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Kommentierung zu
Art. 59b BPR
defriten

I. Entstehungsgeschichte

1 Das Verbot, ein Referendum zurückzuziehen, wurde 1976 mit dem Erlass des BPR gesetzlich geregelt.

Anlass für die neue Regelung waren keine Schwierigkeiten in der Praxis. Das Verfahren sollte vielmehr grundsätzlich geklärt werden, um künftigen Diskussionen zuvorzukommen. Gleichzeitig schätzte der Bundesrat das Risiko problematischer Konstellationen als gering ein. National- und Ständerat stimmten der Regelung diskussionslos zu.

2 Die Gesetzesänderung von 1996 verschob die Bestimmung vom ursprünglichen Art. 67 BPR nach Art. 59b BPR. Dabei wurde sie aus stilistischen Gründen redaktionell überarbeitet, ohne den Normgehalt zu ändern.

II. Bedeutung der Vorschrift

A. Allgemeines

3 Während Volksinitiativen zurückgezogen werden können, bis der Bundesrat die Volksabstimmung festsetzt (Art. 73 Abs. 2 BPR), schliesst das Gesetz den Rückzug eines Referendums ausdrücklich aus. Der Grund liegt in den unterschiedlichen Funktionen der direktdemokratischen Institute: Mit einer Volksinitiative wird ein Sachanliegen in den politischen Prozess eingebracht. Es soll durch Bundesrat und Parlament behandelt und möglicherweise ein Kompromiss in Form eines direkten Gegenentwurfs oder eines indirekten Gegenvorschlags gefunden werden. Das Interesse an der Aufrechterhaltung einer Volksinitiative kann daher entfallen und diese in der Folge zurückgezogen werden. Der Rückzug muss dabei nicht begründet werden.

4 Das Referendum ist im Gegensatz zur Volksinitiative lediglich ein Antrag auf Durchführung einer Volksabstimmung über einen bestimmten Akt der Bundesversammlung. Der Entscheidungsprozess im Parlament ist abgeschlossen. Unterzeichnerinnen und Unterzeichner des Referendumsbegehrens haben kein sachliches Anliegen, das über die Forderung nach einer Volksabstimmung hinausgeht. Ein allfälliges Referendumskomitee benötigt kein Verhandlungspfand, um einem sachlichen Anliegen gegebenenfalls in anderer Form zum Durchbruch zu verhelfen.

Der Rückzug von Referenden wird aus diesem Grund auch ohne ausdrückliches Verbot als unzulässig erachtet.

5 Nach Ansicht des Bundesrates soll das Rückzugsverbot dem Missbrauch des Referendumsrechts vorbeugen und verhindern, dass «Unernst und Spielelemente in den staatlichen Entscheidungsvorgang» Einzug halten.

Obschon die Bestimmung aus rechtlicher Sicht nicht unbedingt nötig wäre, schafft sie für alle Akteure Klarheit.

B. Rechtsvergleich

6 Die Kantone sehen mehrheitlich wie der Bund vor, dass ein Referendum bzw. ein Referendumsbegehren nicht zurückgezogen werden kann.

Im Kanton Wallis muss ein entsprechender Hinweis sogar auf der Unterschriftenliste angebracht werden.
Das Verbot des Rückzugs eines Referendums ergibt sich – wie erläutert – bereits aus der Rechtsnatur des Instituts selbst, weshalb es auch in denjenigen Kantonen gilt, die keine Bestimmung dazu kennen.

7 Der Kanton Tessin hält – soweit ersichtlich – als einziger Kanton ausdrücklich fest, dass auch einzelne Unterschriften nicht zurückgezogen werden dürfen.

III. Kommentierung des Normtextes

A. Kein Rückzug des Referendumsbegehrens

8 Das Rückzugsverbot gilt für Referenden, die bei der Bundeskanzlei eingereicht wurden, denn erst mit der Einreichung wird der Antrag auf Durchführung einer Volksabstimmung gestellt.

9 Urheberinnen und Urheber eines Referendums sind nicht verpflichtet, ihre gesammelten Unterschriften bei der Bundeskanzlei einzureichen; Unterzeichnende haben keinen Anspruch auf die Einreichung.

Eine entsprechende Pflicht wurde bei der Einführung des Rückzugsverbots zwar erwogen, angesichts der mangelnden Kontroll- und Sanktionsmöglichkeiten aber verworfen.

10 Das BPR verlangt für das Referendum – im Gegensatz zur Volksinitiative – kein Komitee, das im Namen der Unterzeichnenden gegenüber den Behörden verbindliche Erklärungen abgeben kann.

Da ein Referendum nicht zurückgezogen werden darf, besteht kein zwingender Bedarf für ein Komitee.
In der Praxis bilden sich aber stets ein oder mehrere Referendumskomitees, welche die Sammlung, die Bescheinigung und die Einreichung der Unterschriften organisieren und gegenüber den Behörden als Kontaktpersonen auftreten. Ihnen wird die Verfügung über das (Nicht-)Zustandekommen mitgeteilt
und sie können dem Bundesrat nach Art. 11 Abs. 2 BPR ihre Argumente mitteilen, damit er diese in den Abstimmungserläuterungen berücksichtigt. Eine eigentliche Repräsentationsfunktion kommt den Komitees aber nicht zu.

B. Kein Rückzug einzelner Unterschriften

11 Art. 59b bezieht sich zunächst einmal auf das Referendumsbegehren als Ganzes. Dies kommt in der französischen Fassung am deutlichsten zum Ausdruck; sie spricht von «demande de référendum». Nach der Praxis dürfen aber auch einzelne Unterschriften nicht zurückgezogen werden, wenn sie einmal bei der Bundeskanzlei eingereicht sind.

Der Auffassung liegt u.a. die Überlegung zugrunde, das Quorum könne durch den Rückzug einzelner Unterschriften unterschritten, das Zustandekommen so verhindert und das Referendum im Ergebnis auf indirektem Weg zurückgezogen werden.

12 Hingegen spricht nichts dagegen, dass Unterzeichnende ihre Unterschrift zurückziehen, sofern diese noch nicht bei der Bundeskanzlei eingereicht ist. Dabei ist es aber Sache der Referendumskomitees, dem Anliegen nachzukommen. Es ist nicht zur Einreichung der gesammelten Unterschriften verpflichtet und kann eine betroffene Unterschrift selbst streichen oder gar nicht erst einreichen. Ein Anspruch, die Unterschrift zurückzuziehen, besteht aber nicht. Keine Möglichkeit, einem allfälligen Rückzugswunsch der Unterzeichnenden zu entsprechen, haben die zur Stimmrechtsbescheinigung zuständigen Stellen. Sie sind nach Art. 62 Abs. 2 BPR zur Rückgabe der bescheinigten Unterschriftslisten an die Absender (i.d.R. die Komitees) verpflichtet.

13 Der Rückzug einzelner Unterschriften galt vor Erlass des BPR als zulässig. Anfang der 1930er Jahre sah sich der Bundesrat veranlasst, zum Bestehen eines solchen Rückzugsrechts Stellung zu nehmen. Zu einigen Referendumsbegehren gingen damals Rückzugserklärungen ein und die Bundesgesetzgebung regelte den Fall nicht. Der Bundesrat betrachtete den Rückzug einer Unterschrift als rechtsgültig, wenn er vor Ablauf der Referendumsfrist oder vor Einreichung des Initiativbegehrens beim Bundesrat erklärt wurde.

Eine Rückzugserklärung gegenüber den Amtsstellen, die das Stimmrecht bescheinigen, war ebenfalls zulässig.
Für Volksinitiativen kodifizierte Art. 5 Abs. 1 lit. e des Initiativengesetzes vom 23.3.1962 diese Praxis.
Der Entwurf des Bundesrates von 1975 zur Einführung des BPR, welches u.a. das Initiativengesetz ablösen sollte, sah die Möglichkeit des Rückzugs einzelner Unterschriften nicht vor. In der vorberatenden Kommission des Nationalrats beantragte Nationalrätin Blunschy eine solche Bestimmung, nach welcher die Unterschriften bis zur Einholung der Stimmrechtsbescheinigung hätten zurückgezogen werden dürfen.
Das Anliegen fand in der Kommission aber keine Mehrheit.

14 In der Lehre steht die aktuelle Praxis in der Kritik. Nach Jacquemoud bezieht sich das Rückzugsverbot nach Art. 59b nicht auf einzelne Unterschriften, weshalb deren Rückzug bereits nach geltendem Recht zuzulassen sei.

Dabei sollen die Unterschriften bis zum Ende der Referendumsfrist bei derjenigen Stelle zurückgezogen werden können, die das Stimmrecht zu bescheinigen hat. Diese Stelle solle sodann die Bundeskanzlei und das Komitee über den Rückzug der Unterschrift informieren.
Eine solche Rückzugsmöglichkeit ohne bundesgesetzliche Grundlage ist abzulehnen. In Anbetracht der Anzahl Akteure und der laufenden Unterschriftensammlungen müssten zunächst verfahrensrechtliche Fragen geklärt werden, damit allfällige Unsicherheiten in Bezug auf die Feststellung des Zustandekommens von Referenden vermieden werden können.

C. Rückkommen auf den Referendumserlass

15 In Ausnahmefällen kann ein Referendum gegenstandlos werden, wenn die Bundesversammlung einen Erlass während der Referendumsfrist oder auch erst vor der Anordnung einer Volksabstimmung aufhebt oder ändert. In solchen Fällen liegt kein Rückzug eines Referendums vor, sondern diesem wird vielmehr die Grundlage entzogen. Die sich stellenden Fragen werden im Zusammenhang mit der Anordnung der Volksabstimmung erörtert; an dieser Stelle kann daher auf die Kommentierung von Art. 59c verwiesen werden.

Literaturverzeichnis

Amstad Eduard, Referendum und Initiative, in: Yvo Hangartner (Hrsg.), Das Bundesgesetz über die politischen Rechte, Veröffentlichungen des Schweizerischen Instituts für Verwaltungskurse an der Hochschule St. Gallen, St. Gallen 1978.

Bisaz Corsin, Direktdemokratische Instrumente als «Anträge aus dem Volk an das Volk» – Eine Systematik des direktdemokratischen Verfahrensrechts in der Schweiz, Zürich 2020.

Ehrenzeller Kaspar/Nobs Roger, Kommentierung zu Art. 141 BV, in: Ehrenzeller Bernhard et al. (Hrsg.), St. Galler Kommentar, Die schweizerische Bundesverfassung, 4. Aufl., Zürich 2023 (zit. SGK-Ehrenzeller/Nobs).

Grisel Etienne, Initiative et référendum populaires, Bern 2004.

Hangartner Yvo/Kley Andreas/Braun Binder Nadja/Glaser Andreas, Die demokratischen Rechte in Bund und Kantonen der Schweizerischen Eidgenossenschaft, 2. Aufl., Zürich 2023 (zit. Hangartner/Kley/Braun Binder/Glaser).

Jacquemoud Camilla, La libre formation de la volonté des signataires d’un référendum, RSJ 116 (2020), S. 223–236.

Kuoni Beat, Kommentierung zu Art. 59a BPR, in: Glaser Andreas/Braun Binder Nadja/Bisaz Corsin/Tornay Schaller Bénédicte (Hrsg.), Onlinekommentar zum Bundesgesetz über die politischen Rechte, verfügbar unter: https://onlinekommentar.ch/de/kommentare/bpr59a.

Kuoni Beat, Kommentierung zu Art. 59c BPR, in: Glaser Andreas/Braun Binder Nadja/Bisaz Corsin/Tornay Schaller Bénédicte (Hrsg.), Onlinekommentar zum Bundesgesetz über die politischen Rechte, verfügbar unter: https://onlinekommentar.ch/de/kommentare/bpr59c.

Kuoni Beat, Rechtliche Problemfelder direkter Demokratie in Deutschland und in der Schweiz, Zürich 2015 (zit. Kuoni, Problemfelder).

Tschannen Pierre, Staatsrecht der Schweizerischen Eidgenossenschaft, 5. Aufl., Bern 2021.

Winzeler Christoph, Die politischen Rechte des Aktivbürgers nach schweizerischem Bundesrecht, Basel 1983.

Materialienverzeichnis

Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung zu einem Bundesgesetz über die politischen Rechte vom 9.4.1975, BBl 1975 I 1317 ff., abrufbar unter: https://www.fedlex.admin.ch/eli/fga/1975/1_1317_1337_1313/de, besucht am 30.1.2024 (zit. Botschaft 1975).

Botschaft des Bundesrates über eine Teiländerung der Bundesgesetzgebung über die politischen Rechte vom 1.9.1993, BBl 1993 III 445 ff., abrufbar unter: https://www.fedlex.admin.ch/eli/fga/1993/3_445_405_309/de, besucht am 30.1.2024 (zit. Botschaft 1993).

Entscheide 2019 der Gerichts- und Verwaltungsbehörden des Kantons Schwyz, abrufbar unter: https://www.sz.ch/behoerden/justiz/entscheidsammlungen.html/8756-8758-8801-11700, besucht am 30.1.2024 (zit. EGV-SZ 2019).

Kreisschreiben des Bundesrates an die Kantonsregierungen betreffend den Rückzug von Unterschriften bei Referendums- oder Initiativbegehren vom 15.11.1933, BBl 1933 II 706 ff., abrufbar unter: https://www.fedlex.admin.ch/eli/fga/1933/2_706__/de, besucht am 30.1.2024 (zit. Kreisschreiben 1933).

Protokoll der vorberatenden Kommission des Nationalrates der Sitzung vom 12./13.8.1975 zum Geschäft 75.018 Bundesgesetz über die politischen Rechte (zit. Protokoll KOM-NR 1975).

Fussnoten

  • Botschaft 1975, S. 1347.
  • AB 1976 NR S. 50; AB 1976 SR S. 533.
  • Botschaft 1993, S. 492.
  • BGE 147 I 206 E. 3.6.
  • Hangartner/Kley/Braun Binder/Glaser, N. 378; siehe auch Tschannen, N. 1807.
  • Bisaz, N. 81; Winzeler, S. 130.
  • Botschaft 1975, S. 1347; Grisel, N. 841.
  • § 68 Abs. 3 VPR/ZH; Art. 130 Abs. 2 PRG/BE; § 146 Abs. 1 StRG/LU; Art. 80 Abs. 2 WAVG/UR; § 152 Abs. 3 GpR/SO; § 38 IRG/BS; § 62 GpR/BL; Art. 61sexies Abs. 2 GpR/AR; Art. 25 Abs. 3 RIG/SG; Art. 81 Abs. 3 GPR/GR; Art. 46 Abs. 3 GPR/AG; § 86 Abs. 3 StWG/TG; Art. 113 Abs. 3 LEDP/TI; Art. 134 Abs. 4 LEDP/VD; Art. 123 LDP/NE; Art. 85A Abs. 4 LEDP/GE; Art. 96 Abs. 2 LDP/JU.
  • Art. 113 kGPR/VS.
  • Bisaz, N. 81; Winzeler, S. 130; vgl. dazu auch EGV-SZ 2019, D1, E. 8.
  • Art. 113 Abs. 1 i.V.m. Art. 97 Abs. 5 LEDP/TI.
  • Amstad, S. 95; Jaquemoud, S. 234.
  • SGK-Ehrenzeller/Nobs, Art. 141 BV N. 15; Grisel, N. 841.
  • Botschaft, S. 1347.
  • Siehe OK-Kuoni, Art. 59a BPR N. 33.
  • Vgl. Tschannen, N. 1804.
  • Siehe z.B. BBl 2023 242.
  • Bisaz, N. 190.
  • Antwort des Bundesrates auf die Ip. 19.3520 Reynard; Hangartner/Kley/Braun Binder/Glaser, N. 212
  • Zu dieser Form des Rückzugs im Recht der deutschen Bundesländer siehe Kuoni, S. 136.
  • Kreisschreiben 1933, S. 707.
  • Kreisschreiben 1993, S. 709 f.
  • AS 1962 789.
  • Protokoll KOM-NR 1975, S. 114 ff.
  • Jacquemoud, S. 233 ff.
  • Jacquemoud, S. 234. Die getroffenen Annahmen orientieren sich an der Praxis vor Erlass des BPR, sind aus regelungstheoretischer Sicht aber nicht zwingend. Siehe zum Zeitpunkt des Rückzugs einzelner Unterschriften in grundsätzlicher Hinsicht Bisaz, N. 604.
  • OK-Kuoni, Art. 59c BPR N. 13–16.

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