Lehre umstritten und wurde vom Bundesgericht bis anhin noch nicht beurteilt. So analysiert bspw. Hilti die unterschiedlichen Lehrmeinungen und stellt die mögliche Beeinflussung in den Vordergrund. Seiner Ansicht nach muss die Schwelle der Geringfügigkeit tief angesetzt werden, um eine Beeinflussung zu verhindern.

Andere Stimmen der Lehre wenden die Rechtsprechung zu Art. 172ter StGB analog auch auf die Schwelle der Geringfügigkeit an, wonach die Geringfügigkeit bei einem Höchstwert bei CHF 300.00 liegen würde.
Der hier vertretenen Meinung nach ist diesem Wert gemäss der Rechtsprechung zu Art. 172ter StGB im Sinne einer absoluten Höchstgrenze zuzustimmen. Ob jedoch ein Höchstbetrag von CHF 300.00 noch ein passender Richtwert für die obere Wertgrenze gemäss Art. 172ter StGB darstellt, ist in der Lehre umstritten.
Des Weiteren bleibt anzumerken, dass durchaus auch tiefere Beträge als nicht mehr geringfügig gelten können. Dies ist dann der Fall, wenn das Kriterium der sozialen Üblichkeit stärker gewichtet wird.
Entsprechend ergibt sich die Antwort auf die Frage, was ein geringfügiger und sozial üblicher Nachteil ist, immer aus einer Gesamtbetrachtung der beiden kumulativ zu erfüllenden Voraussetzungen. Dabei ist auch die Häufigkeit des gewährten Vorteils zu berücksichtigen, wobei eine mehrfache Gewährung eines in der Einzelbetrachtung sozialüblich und geringfügig erscheinenden Vorteils dessen Tauglichkeit als Tatmittel bewirken kann.

II. Gleichstellung Privater mit Amtsträgern

11 Gemäss Abs. 2 sind Private, die öffentliche Aufgaben erfüllen, Amtsträgern gleichgestellt. Diese Gleichstellung ergibt sich bereits aus der Auslegung des Beamtenbegriffs nach Art. 110 Abs. 3 StGB, wonach das schweizerische Strafgesetzbuch sowohl von einem institutionellen als auch einem funktionalen Beamtenbegriff ausgeht (vgl. OK-Baumgartner/Hurni, Art. 322ter StGB N. 14 ff.).

Literaturverzeichnis

Betz Kathrin, Kommentierung zu Art. 322octies StGB, in: Trechsel Stefan/Pieth Mark (Hrsg.), Praxiskommentar, StGB, 4. Aufl., Zürich et al. 2021.

Blattner Lucius Richard, Der leichte Fall der Privatbestechung, forumpoenale 1 (2017), S. 39-45.

Donatsch Andreas/Thommen Marc/Wohlers Wolfgang, Strafrecht IV, Delikte gegen die Allgemeinheit, 5. Aufl., Zürich 2017.

Hilti Martin, Kommentierung zu Art. 322septies StGB, in: Graf Damian K. (Hrsg.), Annotierter Kommentar StGB, Bern 2020.

Hilti Martin, Kommentierung zu Art. 322decies StGB, in: Graf Damian K. (Hrsg.), Annotierter Kommentar StGB, Bern 2020.

Isenring Bernhard, Kommentierung zu Art. 322decies StGB, in: Donatsch Andreas (Hrsg.), Orell Füssli Kommentar, StGB, 21. Aufl., Zürich 2022.

Jositsch Daniel, Das Schweizerische Korruptionsstrafrecht, Zürich 2004.

Jositsch Daniel/Drzalic Jana Johanna, Die Revision des Korruptionsstrafrechts, AJP 2016, S. 349-358.

Mingard Roxanne, L’avantage indu dans les infractions relatives à la corruption, ZStrR 2 (2010), Zürich 2010.

Pieth Mark, Kommentierung zu Art. 322ter StGB, in: Niggli Marcel Alexander/Wiprächtiger Hans (Hrsg.), Basler Kommentar, StGB II, 4. Aufl., Basel 2019.

Pieth Mark, Kommentierung zu Art. 322decies StGB, in: Niggli Marcel Alexander/Wiprächtiger Hans (Hrsg.), Basler Kommentar, StGB II, 4. Aufl., Basel 2019.

Materialienverzeichnis

Botschaft über die Änderung des Schweizerischen Strafgesetzbuches und des Militärstrafgesetzes (Revision des Korruptionsstrafrechts) sowie über den Beitritt der Schweiz zum Übereinkommen über die Bekämpfung der Bestechung ausländischer Amtsträger im internationalen Geschäftsverkehr vom 19.4.1999, BBl 1999 5497 ff., abrufbar unter: https://www.fedlex.admin.ch/eli/fga/1999/1_5497_5045_4721/de, besucht am 20.11.2023, (zit. Botschaft Revision).

Botschaft über die Änderung des Strafgesetzbuchs (Korruptionsstrafrecht) vom 30.4.2014, BBl 2014 S. 3591 ff. abrufbar unter: https://www.fedlex.admin.ch/eli/fga/2014/787/de, besucht am 20.11.2023, (zit. Botschaft Änderung).

Fussnoten

  • Botschaft Änderung, S. 3595; BSK-Pieth, Vor Art. 322ter StGB N. 24; Jositsch/Drzalic, S. 349 ff.
  • Botschaft Revision, S. 5550; vgl. Jositsch, S. 413.
  • Botschaft Revision, S. 5550; BStGer, SK.2015.12 vom 15.9.2015 E. 5.7.2.
  • Botschaft Änderung, S. 3611.
  • Botschaft Revision, S. 5528; BStGer SK.2019.25 vom 4.6.2019 E. 2.1.2; BStGer SK.2015.12 vom 15.9.2015 E. 5.7.2, wobei es jeweils um die Regelung dienstrechtlich erlaubte Vorteile handelt, welche im Bundespersonalgesetz vom 24.3.2000 (SR 172.220.1) sowie der Bundespersonalverordnung vom 3.7.2001 (SR 172.220.111.3) geregelt sind.
  • AK-Hilti, Art. 322septies StGB N. 9; OFK-Isenring, Art. 322decies StGB N. 3.
  • Botschaft Änderung, S. 3611; BSK-Pieth, Art. 322decies StGB N. 5.
  • AK-Hilti, Art. 322decies StGB N. 2.
  • Botschaft Änderung, S. 3611; vgl. PK-Betz, Art. 322octies StGB N. 14 m.w.H; AK-Hilti, Art. 322deciesStGB N. 3 mit dem Hinweis auf BGE 124 IV 258 E. 3, wonach eine tatbestandsausschliessende Einwilligung, grundsätzlich vor der Tatbegehung erfolgen muss, um Gültigkeit in Anspruch nehmen zu können.
  • OFK-Isenring, Art. 322decies StGB N. 1a; Donatsch/Wohlers/Thommen, S. 660, welche die nachträgliche Einwilligung gerade aus dem Wortlaut "Genehmigung" entnehmen, welche per se immer erst im Nachhinein erfolgen kann.
  • Vgl. OK-Baumgartner/Hurni, Art. 322ter StGB N. 39 f.; anstatt vieler: BSK-Pieth, Art. 322ter StGB N. 36 m.w.H.
  • Zu denken ist an eine Konstellation, in welcher der Bestechende der Ehefrau des Bestochenen eine teure Uhr schenkt. Der Bestochene ist ein wichtiger Angestellter in einer leitenden Position eines zentralen Verkaufspartners des Bestechenden. Durch die Schenkung an die Ehefrau des Bestochenen erhofft sich der Bestechende bessere Verkaufskonditionen oder mehr Aufträge.
  • Botschaft Revision, S. 5528; AK-Hilti, Art. 322decies StGB N. 4 m.w.H.
  • BStGer SK.2015.12 vom 15.9.2015 E. 5.7.1; OFK-Isenring, Art. 322decies StGB N. 3.
  • Jositsch, S. 339.
  • BGE 135 IV 197 E. 6.3; BStGer SK.2015.12 vom 15.9.2015 E. 5.7.1; AK-Hilti, Art. 322decies StGB N. 4; OFK-Isenring, Art. 322decies StGB N. 4; Blattner, S. 39, der sinngemäss vom Tatbestandselement der sozialen Adäquanz spricht.
  • Botschaft Revision, S. 5497; vgl. für weitere Kasuistik: AK-Hilti, Art. 322decies N. 6.
  • Zu denken ist beispielsweise an eine Übergabe von CHF 10.00 an einen Polizeibeamten, damit dieser von der Rapportierung in Zusammenhang mit einem Verkehrsunfall absieht; OGer ZH SB100547 vom 16.11.2010, in: forumpoenale, 2/2011, S. 66; BSK-Pieth, Art. 322decies StGB N. 6 m.w.H.
  • BStGer SK.2016.5 vom 6.12.2016 E. IV.1.1; AK-Hilti, Art. 322decies StGB N. 4 m.w.H.
  • AK-Hilti, Art. 322decies StGB N. 5 mit weiteren Verweisen auf Werte zwischen CHF 100.00 und CHF 300.00; vgl. OFK-Isenring, Art. 322decies StGB N. 4, der darauf hinweist, dass die Sozialadäquanz wohl im Bereich zwischen CHF 100.00 und CHF 150.00 liegen dürfte.
  • BGE 121 IV 261 E. 2.d.; bestätigt in BGer 6B_472/2011 vom 14.5.2012 E. 13.5; vgl. Mingard, S. 213.
  • Vgl. dazu AK-Hilti, Art. 322decies StGB N. 5 mit Hinweisen auf unterschiedliche Lehrmeinungen betreffend die Richtwerte für die obere Wertgrenze der Geringfügigkeit.
  • Zu denken ist an eine vermögende Familie, welche mehr finanzielle Mittel hat und die Schwelle der Beeinflussung möglicherweise erst bei CHF 300.00 anstatt CHF 100.00 erfüllt ist.

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