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Kommentierung zu
Art. 35 DSG

Eine Kommentierung von Sandra Husi-Stämpfli

Herausgegeben von Thomas Steiner / Anne-Sophie Morand / Daniel Hürlimann

defriten

In Kürze

Die Bestimmung zur Durchführung von Pilotversuchen erlaubt es, besonders schützenswerte Personendaten zu bearbeiten, auch wenn noch keine formell-gesetzlichen Grundlagen bestehen. Ziel der Bestimmung ist, zeitlich beschränkt experimentelle Datenbearbeitungen zu ermöglichen, wenn diese unentbehrlich sind, um bestimmte technische Neuerungen, organisatorische Fragestellungen oder weitere Unklarheiten zu adressieren.

I. Allgemeines

A. Hintergrund

1 Der Bedarf nach leistungsfähigen Anwendungen nicht nur in den sogenannten «e-Bereichen», d.h. im eGovernment oder im eHealth, sondern ganz allgemein im Rahmen der behördlichen Aufgabenerfüllung wächst mit der Digitalisierung unserer Lebens- und Tätigkeitsbereiche.

2 Da Digitalisierungsprojekte in der Regel hohe Investitionskosten mit sich bringen, aber gleichzeitig oftmals nicht abgeschätzt werden kann, ob sich die fraglichen Anwendungen technisch so umsetzen lassen, wie erhofft, müssen Möglichkeiten eingeräumt werden, die Konzeption und insbesondere die Vernetzung von Anwendungen im Rahmen von Pilotversuchen evaluieren zu können. Pilotversuche sind dabei als Tests zu verstehen, mit denen Erkenntnisse über die Durchführbarkeit oder Akzeptanz eines Vorhabens gewonnen werden sollen.

B. Normzweck

3 Pilotversuche dürfen nicht dazu führen, dass die rechtsstaatlichen Grundsätze ausgehebelt werden. Auch wenn aufgrund der experimentellen Natur

der Datenbearbeitung und der Komplexität des Gesetzgebungsprozesses zum Zeitpunkt des Pilotprojekts noch nicht auf die von der Verfassung vorgesehenen Rechtsgrundlagen (mit angemessener Normstufe und Normdichte) zurückgegriffen werden kann, so müssen gleichwohl minimale rechtliche Vorgaben beachtet werden.

4 Art. 35 DSG erlaubt es dem Bundesrat daher, Pilotversuche zeitlich befristet, gestützt auf lediglich eine Verordnung (und eben nicht auf ein Gesetz im formellen Sinn, wie dies für besonders schützenswerte Personendaten erforderlich wäre, Art. 34 Abs. 2 DSG) durchführen zu lassen.

C. Entstehungsgeschichte

5 Bereits im Jahr 1999

wurde die Motion «Erhöhter Schutz für Personendaten bei Online-Verbindungen» eingereicht. Sie bildete den Grundstein für den späteren Art. 17a aDSG und die Regelung von Datenbearbeitungen im Rahmen von Pilotversuchen, bei denen die Persönlichkeitsrechte der betroffenen Personen besonders gefährdet sein könnten. Art. 35 DSG wurde inhaltlich weitestgehend unverändert und in der parlamentarischen Beratung unbestritten in das neue Datenschutzgesetz übernommen.

II. Voraussetzungen für einen zulässigen Pilotversuch (Abs. 1)

6 Besonders schützenswerte Personendaten oder andere Datenbearbeitungen nach Art. 34 Abs. 2 lit. b und c DSG dürfen nur dann im Rahmen eines Pilotversuchs und in Ausnahme vom Erfordernis der gesetzlichen Grundlage bearbeitet werden, wenn folgende Voraussetzungen kumulativ erfüllt sind:

A. Aufgabennorm in einem Gesetz im formellen Sinne (lit. a)

7 Die Aufgaben, zu deren Erfüllung das Pilotprojekt mit der automatisierten Bearbeitung der besonders schützenswerten Personendaten erforderlich sein soll, müssen bereits zum Zeitpunkt des Pilotprojekts in einem Gesetz im formellen Sinne

geregelt sein (siehe dazu OK-Zysset zu Art. 34 DSG), das Gesetz muss zudem bereits in Kraft stehen.

8 Dabei genügt es nicht, dass die formell-gesetzliche Grundlage lediglich die Bearbeitung erforderlich machenden Aufgaben regelt

. Das Erfordernis der Normdichte muss, wenn schon nicht für das Pilotprojekt selbst, so zumindest für die dem Projekt zugrundeliegenden Aufgaben, erfüllt sein. Die gesetzliche Grundlage muss damit das Organ, welches Zugang zu den Daten hat, den konkreten Zweck des Zugangs sowie den Umfang der Zugangsberechtigung umschreiben
.

B. Begrenzung von Persönlichkeitsverletzungen auf ein Mindestmass (lit. b)

9 Um die Risiken, die das Pilotprojekt für die betroffenen Personen mit sich bringt, zu minimieren, müssen organisatorische, technische und rechtliche Massnahmen insbesondere zur Sicherstellung der Datensicherheit getroffen werden

. Die Schutzmassnahmen müssen die möglicherweise drohenden Persönlichkeitsverletzungen auf ein Mindestmass reduzieren. Die neue Formulierung von Art. 35 Abs. 1 lit. b DSG wird damit dem Umstand gerecht, dass das Risiko von Persönlichkeitsverletzungen im Rahmen von digitalisierten Datenbearbeitungen de facto niemals gänzlich ausgeschlossen werden kann.

C. Unentbehrlichkeit der Testphase (lit. c)

10 Pilotprojekte zur Bearbeitung besonders schützenswerter Personendaten und die damit verbundene Relativierung des Legalitätsprinzips dürfen nicht leichthin veranlasst werden: Art. 35 Abs. 1 lit. c DSG setzt voraus, dass die Testphase insbesondere aus technischen Gründen unentbehrlich ist. Gleichzeitig gesteht der Gesetzgeber aber zu, dass es durchaus auch andere, bspw. organisatorische, Gründe geben kann, die einen Pilotversuch zur Bearbeitung von besonders schützenswerten Personendaten erforderlich machen («insbesondere»)

.

11 Denkbar sind auch Kombinationen von technischen und organisatorischen Rahmenbedingungen, die für sich allein zwar keinen Rückgriff auf Art. 35 DSG rechtfertigen würden, aber gemeinsam eben doch einen Pilotversuch erforderlich machen, gerade wenn es bspw. darum geht, über die föderalen Ebenen hinweg Informationssysteme auszutesten und Schnittstellen zu prüfen. Und schliesslich hat die Covid-Pandemie gezeigt, dass es auch nicht antizipierte Gründe geben kann, einen Pilotversuch durchzuführen: Die Swiss Covid-App wurde gestützt auf den damaligen Art. 17a aDSG (i.V.m. Art. 78 Abs. 1 EpG) während einer einmonatigen Versuchsphase betrieben, um die «neu entwickelten Lösungsansätze hinsichtlich der Dezentralität der Datenbearbeitung und der kryptografischen Methoden, (der) Stabilität des Betriebs, (der) Absicherung gegen unbeabsichtigte oder unbefugte Manipulationen, (der) Nutzerfreundlichkeit (sowie der) Verständlichkeit der Informationen für die Teilnehmenden und für die zugriffsberechtigten Fachpersonen»

zu testen. Die Pilotphase dauerte in diesem Fall und aufgrund der Dringlichkeit der Situation lediglich vom 14. Mai 2020 bis zum 25. Juni 2020, danach wurde das App in den regulären Betrieb übernommen
.

III. Regelung des Pilotprojekts in einer Verordnung

12 Auch wenn Art. 35 DSG im Gegensatz zur Vorgängerbestimmung Art. 17a Abs. 3 aDSG nicht mehr explizit vorsieht, dass der Bundesrat das Pilotprojekt präzise im Rahmen einer Verordnung regeln muss, bleibt diese Pflicht nicht nur gem. Art. 33 Abs. 2 lit. e DSV (Pflicht des zuständigen Bundesorgans, den EDÖB im Rahmen des Bewilligungsverfahrens zu konsultieren und ihm einen Verordnungsentwurf vorzulegen) weiterhin bestehen: Sie ergibt sich aus dem in Art. 5 Abs. 1 BV verankerten Legalitätsprinzip, woraus sich ableiten lässt, dass ein Mindestmass an rechtsstaatlicher Kontrolle auch während eines Pilotprojekts gewahrt werden muss, bzw. dass schwerwiegende Grundrechtseingriffe selbst bei Pilotprojekten mindestens einer Rechtsgrundlage auf Verordnungsstufe bedürfen.

13 Die Verordnung muss all jene Regeln enthalten, die (ausserhalb eines Pilotversuches) auf Gesetzes- und Verordnungsebene zu treffen wären. Wichtig – insbesondere auch im Hinblick auf die zwingend durchzuführende Evaluation (N. 16) – ist, dass vorweg möglichst präzise festgelegt wird, was genau ausgetestet werden soll.

IV. Pflicht zur Einholung der Stellungnahme des EDÖB (Abs. 2)

14 Das Pilotprojekt muss dem EDÖB zur Stellungnahme vorgelegt werden. Mit dieser Regelung wird ein wesentlicher Kontroll-Mechanismus etabliert, der dem Umstand Rechnung trägt, dass in Pilotprojekten vom verfassungsmässigen Grundsatz der Normstufe abgewichen werden darf. Der EDÖB ist als Element der «Checks and Balances» zumindest für die Plausibilisierungsprüfung des Pilotprojekts, die Kontrolle der getroffenen Schutzmechanismen, die Prüfung der Verordnung sowie regelmässige Evaluationen verantwortlich. Dafür sind dem EDÖB gemäss Art. 33 Abs. 2 und 3 DSV ausführliche Informationen insbesondere zum Pilotprojekt an und für sich, den organisatorischen und technischen (Sicherheits-)Massnahmen, ein Entwurf oder zumindest ein Konzept für die Verordnung, die den Pilotversuch regeln soll, sowie eine Projektplanung vorzulegen.

15 Auch wenn der EDÖB keine bindende Stellungnahme abgeben kann, so ist davon auszugehen, dass der Bundesrat in der Regel der Beurteilung des EDÖB Folge leisten wird

.

V. Evaluation und Befristung der Pilotphase (Abs. 3 und 4)

16 Spätestens innert zwei Jahren nach Inbetriebnahme muss das Pilotprojekt evaluiert werden (Art. 35 Abs. 3 DSG). Das für den Pilotversuch verantwortliche Organ muss dem Bundesrat im Evaluationsbericht darlegen, ob das Projekt allenfalls bereits in ein reguläres Angebot überführt werden kann, ob der Pilotversuch weitergeführt (beachte aber die maximale Befristung von fünf Jahren, N. 17) oder ob das Projekt abgebrochen werden soll.

17 Insgesamt darf die Pilotphase maximal fünf Jahre dauern (Art. 35 Abs. 4 DSG). Diese Frist ist nicht erstreckbar, und zwar auch dann nicht, wenn der Pilotversuch in ein reguläres Angebot überführt werden soll, aber noch keine gesetzlichen Grundlagen ausgearbeitet wurden – der «reguläre» Betrieb gestützt auf einen blossen Entwurf ist aus rechtstaatlichen Gründen nicht zulässig.

VI. Würdigung

18 Obschon Art. 17a aDSG bislang nur ausgesprochen selten zur Anwendung gelangt ist und der Bundesrat beteuert, dass er von Art. 35 DSG nur ausnahmsweise Gebrauch machen werde

, ist durchaus anzunehmen, dass mit der digitalen Transformation des Verwaltungswesens auch häufiger auf die Pilotversuchsbestimmung zurückgegriffen werden wird. Das mag durchaus im Sinne der digitalen Weiterentwicklung der Bundesverwaltung sein, gleichwohl darf nicht ausser Acht gelassen werden, dass die Anwendung von Art. 17a aDSG bzw. Art. 35 DSG immer mit einer Aushöhlung des Legalitätsprinzips einhergeht. Ein allzu grosszügiger Rückgriff auf Art. 35 DSG, ohne dass bspw. eine Aufgabennorm im formellen Sinn besteht oder die Unentbehrlichkeit der Testphase seriös überprüft wurde, ist daher zu vermeiden. Immerhin ist auch nicht von der Hand zu weisen, dass mit den Pilotprojekten jeweils hohe Investitionskosten einhergehen – der Entscheid, ein System nach Ablauf der Testphase doch nicht weiter zu betreiben, dürfte daher nicht nur schwer, sondern auch selten fallen
.

Die Autorin gibt in dieser Kommentierung ihre persönliche Einschätzung wieder.

Literaturverzeichnis

Husi-Stämpfli Sandra, Kommentierung zu Art. 35, in: Baeriswyl Bruno/Pärli Kurt/Blonski Dominika (Hrsg.), Datenschutzgesetz, Stämpflis Handkommentar, 2. Aufl., Bern 2023.

Huber René, die Teilrevision des Eidg. Datenschutzgesetzes, ungenügende Pinselrenovation, in: recht 2006, S. 205.

Schäfer Marc Frédéric, Kommentierung zu Art. 17a DSG, in: Maurer-Lambrou Urs/Blechta Gabor-Paul (Hrsg.), Datenschutzgesetz / Öffentlichkeitsgesetz, Basler Kommentar, 3. Aufl., Basel 2014.

Oberlin Jutta Sonja/Kessler Rainer, Daten: Die Schlüsselrolle im Kampf gegen die Coronavirus-Pandemie?, in: jusletter 16.11.2020.

Rosenthal David/Jöhri Yvonne, Handkommentar zum Datenschutzgesetz sowie weiteren, ausgewählten Bestimmungen, Zürich 2008.

Vokinger Kerstin Noëlle, Die digitale Bekämpfung von Covid-19 und die Rolle des Bundes(rates), SJZ 116/2020, S. 412.

Fussnoten

  • Botschaft Revision DSG 2003, S. 2143; SHK-Husi-Stämpfli, Art. 35 N. 2; BSK-Schäfer, Art. 17a N. 2 f.; Rosenthal/Jöhri, Art. 17a N. 14. Siehe zur experimentellen Natur bspw. der Swiss Covid-App ausführlich Vokinger, 413 ff.
  • Motion 98.3529 «Erhöhter Schutz für Personendaten bei Online-Verbindungen», AB (1999) S. 209 ff., dazu ausführlich BSK-Schäfer, Art. 17a N. 4.
  • SHK-Husi-Stämpfli, Art. 35 N. 5 f.; BSK-Schäfer, Art. 17a N. 8.
  • Dezidiert dazu BSK-Schäfer 2014, Art. 17a N. 5.
  • Botschaft Revision DSG 2003, S. 2142-2143; BSK-Schäfer, Art. 17a N. 2 f.; Rosenthal/Jöhri, Art. 17a N. 4, N. 14.
  • Siehe z.B. die kritische Auseinandersetzung mit der von der Swiss Covid-App vorgenommenen Anonymisierung bei Oberlin/Kessler, Rz. 33 ff.
  • Die Aufzählung des Art. 17a Abs. 2 aDSG wurde in der Revision nicht etwa gestrichen, weil die genannten Gründe hinfällig geworden wären, sondern, um die Regelungsdichte zu reduzieren (Botschaft DSG 2017, S. 7081). Art. 31 ff. DSV enthalten sodann Anforderungen an die Unentbehrlichkeit der Pilotversuche, das Verfahren der Bewilligung sowie den Evaluationsbericht.
  • Art. 2 Abs. 2 der Verordnung über den Pilotversuch mit dem «Swiss Proximity-Tracing-System» zur Benachrichtigung von Personen, die potenziell dem Coronavirus (Covid-19) ausgesetzt waren» (AS 2020 1589, ausser Kraft gesetzt am 25.6.2020).
  • Gestützt auf Art. 60a Abs. 7 EpG und die dazugehörige Verordnung vom 24.6.2020 über
  • Botschaft Revision DSG 2003, S. 2143, ausführlich dazu BSK-Schäfer, Art. 17a N. 7 und N. 24 ff.
  • Botschaft DSG, S. 7081.
  • Huber, S. 215.

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