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Kommentierung zu
Art. 80 IRSG

Eine Kommentierung von Miro Dangubic / Marco Mignoli

Herausgegeben von Maria Ludwiczak Glassey / Lukas Staffler

defriten

I. Allgemein

1Die Verfahrensbestimmung von Art. 80 IRSG kommt zur Anwendung, nachdem ein Rechtshilfeersuchen direkt oder nach summarischer Prüfung durch das BJ i.S.v. Art. 78 Abs. 2 IRSG bei der zuständigen Ausführungsbehörde eingegangen ist. Abs. 1 verpflichtet die Ausführungsbehörde, das Rechtshilfeersuchen einer Analyse prima facie zu unterziehen. Damit soll sichergestellt werden, dass sämtliche Rechtshilfevoraussetzungen erfüllt sind, bevor Rechtshilfehandlungen angeordnet werden, die in die Rechte der Betroffenen eingreifen können.

Abs. 2 bestimmt das Vorgehen bei unzulänglichen Rechtshilfeersuchen.

2Normadressatin von Art. 80 IRSG ist diejenige Behörde, die das Rechtshilfeverfahren leitet. In der Praxis sind dies insbesondere kantonale Staatsanwaltschaften (Art. 55 Abs. 1 StPO), die Bundesanwaltschaft bzw. Verwaltungsstrafbehörden (Art. 17 Abs. 4 und Art. 79 Abs. 2 IRSG) sowie das BJ in den Fällen nach Art. 79a IRSG.

3Für den Rechtshilfeverkehr mit den USA enthält Art. 10 BG-RVUS eine ähnliche Regelung.

II. Abgrenzung zur summarischen Prüfung gemäss Art. 78 Abs. 2 IRSG

4Die summarische Prüfung i.S.v. Art. 78 Abs. 2 IRSG erfolgt vor der Vorprüfung nach Art. 80 Abs. 1 IRSG und wird durch das BJ vorgenommen. Praxisgemäss unterzieht das BJ sämtliche Rechtshilfeersuchen, die bei ihm eingehen, der summarischen Prüfung

– auch falls Direktverkehr möglich gewesen wäre.
Sinn und Zweck der Bestimmung ist es, dass die Fachbehörde Rechtshilfeersuchen aussondert, denen – aufgrund der Aktenlage – klarerweise nicht entsprochen werden kann. Gleichzeitig wird die Behörde eruiert, die für den Vollzug des Rechtshilfeersuchens zuständig ist, damit ihr das Rechtshilfeersuchen weitergeleitet bzw. delegiert werden kann – falls das BJ das Ersuchen nicht selbst ausführt.
Die Prüfungsdichte der Vorprüfung gemäss Art. 80 Abs. 1 IRSG ist höher als diejenige der summarischen Prüfung nach Art. 78 Abs. 2 IRSG
, wobei jedoch keine klare Abgrenzung besteht – nicht zuletzt aufgrund dieser unscharfen Konturen kommt dem BJ ein grosser Ermessenspielraum bei der summarischen Prüfung zu.

III. Vorprüfung

5Das Rechtshilfeersuchen ist einer formellen und materiellen Vorprüfung zu unterziehen.

Die konkreten Rechtshilfeerfordernisse ergeben sich aus den einschlägigen Staatsverträgen und subsidiär aus dem IRSG und der IRSV (Art. 1 Abs. 1 IRSG), wobei nach dem sog. Günstigkeitsprinzip die nationalen Bestimmungen auch dann zur Anwendung gelangen, wenn diese geringere Anforderungen an die Rechtshilfe stellen.

6Formelle Aspekte, die es regelmässig zu prüfen gilt, sind insbesondere die Sprache, die Form sowie die Vollständigkeit des Inhalts und der Beilagen des Rechtshilfeersuchens.

In materieller Hinsicht wird typischerweise geprüft, ob eine rechtsgenügliche Sachverhaltsdarstellung vorliegt
, Verweigerungsgründe bestehen
und die Ausführung des Ersuchens verhältnismässig erscheint
. Erfordert die Ausführung des Rechtshilfeersuchens Zwangsmassnahmen, so ist auch die doppelte Strafbarkeit zu prüfen (vgl. Art. 64 Abs. 1 IRSG).

7Ebenfalls kontrolliert wird, ob das schweizerische Verfahrensrecht, namentlich die StPO und das VStrR, die ersuchte Massnahme zulässt.

Auf ein Rechtshilfeersuchen kann jedoch auch dann eingetreten werden (vgl. Art. 80a Abs. 1 IRSG), wenn nicht sämtliche beantragten Unterstützungshandlungen zulässig sind: Diesfalls werden die zulässigen Massnahmen vollzogen und die ersuchende Behörde darüber informiert, welche Durchführungshandlungen in der Schweiz nicht vollziehbar sind.

8Erfordert die Bearbeitung des Ersuchens besondere Sachkunde bzw. aktuelles wissenschaftliches Know-how und/oder Fachkenntnisse betreffend Spezialmaterien des schweizerischen Rechts, so kann die Vollzugsbehörde im Rahmen der Vorprüfung Stellungnahmen von Fachbehörden – wie der Eidgenössischen Steuerverwaltung (vgl. Art. 24 Abs. 3 IRSV) oder dem Staatssekretariat für Wirtschaft – einholen. Zulässig ist ebenfalls der Beizug von Akten aus anderen Verfahren (bspw. Strafverfahren oder Rechtshilfeverfahren

), von Daten aus dem Handelsregister oder öffentlich zugänglichen Quellen, falls sie für die Vorprüfung dienlich sein könnten.
Auch Aufträge an die Polizei sind bereits in diesem Verfahrensstadium möglich.

9In diesem Verfahrensstadium nicht zwingend zu beantworten ist die Frage, wem im Rechtshilfeverfahren Parteistellung zukommt,

zumal die Parteien im Rechtshilfeverfahren ohnehin grundsätzlich erst nach der Vornahme von Rechtshilfehandlungen feststehen.

10Da im Rahmen der Vorprüfung noch nicht abschliessend über die Gewährung und den Umfang der Rechtshilfe entschieden wird, sieht Art. 80 Abs. 1 IRSG lediglich eine Analyse prima facie des Rechtshilfeersuchens vor.

Nach der hier vertretenen Auffassung sollte die ausführende Behörde dennoch bereits in diesem Verfahrensstadium eine sorgfältige Kontrolle des Rechtshilfeersuchens vornehmen: Einerseits können dadurch aufwändige und zwecklose strafprozessuale Massnahmen vermieden werden.
Andererseits ermöglicht im Falle von unzulänglichen Rechtshilfeersuchen (Art. 80 Abs. 2 IRSG) nur eine sorgfältige Prüfung ein zielgerichtetes Aktivwerden gegenüber der ersuchenden Behörde.

11Im Rahmen von Art. 80 Abs. 1 IRSG nicht zu prüfen ist, ob die Rechtshilfe wegen entgegenstehender essenzieller schweizerischer Interessen nach Art. 1a IRSG zu beschränken bzw. zu verweigern ist. Zuständig für solch einen Entscheid ist das EJPD, welches innert 30 Tagen nach der Schlussverfügung um einen Entscheid ersucht werden kann (vgl. Art. 17 Abs. 1 IRSG).

12Bei sog. ergänzenden Rechtshilfeersuchen

findet nur eine eingeschränkte Vorprüfung statt, namentlich gilt es lediglich die Zulässigkeit der ersuchten Massnahmen zu kontrollieren.

IV. Positiv ausgefallene Vorprüfung

13Fällt die Vorprüfung positiv aus, so wird eine summarisch begründete Eintretensverfügung erlassen (Art. 80a Abs. 1 IRSG), in welcher das Resultat der Vorprüfung festgehalten wird.

Danach folgen die beantragten Durchführungshandlungen, namentlich Editionsverfügungen, Hausdurchsuchungen, Sicherstellungen, Einvernahmen, geheime Überwachungsmassnahmen und Kontosperren (vgl. Art. 63 ff. IRSG). Anschliessend werden die Parteirechte (insbesondere das rechtliche Gehör) gewährt und das Rechtshilfeverfahren abgeschlossen.
Auch bei positiv ausgefallener Vorprüfung kann die Rechtshilfe von der ausführenden Behörde noch verweigert werden.

V. Negativ ausgefallene Vorprüfung

14Genügt das Rechtshilfeersuchen den Erfordernissen nicht, so wird dies nicht in einer formellen Verfügung festgehalten.

Gemäss Art. 80 Abs. 2 IRSG ist in diesem Fall das Rechtshilfeersuchen der ersuchenden Behörde zurückzusenden. Neben der Verweigerung der Rechtshilfe besteht auch in diesem Verfahrensstadium die Möglichkeit, dass die ersuchende Behörde eingeladen wird, das Rechtshilfeersuchen zu ergänzen bzw. zu verbessern.
Die Gründe für die Rückfrage bzw. Ablehnung der Rechtshilfe sind der ersuchenden Behörde anzugeben.

15Ist mit dem ersuchenden Staat Direktverkehr möglich, so kann die ausführende Behörde selbst gegenüber der ersuchenden Behörde tätig werden – selbst falls ihr das Rechtshilfeersuchen vom BJ delegiert bzw. weitergeleitet wurde. Andernfalls ist das BJ miteinzubeziehen.

VI. Parteirechte und Rechtsmittel

16Im Vorfeld der Vorprüfung besteht kein Akteneinsichtsrecht (Art. 80b Abs. 1 IRSG) und kein Recht auf vorgängige Äusserung (Art. 30 Abs. 1 VwVG

) potentieller Parteien.
In Bezug auf negativ ausgefallene Vorprüfungen besteht zudem keine Offenlegungspflicht den potentiellen Parteien gegenüber
und auch kein Rechtsmittel dagegen.
Wird auf das Rechtshilfeersuchen eingetreten, so gelten im Rahmen des entsprechenden Rechtshilfeverfahrens die gewöhnlichen Regeln betreffend Parteirechte und Rechtsmittel.

Die Rechtsauffassung der beiden Autoren ist unabhängig von jener ihres Arbeitgebers. Begriffe, die sich auf Personen beziehen, gelten gleichermassen für Frauen und Männer.

Literaturverzeichnis

Dangubic Miro, Parteistellung und Parteirechte bei der rechtshilfeweisen Herausgabe von Kontoinformationen, forumpoenale 2018, S. 112-117.

Donatsch Andreas/Heimgartner Stefan/Meyer Frank/Simonek Madeleine, Internationale Rechtshilfe, 2. Aufl., Zürich et al. 2015.

Fiolka Gerhard, Kommentierung zu Art. 1 IRSG, in: Niggli Marcel Alexander/Heimgartner Stefan (Hrsg.), Basler Kommentar, Internationales Strafrecht, IRSG, GwÜ, Basel 2015.

Garré Roy, Kommentierung zu Art. 35 IRSG, in: Niggli Marcel Alexander/Heimgartner Stefan (Hrsg.), Basler Kommentar, Internationales Strafrecht, IRSG, GwÜ, Basel 2015.

Kuster Susanne, Kommentierung zu Art. 78 und Art. 80 IRSG, in: Niggli Marcel Alexander/Heimgartner Stefan (Hrsg.), Basler Kommentar, Internationales Strafrecht, IRSG, GwÜ, Basel 2015.

Moreillon Laurent (Hrsg.), Commentaire romand, Entraide internationale en matière pénale, EIMP, TEJUS, LTEJUS, TEXUS, Basel 2004.

Popp Peter, Grundzüge der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen, Basel et al. 2001.

Zimmermann Robert, La coopération judiciaire internationale en matière pénale, 5. Aufl., Bern 2019.

Fussnoten

  • Popp, S. 331.
  • Betreffend BJ: BSK-Kuster, Art. 78 IRSG N. 7.
  • So auch Popp, S. 332.
  • Diese Praxis des BJ entlastet die Vollzugsbehörden. Zudem entspricht sie dem Beschleunigungsgebot von Art. 17a IRSG, da unzulängliche Rechtshilfeersuchen schneller eruiert werden.
  • Die summarische Vorprüfung entfällt grundsätzlich im Direktverkehr: Vgl. Bundesamt für Justiz, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, Wegleitung, 9. Aufl. 2009, 39.
  • BSK-Kuster, Art. 78 IRSG N. 3.
  • BStGer RR.2022.134 vom 5.12.2022, E. 1.2.
  • Donatsch/Heimgartner/Meyer/Simonek, S. 131.
  • Vgl. hierzu BSK-Fiolka, Art. 1 IRSG N. 24.
  • Vgl. bspw. Art. 28 und 76 IRSG, Art. 10 IRSV, Art. 25–28 GwÜ und Art. 14–16 EÜR.
  • Stellvertretend: BStGer RR.2021.25 vom 19.1.2022, E. 5.2.
  • Z.B. Art. 2–6 IRSG.
  • Stellvertretend: BStGer RR.2021.229 vom 24.2.2022, E. 5.2.
  • Vgl. hierzu BSK-Garré, Art. 35 IRSG N. 7.
  • BSK-Kuster, Art. 78 IRSG N. 3.
  • Vgl. Art. 12 Abs. 1 IRSG i.V.m. Art. 194 StPO.
  • Vgl. BStGer RR.2009.2 vom 9.7.2009, E. 3.4 – auch in Bezug auf die entsprechenden Grenzen.
  • Bspw. Wohnsitzabklärungen.
  • A.M. Zimmermann, N. 306; BSK-Kuster, Art. 80 IRSG N. 3.
  • Gemäss Rechtsprechung ist im Rechtshilfeverfahren Partei, wer persönlich und direkt von einer Rechtshilfemassnahme betroffen ist und ein schutzwürdiges Interesse an deren Aufhebung oder Änderung hat; BGer 1A.24/2004 vom 11.8.2004, E. 1.5; BStGer RR.2016.42 vom 15.7.2016, E. 3.2.
  • Botschaft betreffend die Änderung des Rechtshilfegesetzes und des Bundesgesetzes zum Staatsvertrag mit den USA über gegenseitige Rechtshilfe in Strafsachen sowie den Bundesbeschluss über einen Vorbehalt zum Europäischen Übereinkommen über die Rechtshilfe in Strafsachen vom 29.3.1995, BBl 1995 III 1 ff. 12; BSK-Kuster, Art. 80 IRSG N. 2.
  • Zu denken ist insbesondere an Hausdurchsuchungen, die sich als ungerechtfertigt erweisen, da die Rechtshilfevoraussetzungen – von Anfang an – nicht erfüllt waren.
  • Donatsch/Heimgartner/Meyer/Simonek, S. 131 f.
  • Stellt die ausländische Strafverfolgungsbehörde im Rahmen des gleichen Strafverfahrens in Bezug auf den identischen Sachverhaltskomplex weitere Rechtshilfeersuchen, so spricht man von ergänzenden Rechtshilfeersuchen.
  • Gemäss BStGer RR.2021.130-131 vom 17.11.2021, E. 4.5 kann in dieser Konstellation auf erneute Vorprüfung verzichtet werden.
  • Donatsch/Heimgartner/Meyer/Simonek, S. 132.
  • Vereinfachte Ausführung gemäss Art. 80c IRSG bzw. Schlussverfügung i.S.v. Art. 80d IRSG.
  • A.M. CR EIMP, Art. 80 N. 1; Zimmermann, N. 306.
  • Zumal die Möglichkeit der Rückfrage an den ersuchenden Staat sowohl im Rahmen der summarischen Prüfung nach Art. 78 Abs. 3 IRSG als auch später im Verfahren besteht (vgl. Art. 80p IRSG). Offenbar a.M.: BSK-Kuster, Art. 80 IRSG N. 4; CR EIMP, Art. 80 N. 4.
  • Zimmermann, N. 306.
  • BStGer RR.2016.60 vom 10.8.2016, E. 4.2.2.
  • Im Ergebnis Dangubic, 115 f.
  • So auch BSK-Kuster, Art. 80 IRSG N. 6; a.M. Zimmermann, N. 306.
  • Auch das BJ kann kein Rechtsmittel gegen eine negativ ausgefallene Vorprüfung einlegen. Es könnte jedoch das Ersuchen selbst ausführen oder einer anderen Behörde zum Vollzug weiterleiten bzw. delegieren.
  • Vgl. hierzu Dangubic, 112 ff.

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