Eine Kommentierung von Luka Markić
Herausgegeben von Andreas Glaser / Nadja Braun Binder / Corsin Bisaz / Bénédicte Tornay Schaller
3. Titel: Wahl des Nationalrats
1. Kapitel: Allgemeines
Art. 16 Verteilung der Sitze auf die Kantone
1 Für die Verteilung der Nationalratssitze auf die Kantone sind die Wohnbevölkerungszahlen massgebend, die sich aus den Registererhebungen ergeben, die im Rahmen der Volkszählung gemäss dem Volkszählungsgesetz vom 22. Juni 2007 im ersten auf die letzten Gesamterneuerungswahlen des Nationalrats folgenden Kalenderjahr durchgeführt werden.
2 Gestützt auf die verbindliche Feststellung der Wohnbevölkerungszahlen nach Artikel 13 des Volkszählungsgesetzes vom 22. Juni 2007 stellt der Bundesrat verbindlich fest, wie viele Sitze den einzelnen Kantonen in der folgenden Gesamterneuerungswahl des Nationalrats zukommen.
I. Entstehungsgeschichte
1 Die Sitze des Nationalrates werden seit der Gründung des modernen Bundesstaates im Verhältnis zu ihrer Wohnbevölkerung auf die Kantone verteilt.
2 Die Grundlage zur Verteilung der Sitze auf die Kantone bildete bis zu den Nationalratswahlen 2011 das Ergebnis der Zählung der Wohnbevölkerung (Volkszählung), die im Zehnjahresrhythmus durchgeführt wurde.
II. Rechtsvergleich
3 Sämtliche Kantone, welche für die Wahl ihres Parlaments Wahlkreise vorsehen, statuieren Regeln zur Berechnungsgrundlage der Sitzverteilung auf die jeweiligen Wahlkreise,
4 Eine Minderheit der Kantone sieht engere Berechnungsgrundlagen für die Sitzverteilung vor. In den Kantonen Uri
5 In den Kantonen Tessin
III. Bedeutung der Vorschrift und Norminhalt
6 Art. 16 und 17 BPR sind Ausführungsbestimmungen zu Art. 149 Abs. 4 BV. Diese Verfassungsbestimmung besagt, dass die 200 Sitze des Nationalrates nach der Bevölkerungszahl auf die Kantone verteilt werden, wobei jeder Kanton mindestens einen Sitz hat. Art. 16 BPR regelt die Berechnungsgrundlage und die Zuständigkeit für die Verteilung der Sitze auf die Kantone. Art. 17 BPR beschreibt das eigentliche Sitzzuteilungsverfahren.
A. Abs. 1: Berechnungsgrundlage der Sitzverteilung
7 Berechnungsgrundlage für die proportionale Verteilung der Sitze auf die Kantone ist die Wohnbevölkerungszahl und nicht die Zahl der Wahlberechtigten.
in der Schweiz gemeldeten Personen schweizerischer Staatsangehörigkeit;
ausländischen Staatsangehörigen ausserhalb des Asylprozesses mit einer Aufenthalts- oder Niederlassungsbewilligung für mindestens zwölf Monate oder Kurzaufenthaltsbewilligungen für eine kumulierte Aufenthaltsdauer von mindestens zwölf Monaten; und
Personen im Asylprozess mit einer Gesamtaufenthaltsdauer von mindestens zwölf Monaten.
8 In der Lehre wird argumentiert, dass es aus verfassungs- und demokratietheoretischen Gründen am besten ist, wenn für die Berechnungsgrundlage betreffend die Sitzverteilung auf die ständige Wohnbevölkerung abgestellt wird. Begründet wird dies damit, dass das Parlament als Organ nicht nur die Wahlberechtigten, sondern vielmehr die gesamte Bevölkerung repräsentiere.
9 Diese theoretische Diskussion betreffend der «besten» Berechnungsgrundlage für die Sitzverteilung ist für Staatswesen, die ihre Parlamente in einem einzigen Wahlkreis wählen und deswegen keine Sitzverteilung vornehmen müssen, irrelevant. Naturgemäss entgehen sie diesem «Widerstand der Gesichtspunkte»
B. Abs. 2: Zuständigkeit der Sitzverteilung
10 Art. 16 Abs. 2 BPR bestimmt, welche Behörde für die Verteilung der Nationalratssitze auf die Kantone zuständig ist und auf welcher Grundlage die zuständige Behörde die Verteilung zu vollziehen hat. Gemäss Art. 13 Satz 1 des Volkszählungsgesetzes
11 Zuletzt erliess der Bundesrat gestützt auf Art. 16 Abs. 2 BPR und den Bundesratsbeschluss über die Erwahrung der Zahlen der ständigen Wohnbevölkerung Ende 2020 vom 1. September 2021
IV. Exkurs: Rechtsschutz
12 Auf kantonaler Ebene führt die Verteilung der Parlamentssitze auf die Wahlkreise immer wieder zu Rechtsstreitigkeiten.
Ich danke Benjamin Böhler, Hilfsassistent am Zentrum für Demokratie Aarau, für die Mithilfe bei der Materialrecherche und die wertvollen Anmerkungen bei der Durchsicht des Textes.
Literaturverzeichnis
Auer Andreas, Staatsrecht der schweizerischen Kantone, Zürich 2016.
Biaggini Giovanni, Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Kommentar, 2. Aufl., Zürich 2017.
Bisaz Corsin, § 2 Wahlorgan, Wählbarkeit und Wahlkreise, in: Glaser Andreas (Hrsg.), Das Parlamentswahlrecht der Kantone, Zürich 2018.
Brunner Arthur/Zollinger Marco, Die richterliche Überprüfung von Rechtsverordnungen, in: LeGes 2021.
Giacometti Zaccaria, Das Staatsrecht der schweizerischen Kantone, Zürich 1941.
Hangartner Yvo/Kley Andreas, Die demokratischen Rechte in Bund und Kantonen der Schweizerischen Eidgenossenschaft, 1. Aufl., Zürich 2000.
Hangartner Yvo/Kley Andreas/Braun Binder Nadja/Glaser Andreas, Die demokratischen Rechte in Bund und Kantonen der Schweizerischen Eidgenossenschaft, 2. Aufl., Zürich 2023.
Markić Luka, Kommentierung zu Art. 17 BPR, in: Glaser Andreas/Braun Binder Nadja/Bisaz Corsin/Tornay Schaller Bénédicte (Hrsg.), Onlinekommentar zum Bundesgesetz über die politischen Rechte, https://onlinekommentar.ch/de/kommentare/bpr17, besucht am 15.6.2023.
Müller Boris, Wahlkreisprobleme, in: AJP 2014, S. 1307–1324.
Thurnherr Daniela, Kommentierung zu Art. 149 BV, in: Waldmann Bernhard/Besler Eva Maria/Epiney Astrid (Hrsg.), Basler Kommentar, Bundesverfassung, Basel 2015.
Weber Anina, Vom Proporzglück zur Proporzgenauigkeit, Zur Verfassungskonformität der geltenden Sitz- und Mandatsverteilungsverfahren im Bund, AJP 2010, S. 1373–1380 (zit. Weber, Proporzglück).
Weber Anina, Schweizerisches Wahlrecht und die Garantie der politischen Rechte, Eine Untersuchung ausgewählter praktischer Probleme mit Schwerpunkt Proporzwahlen und ihre Vereinbarkeit mit der Bundesverfassung, Zürich 2016 (zit. Weber, Wahlrecht).
Fussnoten
- Vgl. Art. 61 Abs. 1 BV 1848, Art. 72 Abs. 1 BV 1874 i.d.F. vom 29.5.1874 und Art. 149 Abs. 4 BV.
- Zur heutigen Berechnungsgrundlage siehe N. 10 hiernach.
- Einen guten Überblick über sämtliche Reformversuche bietet Weber, Wahlrecht, Rz. 323–334 m.w.H.u.Verw.
- Weber, Wahlrecht, Rz. 323–334 m.w.H.u.Verw.
- Bericht vom 20.11.1903 an die Bundesversammlung betreffend das Ergebnis der eidgenössischen Volksabstimmung vom 25.10.1903, BBl 1903 V S. 76. Die Initiative wurde mit 75.6 % der Stimmen abgelehnt; bloss drei Kantone und zwei Halbkantone stimmten der Initiative zu.
- Weber, Wahlrecht, Rz. 290; siehe auch Botschaft zur Teilrevision des Bundesgesetzes über die eidgenössische Volkszählung vom 29.11.2006, BBl 2007 S. 53.
- Bundesgesetz über die eidgenössische Volkszählung vom 22.6.2007 (Volkszählungsgesetz; SR 431.112).
- Botschaft zur Totalrevision des Bundesgesetzes über die eidgenössische Volkszählung vom 29.11.2006, BBl 2006 S. 53, insb. S. 114.
- Vgl. Hangartner/Kley/Braun Binder/Glaser, Rz. 612; Weber, Wahlrecht, Rz. 290.
- Vgl. Verordnung über die Sitzzuteilung bei der Gesamterneuerung des Nationalrates vom 28.8.2013 (AS 2013 2797).
- Zu den kantonalen Berechnungsgrundlagen der Sitzverteilung auf die jeweiligen Wahlkreise siehe insb. Auer, Rz. 149; Bisaz, Rz. 47; Weber, Wahlrecht, Rz. 298.
- BGE 145 I 259 E. 6.2.
- § 88 Abs. 1 des Gesetzes des Kantons Zürich vom 1.9.2003 über die politischen Rechte (GPR/ZH; LS 161).
- Art. 64 Abs. 1 lit. b des Gesetzes des Kantons Bern vom 5.6.2012 über die politischen Rechte (PRG/BE; BSG 141.1).
- § 95 Abs. 3 des Stimmrechtsgesetzes des Kantons Luzern vom 25.10.1988 (StRG/LU; SRL 10).
- § 2 Abs. 1 lit. a Ziff. 1 des Kantonsratswahlgesetzes des Kantons Schwyz vom 17.12.2014 (KRWG/SZ; SRSZ 120.200).
- Art. 1 Abs. 1 lit. a des Gesetzes des Kantons Obwalden vom 26.2.1984 über die Wahl des Kantonsrates (PG/OW; GDB 122.2).
- Art. 58 Abs. 2 KV/NW.
- Art. 41 Abs. 3 des Gesetzes des Kantons Glarus vom 7.5.2017 über die politischen Rechte (GPR/GL; GS I D/22/2).
- § 38 Abs. 3 KV/ZG.
- Art. 63 Abs. 1 lit. a des Gesetzes des Kantons Freiburg vom 6.4.2001 über die politischen Rechte (PRG/FR; SGF 115.1).
- § 29bis Abs. 1 des Gesetzes des Kantons Solothurn vom 22.9.1996 über die politischen Rechte (GpR/SO; BGS 113.111).
- § 42 Abs. 3 des Gesetzes des Kantons Basel-Stadt vom 21.4.1994 über Wahlen und Abstimmungen (Wahlgesetz/BS; SG 132.100).
- Art. 25 Abs. 3 Satz 2 KV/SH.
- Art. 46 Abs. 2 des Gesetzes des Kantons Appenzell Ausserrhoden vom 24.4.1988 über die politischen Rechte (bGS 131.12).
- Art. 22 Abs. 3 KV/AI.
- Art. 31 Abs. 2 des Gesetzes des Kantons St. Gallen vom 5.12.2018 über Wahlen und Abstimmungen (WAG/SG; sGS 125.3).
- § 2 Abs. 2 des Gesetzes des Kantons Aargau vom 8.3.1988 über die Wahl des Grossen Rates (Grossratswahlgesetz/AG; SAR 152.100).
- § 47 des Gesetzes des Kantons Thurgau vom 12.2.2014 über das Stimm- und Wahlrecht (StWG/TG; RB 161.1).
- Art. 93 Abs. 3 Satz 3 KV/VD.
- Art. 31 lit. b der Loi du Canton du Jura du 26.10.1978 sur les droits politiques (LDP/JU; RSJU 161.1).
- Art. 88 Abs. 2 lit. a KV/UR.
- Art. 3 des Gesetzes des Kantons Graubünden vom 16.2.2021 über die Wahl des Grossen Rates (GRWG/GR; BR 150.400).
- Art. 84 Abs. 3 KV/VS.
- § 49 Abs. 1 des Gesetzes des Kantons Basel-Landschaft vom 7.9.1981 über die politischen Rechte (GpR/BL; SGS 120)
- Art. 68 der Legge del Cantone Ticino del 19.11.2018 sull’esercizio dei diritti politici (LEDP/TI; RL 150.100).
- Art. 52 Abs. 2 Satz 2 KV/NE.
- Art. 54 Abs. 1 KV/GE.
- Zum Verfahren siehe Art. 69 LEDP/TI.
- Art. 52 Abs. 2 Satz 3 KV/NE.
- Zum Verfahren siehe Art. 44b und 44c der Loi du Canton de Neuchâtel du 17.10.1984 sur les droits politiques (LDP/NE; RSN 141).
- Siehe zum Ganzen OK-Markić, Art. 17 BPR.
- Botschaft über eine neue Bundesverfassung vom 20.11.1996, BBl 1996 I S. 1, hier S. 378.
- Verordnung über die eidgenössische Volkszählung vom 19.12.2008 (Volkszählungsverordnung; SR 431.112.1).
- Hangartner/Kley/Braun Binder/Glaser, Rz. 1357; Weber, Wahlrecht, Rz. 291; vgl. Bisaz, Rz. 47; kritisch hierzu BSK-Thurnherr, Art. 149 BV N. 25.
- Giacometti, S. 293; kritisch hierzu Hangartner/Kley/Braun Binder/Glaser, Rz. 1357.
- Giacometti, S. 293.
- Hangartner/Kley/Braun Binder/Glaser, Rz. 1357; Weber, Wahlrecht, Rz. 291–293.
- BGE 145 I 259 E. 6.3; BGE 99 Ia 658 E. 6b. Siehe zur verfassungs- und demokratietheoretischen Diskussion insb. Weber, Wahlrecht, Rz. 291–293 m.w.H.u.Verw.
- Hangartner/Kley/Braun Binder/Glaser, Rz. 1357.
- Vgl. Müller, S. 1324.
- Bundesgesetz über die eidgenössische Volkszählung vom 22.6.2007 (Volkszählungsgesetz; SR 431.112).
- Vgl. Hangartner/Kley/Braun Binder/Glaser, Rz. 612.
- BBl 2021 S. 2025.
- Verordnung über die Sitzverteilung bei der Gesamterneuerung des Nationalrates vom 1.9.2021 (SR 161.13).
- Statt vieler BGE 145 I 259.
- Gemäss Art. 7a Satz 1 VPR erlässt die Kantonsregierung die zur Anordnung und Durchführung der Nationalratswahlen notwendige Verfügungen. Im Rahmen dieser Beschlüsse (auch Dekrete genannt) werden die Anzahl zu wählenden Nationalrätinnen und Nationalräte erwähnt. Diese Beschlüsse unterstehen der Wahlbeschwerde gemäss Art. 77 lit. c BPR.
- Zur inzidenten Kontrolle von Rechtsverordnungen siehe Brunner/Zollinger, Rz. 12 f.
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