Eine Kommentierung von Claude Humbel
Herausgegeben von Nils Güggi / Lukas von Orelli
B. Rechtsfähigkeit
Art. 53
Die juristischen Personen sind aller Rechte und Pflichten fähig, die nicht die natürlichen Eigenschaften des Menschen, wie das Geschlecht, das Alter oder die Verwandtschaft zur notwendigen Voraussetzung haben.
I. Normzweck und systematische Stellung
1 Nachdem in Art. 52 ZGB der Erwerb der Rechtsfähigkeit von juristischen Personen geregelt ist, nimmt sich Art. 53 ZGB dem Umfang und dem Inhalt derselben an.
2 Ausgangspunkt bildet dabei der Grundsatz der allgemeinen Rechtsfähigkeit der juristischen Personen, welche als selbständige Trägerinnen von Rechten und Pflichten den natürlichen Personen im Rechtsverkehr als grundsätzlich gleichwertige Rechtssubjekte gegenübergestellt werden.
3 Diese vermeintlich einfache Formel – juristischen Personen kommen alle jene Rechte und Pflichten zu, die nicht aus Gründen der Sachlogik ausgeschlossen werden müssen
4 Schliesslich ist anzumerken, dass die Rechte und Pflichten von juristischen Personen nicht nur eine Teilmenge der Rechte und Pflichten von natürlichen Personen bilden. Vielmehr wird die Rechtsfähigkeit von genuin auf juristische Personen bezogene Rechtsfähigkeitsbereiche erweitert.
II. Einzelne Aspekte der Rechtsfähigkeit
A. Privatrecht
1. Sachen- und allgemeines Obligationenrecht
5 Juristische Personen sind regelmässig Trägerinnen von Vermögens-, Forderungs-, Sachen-
2. Personenrecht und Persönlichkeitsrechte
6 Zu differenzieren ist im Bereich der Persönlichkeitsrechte. Hier gibt es teils Rechtsverhältnisse, die zwar für juristische Personen relevant sind, aber eigenen Normen unterliegen (wie etwa der Rechts- und Handlungsfähigkeit sowie der Frage nach dem Wohnsitz).
7 Beim Persönlichkeitsschutz ist hingegen von der grundsätzlichen Anwendbarkeit von Art. 27 ff. ZGB auf juristische Personen auszugehen.
3. Familienrecht
8 Vor dem Hintergrund der «natürlichen» Kriterien von Art. 53 ZGB und dem menschlichen Wesenskern des Familienrechts ist kaum erstaunlich, dass in diesem Bereich nur sehr wenige Bestimmungen auf juristische Personen zur Anwendung kommen. Eine gewisse Praxisrelevanz kommt noch den Familienstiftungen zu (Art. 87 und 335 ZGB).
4. Erbrecht
9 Juristische Personen sind ihrer Natur nach nicht vererbungsfähig (aktives Erbrecht).
B. Partei-, Prozess- und Betreibungsfähigkeit
10 Juristische Personen besitzen sowohl die aktive als auch die passive Partei- und Prozessfähigkeit.
C. Öffentliches Recht (einschliesslich Strafrecht)
11 Im öffentlichen Recht gilt mutatis mutandis das für das Privatrecht Gesagte:
12 Die strafrechtliche Deliktsfähigkeit juristischer Personen wird – ausserhalb der Nebenstrafgesetzgebung
Literaturverzeichnis
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Reitze Christophe, Kommentierung zu Art. 53 ZGB, in: Geiser Thomas/Fountoulakis Christiana (Hrsg.), Basler Kommentar, Zivilgesetzbuch I, 7. Aufl., Basel 2022 (zit. BSK-Reitze).
Riemer Hans Michael, Stämpflis Handkommentar, Vereins- und Stiftungsrecht (Art. 60–89bis ZGB) mit den Allgemeinen Bestimmungen zu den juristischen Personen (Art. 52–59 ZGB), Bern 2012 (zit. SHK-Riemer).
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Weber Rolf H., Einleitung und Personenrecht, in: Tercier Pierre (Hrsg.), Schweizerisches Privatrecht, II Band, 4. Teilband, Basel 1998.
Xoudis Julia, Kommentierung zu Art. 53 ZGB, in: Pichonnaz Pascal/Foëx Bénédict (Hrsg.), Commentaire Romand, Code civil I, Basel 2010 (CR-Xoudis).
Fussnoten
- KUKO-Jakob, Art. 53 ZGB N. 1; SHK-Riemer, Art. 53 ZGB N. 1.
- Statt vieler BSK-Reitze, Art. 53 ZGB N. 1; KUKO-Jakob, Art. 53 ZGB N. 1; SHK-Riemer, Art. 53 ZGB N. 1; OFK-Scherrer, Art. 53 ZGB N. 1; CR-Xoudis, Art. 53 ZGB N. 1, 3.
- Statt vieler BSK-Reitze, Art. 53 ZGB N. 2; SHK-Riemer, Art. 53 ZGB N. 1; OFK-Scherrer, Art. 53 ZGB N. 1; CR-Xoudis, Art. 53 ZGB N. 5. Illustrativ auch BGE 106 II 375 E. 4: «droits inséparables des conditions naturelles de l’homme».
- KUKO-Jakob, Art. 53 ZGB N. 4; ähnlich BK-Riemer, Art. 53 ZGB N. 90 ff.
- SHK-Riemer, Art. 53 ZGB N. 1 und 11 f., m. Hinweis auf das Erwachsenenschutzrecht, wo etwa Art. 400 Abs. 1 ZGB nur natürliche Personen als Beistand vorsieht. Auch können ferner nur natürliche Personen Wohnrechtsberechtigte i.S.v. Art. 776–778 ZGB, Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen i.S.v. Art. 319 ff. OR sowie die Inhaber bestimmter Funktionen bei bestimmten juristischen Personen und Rechtsgemeinschaften sein (Art. 707 Abs. 3, Art. 894 Abs. 2 OR resp. Art. 552 Abs. 1, Art. 594 Abs. 2 OR).
- KUKO-Jakob, Art. 53 ZGB N. 1. Ähnlich BSK-Reitze, Art. 53 ZGB N. 2; SHK-Riemer, Art. 53 ZGB N. 1.
- Bundesgesetz über Fusion, Spaltung, Umwandlung und Vermögensübertragung (Fusionsgesetz) vom 3.10.2003 (SR 221.301).
- Zum Ganzen auch SHK-Riemer, Art. 53 ZGB N. 1 und 14 f.
- Vgl. die in Fn. 5 genannte Ausnahme hinsichtlich des Wohnrechts gemäss Art. 776–778 ZGB. Anzumerken ist, dass juristische Personen aber Nutzniesser und Nutzniesserinnen gemäss Art. 745 ff. ZGB sein können.
- Ausnahmen gelten für die Urheber und Urheberinnen gemäss Art. 380 OR (Verlagsvertrag) sowie Art. 6 des Bundesgesetzes über das Urheberrecht und verwandte Schutzrechte (Urheberrechtsgesetz, URG) vom 9.10.1992 (SR 231.1). Vgl. auch SHK-Riemer, Art. 53 ZGB N. 9 m.w.H. zu den weiteren Ausnahmen.
- Zum Ganzen BSK-Reitze, Art. 53 ZGB N. 6; KUKO-Jakob, Art. 53 ZGB N. 2; SHK-Riemer, Art. 53 ZGB N. 7 ff.
- Bundesgesetz über Kartelle und andere Wettbewerbsbeschränkungen (Kartellgesetz) vom 6.10.1995.
- Bundesgesetz gegen den unlauteren Wettbewerb vom 19.12.1986 (SR 241).
- Vgl. BGE 91 II 17 E. 1 ff.; KUKO-Jakob, Art. 53 ZGB N. 2; BSK-Reitze, Art. 53 ZGB N. 7 m.w.H.
- KUKO-Jakob, Art. 53 ZGB N. 7 mit weiteren Fallbeispielen. Ferner BSK-Reitze, Art. 53 ZGB N. 6; Weber, S. 124 ff.
- So kann eine Genugtuung auch bei allgemeinen Persönlichkeitsverletzungen und nicht nur bei «seelischem Schmerz» geschuldet sein, vgl. BGE 95 II 481 E. 12, wo aber verneint. Dazu ferner BSK-Reitze, Art. 53 ZGB N. 8 m.H. auf andere Auffassungen in der Lehre.
- SHK-Riemer, Art. 53 ZGB N. 3.
- Nicht ausgeschlossen ist hingegen, dass für bestimmte Tätigkeiten bestimmte zeitliche Voraussetzungen erforderlich sind, so zum Beispiel Art. 11 Abs. 1 des Kotierungsreglements der SIX Swiss Exchange, welches mindestens ein dreijähriges Bestehen als Gesellschaft voraussetzt. Vgl. dazu auch die «Richtlinie Track Record» (RLTR) der SIX Swiss Exchange.
- SHK-Riemer, Art. 53 ZGB N. 3.
- Vgl. BGE 95 II 481 E. 3, 102 II 161 E. 2 f. Eingehend BSK-Reitze, Art. 53 ZGB N. 8; KUKO-Jakob, Art. 53 ZGB N. 2; SHK-Riemer, Art. 53 ZGB N. 4 m. umfangreichen w.H.
- BGE 106 II 369 E. 4; dies ist v.a. mit Blick auf Verbände und Konzerne von Bedeutung.
- Bundesgesetz über die Gleichstellung von Frau und Mann (Gleichstellungsgesetz) vom 24.3.1995 (SR 151.1).
- Vgl. die vielfältigen Hinweise auf die Judikatur in SHK-Riemer, Art. 53 ZGB N. 4.
- Vgl. z.B. BGE 135 III 385.
- Hintergrund ist, dass das allgemeine Namensrecht für viele Fragen keine passende Antwort bzw. keine hinreichenden Kriterien enthält, vgl. SHK-Riemer, Art. 53 ZGB N. 4. Zu denken ist an den Schutz vor Verwechselungsgefahr wegen Namensähnlichkeit und an die Grundsätze der Namenswahrheit und -klarheit.
- Ebenfalls anwendbar sind die Regeln über die Haftung des Familienhaupts, welches auch eine juristische Person sein kann (bspw. als Betreiberin von Kinderkrippen, Altersheimen oder Internaten). Vgl. BGE 79 II 261, dazu auch KUKO-Büchler, Art. 331 ZGB N. 3.
- KUKO-Jakob, Art. 53 ZGB N. 3; SHK-Riemer, Art. 53 ZGB N. 5.
- Vgl. oben Fn. 5.
- KUKO-Jakob, Art. 53 ZGB N. 3; SHK-Riemer, Art. 53 ZGB N. 6.
- BSK-Reitze, Art. 53 ZGB N. 10; KUKO-Jakob, Art. 53 ZGB N. 2 f.; SHK-Riemer, Art. 53 ZGB N. 6.
- BSK-Reitze, Art. 53 ZGB N. 10; KUKO-Jakob, Art. 53 ZGB N. 2; SHK-Riemer, Art. 53 ZGB N. 6. Nicht möglich ist es juristischen Personen hingegen, als Zeuginnen i.S.d. Erbrechts (Art. 501 ff., 506, 512 ZGB) aufzutreten.
- KUKO-Jakob, Art. 53 ZGB N. 6.
- BGE 108 II 398 E. 2a; Entscheid des Obergerichts des Kantons Zürich LB130067 vom 24.4.2014 E. III.3. Vgl. auch KUKO-Jakob, Art. 53 ZGB N. 6.
- BSK-Reitze, Art. 53 ZGB N. 13 m.w.H. auf die Judikatur.
- CR-Xoudis, Art. 53 ZGB N. 8, weist allgemein darauf hin, dass auch im öffentlichen Recht viele Punkte strittig seien.
- SHK-Riemer, Art. 53 ZGB N. 16. Für eine direkte Anwendbarkeit scheinen KUKO-Jakob, Art. 53 ZGB N. 5 und BSK-Reitze, Art. 53 ZGB N. 11 zu plädieren.
- Zum Ganzen SHK-Riemer, Art. 53 ZGB N. 16. Zur Glaubens- und Gewissensfreiheit KUKO-Jakob, Art. 53 ZGB N. 5.
- SHK-Riemer, Art. 53 ZGB N. 16 m.w.H.
- Das BGer hat dies verneint, vgl. BGE 100 Ia 277 E. 5. Die Lehre bejaht dies hingegen mehrheitlich, wobei die Details umstritten sind, vgl. die Hinweise in BSK-Reitze, Art. 53 ZGB N. 11; OFK-Scherrer, Art. 53 ZGB N. 5. Mit Hinweis auf die Botschaft bejahend: BSK-Schiess Rütimann, Art. 23 BV N. 20.
- Vgl. ausführlich BSK-Reitze, Art. 53 ZGB N. 11 f.; KUKO-Jakob, Art. 53 ZGB N. 5; SHK-Riemer, Art. 53 ZGB N. 16.
- Vgl. Fn. 7 oben.
- Vgl. Art. 2 Abs. 1 des Bundesgesetzes betreffend die Aufsicht über die soziale Krankenversicherung (Krankenversicherungsaufsichtsgesetz, KVAG) vom 26.9.2014 (SR 832.12): «Krankenkassen sind juristische Personen des privaten oder öffentlichen Rechts».
- Zum Ganzen SHK-Riemer, Art. 53 ZGB N. 16.
- Dazu BSK-Reitze, Art. 53 ZGB N. 14; BK-Riemer, Syst. Teil N. 187 ff., und Art. 53 ZGB N. 89.
- Im Kernstrafrecht galt bis zur Einführung von Art. 102 StGB im Jahre 2003 der Grundsatz «societas non potest delinquere», BSK-Reitze, Art. 53 ZGB N. 14; ferner KUKO-Jakob, Art. 53 ZGB N. 7.
- KUKO-Jakob, Art. 53 ZGB N. 6.
- BSK-Reitze, Art. 53 ZGB N. 14 m.w.H.; KUKO-Jakob, Art. 53 ZGB N. 6; SHK-Riemer, Art. 53 ZGB N. 17.
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