Eine Kommentierung von Stefan Wyler
Herausgegeben von Andreas Glaser / Nadja Braun Binder / Bénédicte Tornay Schaller / Corsin Bisaz
2. Kapitel: Verhältniswahl
1. Abschnitt: Vorschlag
Art. 21 Wahlanmeldeschluss
1 Das kantonale Recht bestimmt einen Montag im August des Wahljahres als letzten Termin für den Wahlanmeldeschluss; es legt fest, bei welcher Behörde die Wahlvorschläge einzureichen sind.
2 Die Wahlvorschläge müssen spätestens am Tage des Wahlanmeldeschlusses beim Kanton eintreffen.
3 Die Kantone teilen der Bundeskanzlei jeden Wahlvorschlag unverzüglich mit.
I. Entstehungsgeschichte
1 Der Anmeldeschluss für die Wahlvorschläge bzw. das Zeitfenster hierfür ist über die Jahre hinweg in mehreren Schritten vorverlegt worden. Grund dafür ist die anhaltende Zunahme der Zahl der Listen und Kandidierenden
2 Im Bundesgesetz vom 14. Februar 1919 betreffend die Wahl des Nationalrates war der Anmeldeschluss ursprünglich auf den 20. Tag (drittletzter Montag) vor dem Wahltag festgelegt worden.
II. Bedeutung der Vorschrift
A. Allgemeines
3 Das zweite Kapitel des BPR enthält die Vorschriften zur Verhältniswahl, wie sie für die 20 Kantone gelten, die mehr als einen Nationalratssitz zu besetzen haben
B. Rechtsvergleich
4 Auch die Kantone kennen für die im Proporz durchgeführten Parlamentswahlen ein Wahlvorschlagsverfahren (Anmeldeverfahren) und einen verbindlichen Anmeldeschluss.
5 Zu den unterschiedlichen Ausgestaltungen des Wahlanmeldeschlusses in den Kantonen bei den Nationalratswahlen siehe die nachstehenden Ausführungen.
III. Wahlanmeldeschluss
A. Festlegung im kantonalen Recht (Abs. 1)
6 Der letztmögliche Termin für die Einreichung der Wahlvorschläge ist ein «Montag im August des Wahljahres». Im Rahmen dieser Vorgabe legen die Kantone ihren Wahlanmeldeschluss fest.
7 Jeder Kanton muss gemäss Artikel 8a Absatz 1 VPR der Bundeskanzlei bis zum 1. März des Wahljahres mitteilen, welchen Montag er als Termin für den Wahlanmeldeschluss bestimmt hat (und ob er die Bereinigungsfrist auf sieben oder auf vierzehn Tage festgelegt hat, vgl. Art. 29 Abs. 4 BPR).
8 Bei den Nationalratswahlen 2023 wählten sechs Kantone den erstmöglichen Termin (7. August 2023; elftletzter Montag bzw. 76. Tag vor dem Wahltag: ZH, BE, GR, AG, TI, GE).
9 Einzelne Kantone kennen auch einen Beginn der Einreichefrist für die Wahlvorschläge, so beispielsweise die Kantone St. Gallen oder Thurgau, wo der Regierungsrat diesen Zeitpunkt festlegt.
10 Dem kantonalen Recht obliegt es, festzulegen, bei welcher Behörde die Wahlvorschläge einzureichen sind (Art. 21 Abs. 1 BPR, zweiter Satz). Gemäss Artikel 7a VPR ist es die Kantonsregierung, welche die Amtsstelle bezeichnet, die das Wahlgeschäft leitet und beaufsichtigt und die Wahlvorschläge entgegennimmt («kantonales Wahlbüro»). Die Kantone haben die zuständige Behörde teils per Gesetz, teils mittels Verordnung oder Regierungsbeschlüssen bestimmt.
11 Gemäss den traditionellen Kreisschreiben des Bundesrates an die Kantonsregierungen zu den Nationalratswahlen, die jeweils rund ein Jahr vor dem Wahltag erlassen werden, haben die Regierungen die Stimmberechtigten rechtzeitig zur Einreichung der Wahlvorschläge aufzufordern. Sie machen sie auf die Einreichefristen und die inhaltlichen Anforderungen an die Wahlvorschläge gemäss Artikel 21 ff. BPR aufmerksam.
B. Spätester Zeitpunkt (Abs. 2)
12 Die Wahlvorschläge müssen spätestens am Tag des Wahlanmeldeschlusses (gemäss Absatz 1) beim Kanton «eintreffen». Der Gesetzestext spricht von «eintreffen», nicht von «einreichen». Das heisst, dass die Wahlvorschläge fristgerecht am Stichtag bei der Wahlbehörde eingehen müssen. Die rechtzeitige Postaufgabe wahrt die Frist nicht – anders als etwa in Verwaltungsbeschwerde- und Justizverfahren üblich. Der Bundesrat hält dies in seinen Kreisschreiben zu den Nationalratswahlen jeweils explizit fest
13 Die Kantone legen unterschiedliche Uhrzeiten für die rechtzeitige Einreichung am Stichtag fest. Bei den Nationalratswahlen 2023 wurden die folgenden Uhrzeiten als Zeitpunkt für die letztmögliche Eingabe der Wahlvorschläge bestimmt: 9 Uhr: BS; 12 Uhr: BE, LU, FR, BL, GR, AG, VD, VS, GE, JU; 16.30 Uhr: SZ, TG; 17 Uhr: ZH, ZG, SO, SH, SG, NE; 18 Uhr: TI. All diese Zeitpunkte werden als zulässig erachtet. Eine Anmeldeschlusszeit von 12 Uhr kennt das BPR selber für Kantone, die bei einer Mehrheitswahl die Möglichkeit der stillen Wahl vorsehen (Art. 47 Abs. 2 BPR).
14 Die Einreichefrist ist eine Verwirkungsfrist, keine Ordnungsvorschrift. Ein verspätet eingereichter Wahlvorschlag ist ungültig. Diese Rechtsfolge ergibt sich implizit aus dem Wortlaut von Artikel 21 Absatz 2 BPR («müssen spätestens (…) eintreffen»). In den kantonalen Wahlanordnungen zu den Nationalratswahlen wird sie mitunter explizit festgehalten.
15 Rechtzeitig eingegangene, aber mangelhafte Wahlvorschläge können innerhalb der Bereinigungsfrist korrigiert werden (siehe dazu die Ausführungen in OK-Wyler, Art. 29 BPR).
16 Mittlerweile können die Wahlvorschläge in vielen Kantonen durch die Parteien direkt in der kantonalen Wahlsoftware erfasst und die ausgefüllten Wahlvorschlagsformulare anschliessend ausgedruckt werden. Zusätzlich besteht die Möglichkeit, die Wahlvorschlagsformulare von der Homepage des Kantons herunterzuladen und manuell auszufüllen. Zur rechtsgültigen Einreichung müssen die Wahlvorschlagsformulare fristgerecht in Papierform und mit allen notwendigen Unterschriften versehen der zuständigen Behörde zugestellt werden.
C. Mitteilung an die Bundeskanzlei (Abs. 3)
17 Die Kantone haben der Bundeskanzlei die eingetroffenen Wahlvorschläge unverzüglich mitzuteilen. «Unverzüglich» heisst, laut Kreisschreiben des Bundesrates, «unverzüglich nach dem Wahlanmeldeschluss in elektronischer Form» und gemäss den technischen Anforderungen der Bundeskanzlei.
Literaturverzeichnis
Hangartner Yvo/Kley Andreas/Braun Binder Nadja/Glaser Andreas, Die demokratischen Rechte in Bund und Kantonen der Schweizerischen Eidgenossenschaft, 2. Aufl., Zürich 2023.
Tschannen Pierre, Staatsrecht der Schweizerischen Eidgenossenschaft, 5. Aufl., Bern 2021.
Materialienverzeichnis
Beschluss 31/2019 und Dekret des Regierungsrates des Kantons Schwyz vom 15.1.2019 für die National- und Ständeratswahlen vom 20.10.2019.
Beschluss 473 des Regierungsrates des Kantons Thurgau vom 23.8.2022 betreffend Anordnung der Durchführung und Festsetzung der Termine für die eidgenössischen Wahlen 2023 und die kantonalen Erneuerungswahlen 2024.
Beschluss 314/2023 des Regierungsrates des Kantons Bern vom 22.3.2023 über die Durchführung der Nationalratswahlen vom 22.10.2023.
Beschluss 426/2023 des Regierungsrates des Kantons Zürich vom 5.4.2023 über die Erneuerungswahl der zürcherischen Mitglieder des schweizerischen Nationalrates für die Amtsdauer 2023–2027.
Botschaft des Bundesrates über eine Teiländerung der Bundesgesetzgebung über die politischen Rechte vom 1.9.1993 (BBl 1993 III 445).
Botschaft des Bundesrates zur Änderung des Bundesgesetzes über die politischen Rechte vom 29.11.2013 (BBl 2013 9217).
Dekret des Regierungsrates des Kantons Schwyz vom 24.1.2023 für die Nationalratswahlen vom 22.10.2023.
Elections fédérales du 22 octobre 2023. 1) Election des 19 membres vaudois du Conseil national 2) Election des 2 membres vaudois du Conseil des Etats. Décision de convocation du Conseil d’Etat du canton de Vaud du 26 mai 2023.
Information der Staatskanzlei des Kantons St. Gallen vom 21.11.2022 zur Erneuerungswahl der st. gallischen Mitglieder des Nationalrates (zit. Wahlinformation SG 21.11.2022).
Information der Staatskanzlei des Kantons Aargau vom 23.3.2023 zu den Nationalratswahlen 2023: Anleitung zum Wahlvorschlag.
Kreisschreiben des Bundesrates an die Kantonsregierungen vom 19.10.2022 über die Gesamterneuerungswahl des Nationalrates vom 22.10.2023, (BBl 2022 2547) (zit. Kreisschreiben BR NRW 2023, Ziff. …).
Fussnoten
- Nationalratswahlen 1971 (ohne Majorzkantone): 151 Listen, 1689 Kandidierende; 1995: 278 Listen, 2834 Kandidierende; 2023: 618 Listen, 5909 Kandidierende – Informationen gemäss Bundesamt für Statistik: Nationalratswahlen: Eingereichte Listen nach Parteien 1971–2023: https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/kataloge-datenbanken/tabellen.assetdetail.27546277.html, Nationalratswahlen: Kandidierende nach Parteien 1971–2023: https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/kataloge-datenbanken/tabellen.assetdetail.27546316.html, beide besucht am 22.3.2024.
- BBl 1919 I S. 262.
- BBl 1946 III S. 109.
- SR 163.2, AS 1975 601; BBl 1974 I S. 1805.
- AS 1994 2414; BBl 1993 III S. 445.
- AS 2015 543; BBl 2013 S. 9217.
- Die Bestimmungen zur Mehrheitswahl (für die sechs Majorzkantone UR, OW, NW, GL, AR, AI) finden sich im 3. Kapitel in den Artikeln 47 ff.
- Tschannen, Rz. 1149.
- Hangartner/Kley/Braun Binder/Glaser, Rz. 650. Anders, wenn auch sehr offen formuliert die Regelung für die Zürcher Kantonsratswahlen: «Geht der Wahlvorschlag von einer politischen Partei oder einer andern gesellschaftlichen Gruppierung aus, so wird er in dieser Gruppierung in einem demokratischen Verfahren festgelegt.», siehe § 89 Abs. 4 Gesetz des Kantons Zürich vom 1.9.2003 über die politischen Rechte (GPR/ZH, SG 161).
- Hangartner/Kley/Braun Binder/Glaser, Rz. 1390 ff. Siehe z. B. § 90 Abs. 3 GPR/ZH; Art. 68 Abs. 1 Gesetz des Kantons Bern vom 5.6.2012 über die politischen Rechte (PRG/BE, SG 141.1); Art. 59 Abs. 1 Loi du canton de Vaud du 5.10.2021 sur l’exercice des droits politiques (LEDP/VD, SG 160.01); Art. 32 Abs. 1 Gesetz des Kantons St. Gallen vom 5.12.2018 über Wahlen und Abstimmungen (WAG/SG, SG 125.3); Art. 64 Abs. 1 Gesetz des Kantons Freiburg vom 6.4.2001 über die Ausübung der politischen Rechte (PRG/FR, SG 115.1); Art. 6 Abs. 2 Gesetz des Kantons Obwalden vom 26.2.1984 über die Wahl des Kantonsrats (PG/OW, SG 122.2).
- Vgl. Übersicht der Bundeskanzlei: Kantonale Fristen zur Einreichung von Wahlvorschlägen und zur Listenbereinigung. https://www.bk.admin.ch Startseite > Politische Rechte > Nationalratswahlen > Nationalratswahlen 2023, besucht am 2.4.2024.
- Art. 32 Abs. 2 WAG/SG, Art. 7 f. Verordnung des Kantons Thurgau vom 12.2.2014 zum Gesetz über das Stimm- und Wahlrecht (StWV/TG, SG 161.11).
- Information der Staatskanzlei SG vom 24.1.2022, Ziffer 1.
- Regierungsratsbeschluss TG 473 vom 23.8.2022, Ziffer 5.
- Décision de convocation Conseil d’Etat VD 26.5.2023, Art. 8.
- Beispiele für gesetzliche Regelungen: Art. 61 Abs. 1 PRG/BE; Art. 32 Abs. 1 WAG/SG oder §63 Abs. 1 StWG/TG.
- Kreisschreiben BR/NRW 2023, Ziffer 7.4.
- Kreisschreiben BR/NRW 2023, Ziffer 7.4.1.
- Z. B. Regierungsratsbeschluss ZH 426/2023, Ziffer V; Regierungsratsbeschluss BE 314/2023, Ziffern 2.5 und 6; Wahlinformation SG 21.11.2022, Ziffer 2; Anleitung zum Wahlvorschlag AG 23.3.2023, Ziffer 3; Dekret Regierungsrat SZ 24.1.2023, Ziffer 3.1; Décision de convocation Conseil d’Etat VD 26.5.2023, Art. 8.
- Siehe hierzu auch BGE 139 II 303, E 7.2.
- Z. B. Regierungsratsbeschluss BE 314/2023, Ziffer 2.5.2; Beschluss Regierungsrat SZ 31/2019, Ziffer 1.2.
- Tschannen, Rz. 1839.
- So zum Fall einer kantonalen Majorzwahl das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 29.1.2010 (Verwaltungsgericht BE 100.2010.28U, E 3.3.); ähnlich, betreffend eine Kantonsratswahl, der Entscheid des Obwaldner Regierungsrats vom 2.2.2006 (VVGE 2005/06 Nr. 7. S. 21, E.4) und zu einer Gemeindewahl ein Entscheid des Luzerner Justiz- und Sicherheitsdepartements vom 7.2.2020, LGVE 2020 VI Nr. 1, E. 6.2). Siehe in Bezug auf kantonale Wahlen auch Hangartner/Kley/Braun Binder/Glaser Rz. 1393.
- Kreisschreiben BR NRW 2023, Ziffer 7.7.1.
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