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Kommentierung zu
Art. 31 BPR
defriten

I. Entstehungsgeschichte

1 Mit der Einführung des Proporzverfahrens im Bundesgesetz betreffend die Wahl des Nationalrates von 1919 wurde die (wahlkreisgebundene) Listenverbindung ermöglicht.

Unterlistenverbindungen wurden im Gesetz von 1919 nicht erwähnt, sie etablierten sich aber in der Folge in der Praxis und wurden gemäss Antworten des Bundesrates auf parlamentarische Vorstösse als zulässig erachtet.
In der parlamentarischen Beratung des Bundesgesetzes über die politischen Rechte von 1976 scheiterte ein Antrag, der überparteiliche Listenverbindungen verbieten wollte, nachdem ein Antrag auf gänzliche Streichung der Listenverbindungen zurückgezogen worden war.
Die Unterlistenverbindung wurde dagegen erstmals ins Gesetz aufgenommen.
Die Kritiker der Listenverbindungen monierten in der Debatte, Listenverbindungen seien intransparent und verfälschten den Wählerwillen, indem die Wählenden ihre Stimme einer Listengruppe zukommen liessen, die sie vielleicht gar nicht unterstützen wollten. Die Befürworter sahen Listenverbindungen dagegen als Korrektiv zum für kleine Parteien ungünstigen Wahlsystem mit den teilweise kleinen Wahlkreisen. Sie verwiesen zudem wie der Bundesrat auf die durch das Institut der Listenverbindung ermöglichten Landesteillisten, mit welchen erreicht werden könne, dass in grossen Kantonen auch innerkantonal die Mandate proportional auf die Regionen verteilt und nicht einseitig die Städte bevorzugt würden.

2 Im Rahmen der BPR-Revision von 1994 kam es im Parlament erneut zu Diskussionen zum Thema. Dieses Mal beantragte der Bundesrat die Abschaffung der Unterlistenverbindungen.

Die eidgenössischen Räte folgten ihm nicht. Für das Eingehen von Unterlistenverbindungen wurden allerdings mit Art. 31 Abs. 1bis gewisse Bedingungen geschaffen: Unterlistenverbindungen sind nur noch möglich «zwischen Listen gleicher Bezeichnung, die sich einzig durch einen Zusatz zur Kennzeichnung des Geschlechts, der Flügel einer Gruppierung, der Region oder des Alters unterscheiden» (siehe dazu nachstehend N. 15 ff.). Abgeschafft wurden dagegen die (in der Praxis seltenen) Unter-Unterlistenverbindungen.
Im Jahr 2013 wurden im Nationalrat zwei Motionen deutlich abgelehnt, welche überparteiliche Listenverbindungen abschaffen wollten.

II. Bedeutung der Vorschrift

A. Allgemeines

3 Bei einer Listenverbindung schliessen sich eine oder mehrere Listen zusammen. Ihre Stimmen werden bei der Mandatsverteilung zunächst zusammengezählt. Bei der ersten Verteilung wird die Listenverbindung wie eine einzige Liste den anderen Listen (und Listenverbindungen) gegenübergestellt. Im Nationalratswahlrecht sind – innerhalb von Listenverbindungen – auch Unterlistenverbindungen zugelassen. Aufgrund des Wahlergebnisses werden die Mandate zuerst an die Listenverbindungen (und alleinstehende Listen) verteilt, in einer zweiten Verteilung und allenfalls weiteren Verteilungen werden die Mandate anschliessend innerhalb der Listenverbindung an die allfälligen Unterlistenverbindungen und (innerhalb von diesen) an die einzelnen Listen verteilt. (Zur Verteilung der Mandate auf die Listen und Listenverbindungen bei den im Nationalratswahlrecht geltenden Verfahren nach Hagenbach-Bischoff im einzelnen vgl. Art. 40 ff. BPR).

4 Zu unterscheiden ist zwischen innerparteilichen oder einparteiigen Listenverbindungen, welche mehrere Listen derselben politischen Partei oder Gruppierung umfassen, und überparteilichen oder mehrparteiigen Listenverbindungen, welche Listen mehrerer Parteien bzw. Gruppierungen enthalten. Innerparteiliche Listenverbindungen ermöglichen den politischen Gruppierungen durch das Einreichen mehrerer Teillisten (Männer- und Frauenlisten, Jungparteienlisten oder regionale Listen) mit einer grösseren Anzahl von Kandidierenden eine grössere Wählerschaft anzusprechen. Dank der Verbindung gehen sie nicht das Risiko ein, dass bei der Verteilung der Mandate auf die Teillisten (Rest-)Stimmen verloren gehen

. Mit überparteilichen Listenverbindungen versuchen die Parteien und Gruppierungen, die Reststimmen besser zu verwerten, und dank des Zusammenschlusses zusätzliche Mandate zu erreichen. Die Zahl der unverwerteten, gewichtslosen Stimmen (Stimmen, die keinen Einfluss auf das Wahlergebnis haben) sinkt.

5 Überparteiliche Listenverbindungen werden in der Regel unter Parteien geschlossen, die sich politisch nahestehen (so gibt es zahlreiche bürgerliche bzw. rot-grüne Listenverbindungen). Dies ist aber nicht zwingend, und es sind mitunter auch seltsame Allianzen zu beobachten, die allein wahlarithmetische Gründe haben. Bei Listenverbindungen bleiben aber die Listenverbindungspartner selbständig agierende politische Kräfte, die eigenständig und auch gegeneinander Wahlkampf betreiben.

6 Listenverbindungen ermöglichen es unter Umständen mittleren und kleinen Parteien, ein Mandat zu erreichen, das sie aus eigener Kraft nicht erreichen würden (insbesondere in Wahlkreisen mit wenigen Mandaten und einem hohen natürlichen Quorum).

Es kann aber nicht gesagt werden, dass das Institut der Listenverbindung generell den kleineren und mittleren Parteien dient. Die Stimmen einer kleineren oder mittleren Partei können auch einer listenverbundenen grösseren Partei helfen, ein weiteres Mandat zu erringen, während die kleinere Partei unter Umständen auch gänzlich leer ausgehen kann.

7 Das Institut der Listenverbindung ergibt nicht in jedem Wahlverfahren Sinn. Es ist insbesondere von Bedeutung in einem System mit kleinen Wahlkreisen und wenigen Mandaten, wo die Hürde (natürliches Quorum) für eine einzelne Partei, ein Mandat zu erringen, hoch ist (wie in vielen Kantonen bei den Nationalratswahlen). Das bei etlichen kantonalen Parlamentswahlen angewandte Zuteilungsverfahren «Doppelter Pukelsheim», bei dem eine proporzgerechte Feinverteilung der Mandate resultiert, kennt denn auch keine Listenverbindungen.

8 In der politischen Debatte und in der Lehre ist das Institut der Listenverbindung umstritten. Als Vorteile gelten die Verbesserung der Wahlchancen für kleinere und mittlere Parteien in kleinen Wahlkreisen und die Möglichkeit für die Parteien, Teillisten einzureichen. Listenverbindungen und insbesondere Unterlistenverbindungen werden aber häufig als intransparent kritisiert, für etliche Wahlberechtigte sei (auch bei entsprechenden Hinweisen auf den Wahlzetteln) nicht mehr durchschaubar, wem ihre Stimme letztlich zukomme – was den Grundsatz der Wahlfreiheit verletzen könne. Weiter wird mitunter kritisiert, es könne bei der Zulassung von Listenverbindungen zu «willkürlichen Wahlergebnissen» kommen, schliesslich fördere die Zulassung von Listenverbindungen die Parteienzersplitterung.

B. Rechtsvergleich

9 In zehn Kantonen sind – Stand: Ende 2023 – bei den kantonalen Parlamentswahlen Listenverbindungen zugelassen. Uneingeschränkt möglich sind Listenverbindungen in den Kantonen Bern, Luzern, Obwalden, Glarus, Solothurn, Thurgau und Genf.

Ohne Einschränkungen zugelassen sind Listenverbindungen auch im einzigen im Proporz wählenden Wahlkreis bei den Kantonsratswahlen im Kanton Appenzell-Ausserrhoden (Herisau)
sowie in den nicht in Unterwahlkreise aufgeteilten Wahlkreisen bei den Waadtländer Grossratswahlen.
Bei den St. Galler Kantonsratswahlen sind Listenverbindungen erlaubt unter Listen gleicher Bezeichnung, die sich nur durch einen Zusatz zur Kennzeichnung des Geschlechts, der Flügel einer Gruppierung, der Region oder des Alters unterscheiden.

10 Unterlistenverbindungen kennen nur fünf Kantone. In Bern und im Wahlkreis Herisau im Kanton Appenzell-Ausserrhoden sind solche uneingeschränkt möglich.

In den Kantonen Luzern, Solothurn und Thurgau sind sie (wie bei den Nationalratswahlen) nur gültig zwischen Listen gleicher Bezeichnung, die sich einzig durch einen Zusatz zur Kennzeichnung des Geschlechts, der Flügel einer Gruppierung, der Region oder des Alters unterscheiden.

III. Verbundene Listen

A. Übereinstimmende Erklärung (Abs. 1)

11 Die Bestimmung lässt Listenverbindungen zu. Zwei oder mehr Listen können miteinander verbunden werden. Listenverbindungen sind möglich zwischen Teillisten einer Partei (innerparteiliche Listenverbindungen), aber auch zwischen verschiedenen Parteien und Gruppierungen (überparteiliche Listenverbindungen).

12 Innerhalb einer Listenverbindung sind auch Unterlistenverbindungen von zwei und mehr Listen zulässig. In einer Unterlistenverbindung verbunden werden können nur Listen, die derselben Listenverbindung angehören. Dagegen sind Unter-Unterlistenverbindungen seit der BPR-Revision von 1994 nicht mehr erlaubt (dies ergibt sich aus dem Wortlaut der Norm: «… sind einzig Unterlistenverbindungen zulässig».)

13 Damit Listenverbindungen und Unterlistenverbindungen rechtswirksam eingegangen werden können, wird eine übereinstimmende Erklärung der Vertretungen der Wahlvorschläge verlangt. Die Vertreterinnen und Vertreter müssen der Listenverbindung in Kenntnis aller beteiligten Listen und sämtlicher eingegangener Unterlistenverbindungen zustimmen. Die Erklärungen müssen laut Artikel 8e Absatz 1 VPR mindestens die Angaben nach dem Musterformular gemäss Anhang 3b der VPR enthalten: Nummer (wenn bereits vergeben) und Bezeichnung der verbundenen/unterverbundenen Listen; Name und Unterschrift der Vertreterinnen und Vertreter, Bemerkungen (z.B. Bezeichnung der Unterlistenverbindungen), Ort und Datum.

14 Die Listenverbindungserklärung ist spätestens bis zum Ablauf der Bereinigungsfrist (Art. 29 Abs. 4 BPR) bei der zuständigen Behörde des Kantons einzureichen. Massgebend für die Gültigkeit von Listen- und Unterlistenverbindungen ist der Zeitpunkt, in dem die entsprechende Erklärung bei der zuständigen kantonalen Behörde eintrifft (Art. 8e Abs. 2 VPR).

B. Unterlistenverbindungen (Abs. 1bis)

15 Eine Einschränkung betreffend Unterlistenverbindungen wurde mit der Revision von 1994 ins BPR aufgenommen. Unterlistenverbindungen sind demnach «nur gültig zwischen Listen gleicher Bezeichnung, die sich einzig durch einen Zusatz zur Kennzeichnung des Geschlechts, der Flügel einer Gruppierung, der Region oder des Alters unterscheiden.»

16 Die unterscheidende Bezeichnung der zur Unterlistenverbindung zugelassenen Teillisten einer Gruppierung kann sich auf das Geschlecht beziehen: So kennen verschiedene Parteien separate Männer- und Frauenlisten. Der unterscheidende Zusatz kann die Flügel einer Gruppierung betreffen. So präsentiert die Partei «Die Mitte» im Kanton Luzern eine separate Liste Christlich-Soziale (Die Mitte), oder die GLP im Kanton Bern eine Liste Grünliberale KMU

. Mit der massiven Zunahme der Teillisten sind die Parteien dazu übergegangen, viele ihrer Listen mit einem Label zu versehen bzw. ihnen einen bestimmten Themenschwerpunkt zuzuordnen. Beispiele: FDP.Wirtschaft und Bildung, FDP.Umwelt und Energie, FDP.Kultur und Sport im Kanton Zürich, oder: Grünliberale Energie, Grünliberale Kreative, Grünliberale Tier und Natur im Kanton Bern. Es kann hier nur noch in einem weitesten Sinn von Parteiflügeln gesprochen werden. Das unterscheidende Merkmal kann im Weiteren die Region darstellen. Nach Kantonsteilen getrennte Listen sind in mehreren Kantonen bei einigen Parteien üblich. Beispiele: Die Mitte Hauptliste Süd-Ost und Die Mitte Hauptliste Nord-West im Kanton St. Gallen oder die vielen regionalen Listen im Kanton Wallis. (Zur Problematik von regional nicht eindeutig bezeichneten Listen vgl. OK-Glaser, Art. 37 BPR N. 25 ff.) Separate Listen einer Partei können sich schliesslich bezüglich des Alters unterscheiden: In vielen Parteien stellen die Jungparteien traditionell eigene Listen (Bsp: Juso, Jungfreisinnige, Junge SVP), zunehmend gibt es aber auch separate Listen mit älteren Kandidierenden (Beispiele aus dem Kanton Zürich: SVP Ü55 Liste, senior GLP, SP 60+).

17 Die Bestimmung, wonach Unterlistenverbindungen möglich sind zwischen Listen von verschiedenen Flügeln einer Gruppierung, wurde in der Praxis über Jahre hinweg grosszügig ausgelegt und nicht als Verbot von überparteilichen Unterlistenverbindungen betrachtet.

So verbanden etwa bei den Nationalratswahlen 2019 im Kanton Basel-Stadt die drei eigenständigen Parteien EVP, GLP und BDP ihre Listen unter dem gemeinsamen Listenhauptnamen «Mitte» in einer Unterlistenverbindung als unterschiedliche Flügel einer Gruppierung. Und im Kanton Waadt traten unter dem Listenhauptnamen «Alliance du centre» die drei Parteien EVP, EDU und BDP als unterschiedliche Flügel einer Gruppierung mit unterverbundenen Listen an.

18 Die Lehre, soweit sie sich mit der Frage überhaupt beschäftigte, äusserte sich eher kritisch. Yvo Hangartner/Andreas Kley bezeichneten die Praxis in der im Jahr 2000 erschienenen ersten Auflage des Standardwerks «Die demokratischen Rechte in Bund und Kantonen der Schweizerischen Eidgenossenschaft» als «(zu?) grosszügig», Anina Weber bewertete sie 2016 in einer praktisch gleichlautenden Formulierung als «(zu) grosszügig».

Strenger urteilten in einem Aufsatz im Jahr 2020 Andreas Glaser und Florian Frei. Sie kamen mit Blick auf die Entstehungsgeschichte der Norm zum Schluss, dass überparteiliche Unterlistenverbindungen rechtswidrig seien. Das Parlament habe 1993/1994 beim Erlass der Bestimmung zwischen verschiedenen Parteien nur Listenverbindungen, nicht aber auch Unterlistenverbindungen ermöglichen wollen. Letztere seien auf Verbindungen innerhalb einer Partei beschränkt.
Zu diesem Schluss gelangt mittlerweile auch die Autorenschaft der 2023 erschienenen zweiten Auflage des Werks «Demokratische Rechte».

19 Die eidgenössischen Räte haben 2021/2022 im Rahmen der Debatte über eine Parlamentarische Initiative festgehalten, dass es sich bei verschiedenen Parteien (wie in den oben zitierten Fällen aus Basel-Stadt und der Waadt) nicht um die Flügel einer Gruppierung handeln könne.

Unterlistenverbindungen zwischen Listen gleicher Bezeichnung, bei denen verschiedene Parteien die Flügel bilden, sind demnach künftig als unzulässig anzusehen. Der Bundesrat hält dies in seinem neuen Kreisschreiben zu den Nationalratswahlen explizit fest. Das Votum des Präsidenten der SPK-S sowie Voten des Sprechers und der Sprecherin der SPK-S entsprächen einem expliziten Interpretationsvorbehalt unter Hinweis auf die ratio legis, der eine Praxisänderung rechtfertige.
Das Bundesgericht hat in einem Grundsatzentscheid diese Rechtsauffassung geschützt und eine Beschwerde gegen das Nichtzulassen einer Unterlistenverbindung zwischen «Mitte» und EVP im Kanton Neuenburg bei den Nationalratswahlen 2023 abgewiesen. Die historische und teleologische Auslegung der Bestimmung ergebe klar, dass Unterlistenverbindungen nur zwischen Listen derselben Partei oder Gruppierung erlaubt seien. Auch verstosse das Verbot von überparteilichen Unterlistenverbindungen nicht gegen die von Artikel 34 Absatz 2 der Bundesverfassung garantierte Wahlrechtsgleichheit.

C. Vermerk auf Wahlzetteln (Abs. 2)

20 Die Bestimmung verlangt, dass Listen- und Unterlistenverbindungen auf den Wahlzetteln mit Vordruck zu vermerken sind. Es ist im Licht der Wahlfreiheit zwingend, dass die Wahlberechtigten wissen, welche Allianzen die einzelnen Listen eingegangen sind bzw. wem ihre Stimme allenfalls auch Nutzen bringen könnte. Die Bestimmung wurde mit dem Erlass des BPR 1976 eingeführt («damit die Verhältnisse jedem klar sind», wie der Bundesrat in der Botschaft schrieb

).

21 Der Hinweis auf die Listenverbindungen und Unterlistenverbindungen muss «in einer gut verständlichen und gut ersichtlichen Form erfolgen», wie der Bundesrat im Kreisschreiben zu den Nationalratswahlen festhält.

Empfohlen wird, die Hinweise auf die Verbindungen auf dem Wahlzettel oben statt unten anzubringen (was zumindest in den grösseren Kantonen Standard ist). Der besseren Information der Wahlberechtigten dienlich ist auch, wenn bei den Hinweisen auf die Verbindungen nicht bloss die Listennummern, sondern auch die Listenkürzel aufgeführt werden. Einzelne Kantone (so etwa Zürich, Bern oder Thurgau) vermerken die Listenverbindungen und -Unterverbindungen nicht nur auf den vorgedruckten Zetteln der jeweiligen Listen, sondern fügen vorne im Wahlzettelblock zusätzlich eine Übersicht über alle Listenverbindungen und Unterlistenverbindungen ein.

22 Eine Listenverbindung, die den Wahlberechtigten nicht bekannt gemacht worden ist, ist unwirksam. So urteilte das Bundesgericht in einem Fall betreffend die Grossratswahlen im Kanton Waadt von März 1978.

Die angemeldete Listenverbindung zwischen dem Parti radical démocratique und dem Parti libéral im Wahlkreis Lausanne war irrtümlich weder publiziert, noch auf den Wahllisten vermerkt noch der Wählerschaft in irgendeiner Weise bekannt gemacht worden. Das Bundesgericht sah darin einen Eingriff in den Wählerwillen, da nicht ausgeschlossen werden könne, dass einzelne Wählende ihre Stimme anders abgegeben hätten, wenn sie von der Listenverbindung Kenntnis gehabt hätten. Gemäss Bundesgericht bedingt die freie Willensbildung, dass die Wahlberechtigten alle wichtigen Informationen zur Wahl in geeigneter Weise erhalten – dazu gehören zwingend die eingegangenen Listenverbindungen. Die Sitzverteilung wurde neu berechnet (ohne die nicht bekannt gemachte Listenverbindung) und die Sitze wurden entsprechend neu vergeben.

D. Kein Widerruf (Abs. 3)

23 Erklärungen zu Listenverbindungen und Unterlistenverbindungen können nicht widerrufen werden. Die Bestimmung wurde mit der Revision von 1994 neu eingefügt, «um Unsicherheiten und taktischen Scharmützeln vorzubeugen», wie der Bundesrat in seiner Botschaft schrieb. Er bezog sich dabei explizit auf einen Fall, der sich bei den Nationalratswahlen 1987 im Kanton Bern zugetragen hatte. Eine Listenverbindung zwischen zwei Gruppierungen wurde zuerst erklärt, dann von der einen Gruppierung schriftlich widerrufen und kurz vor Ablauf der Frist wieder erneuert, was eine dritte Partei mit Androhung einer Beschwerde zu verhindern suchte.

Literaturverzeichnis

Glaser Andreas/Frei Florian, Rechtswidrige Unterlistenverbindungen zwischen verschiedenen Parteien, ZBl 2020, S. 308–314.

Glaser Andreas, Kommentierung zu Art. 37 BPR, in Glaser Andreas/Braun Binder Nadja/Bisaz Corsin/Tornay Schaller Bénédicte (Hrsg.), Onlinekommentar zum Bundesgesetz über die politischen Rechte, abrufbar unter https://onlinekommentar.ch/de/kommentare/bpr37, besucht am 8.4.2024.

Häfelin Ulrich/Haller Walter/Keller Helen/Thurnherr Daniela, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 10. Aufl., Zürich et al. 2020.

Hangartner Yvo/Kley Andreas, Die demokratischen Rechte in Bund und Kantonen der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Zürich 2000.

Hangartner Yvo/Kley Andreas, Braun Binder Nadja, Glaser Andreas, Die demokratischen Rechte in Bund und Kantonen der Schweizerischen Eidgenossenschaft, 2. Aufl., Zürich 2023.

Muheim Anton, Wahl des Nationalrates, in: Das Bundesgesetz über die politischen Rechte, Veröffentlichungen des Schweizerischen Instituts für Verwaltungskurse an der Hochschule St. Gallen, St. Gallen 1978, S. 65–89.

Schmid Benno, Die Listenverbindung, Zürich 1961.

Tschannen Pierre, Staatsrecht der Schweizerischen Eidgenossenschaft, 5. Aufl., Bern 2021.

Weber Anina, Schweizerisches Wahlrecht und die Garantie der politischen Rechte, Zürich 2016.

Materialienverzeichnis

Bericht des Bundesrates vom 13.3.1931 an die Bundesversammlung über das Postulat des Nationalrates vom 5.12.1928 betreffend die Unterlisteverbindung (BBl 1931 I 354).

Bericht der Bundeskanzlei vom 21.8.2013: Proporzwahlsysteme im Vergleich (zit. Bericht Bundeskanzlei Proporzwahlsysteme).

Bericht des Bundesrates vom 13.11.2019 an den Nationalrat über die Nationalratswahlen für die 51. Legislaturperiode (BBl 2019 7461) (zit. Bericht BR NRW 2019).

Bericht des Bundesrates vom 15.11.2023 an den Nationalrat über die Nationalratswahlen für die 52. Legislaturperiode (BBl 2023 2613) (zit. Bericht BR NRW 2023)

Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung zu einem Bundesgesetz über die politischen Rechte vom 9.4.1975 (BBl 1975 I 1317)

Botschaft des Bundesrates über eine Teiländerung der Bundesgesetzgebung über die politischen Rechte vom 1.9.1993 (BBl 1993 III 445).

Kreisschreiben des Bundesrates an die Kantonsregierungen vom 19.10.2022 über die Gesamterneuerungswahl des Nationalrates vom 22.10.2023 (BBl 2022 2547) (zit. Kreisschreiben BR NRW 2023).

Leitfaden der Bundeskanzlei für kandidierende Gruppierungen für die Nationalratswahlen vom 20.10.2019.

Parlamentarische Initiative SPK-NR 21.402 Präzisierung der Unterlistenverbindungen. Bericht der Staatspolitischen Kommission des Nationalrats vom 5.11.2021.

Parlamentarische Initiative SPK-NR 21.402 Präzisierung der Unterlistenverbindungen. Bericht der Staatspolitischen Kommission des Ständerats vom 8.4.2022 (zit. Bericht der SPK-S vom 8.4.2002).

Fussnoten

  • BBl 1919 I S. 262.
  • BBl 1931 I S. 354.
  • AB 1976 NR S. 35 ff.; AB 1976 NR S. 524 ff.; Zusammenfassungen bei Muheim, S. 78 f.: Weber, Rz. 755 ff.
  • BBl 1975 I S. 1317, S. 1338; Weber, Rz. 699.
  • BBl 1993 III S. 445.
  • AB 1993 NR S. 2467; AB 1994 SR S. 181.
  • AB 2013 NR S. 1474, 1475 (Mo. 12.3050 Frehner und Mo. 12.3374 FDP-Liberale Fraktion).
  • Bericht Bundeskanzlei Proporzwahlsysteme Ziffer 3.8.2; Häfelin/Haller/Keller/Thurnherr, N. 1472.
  • Hangartner/Kley/Braun Binder/Glaser Rz. 652; Bericht Bundeskanzlei Proporzwahlsysteme Ziffer 3.7.1.
  • Tschannen, Rz. 1150; Häfelin/Haller/Keller/Thurnherr, N. 1471.
  • Hangartner/Kley/Braun Binder/Glaser Rz. 652. Zu diesem Schluss kommt auch das Bundesgericht in seinem Urteil 1P.563/2001 vom 26.2.2002 zum Grossratswahlrecht im Kanton Freiburg: «Die konkreten Auswirkungen von Listenverbindungen hängen im Einzelnen stark von den tatsächlichen Verhältnissen, insbesondere von der Grösse des Wahlkreises und der Anzahl der zu vergebenden Mandate sowie von den konkreten politischen Konstellationen und Stärkeverhältnisse ab. Bei dieser Sachlage kann nicht generell angenommen werden, dass Listenverbindungen zu einer Verbesserung oder Verschlechterung der Proportionalität führen, auch wenn sie unter konkreten Umständen bisweilen kleinen Parteien erlauben mögen, gewisse systembedingte Nachteil abzuschwächen», siehe dazu Schmid, S. 213 und 223.
  • Ausführlich, und mit Hinweisen: Weber, Rz. 777 ff. Die Autorin hält die heutige Ausgestaltung der Listenverbindung im Nationalratswahlrecht aus verschiedenen Gründen für «nicht verfassungskonform» (Rz. 821). Kritisch ebenfalls Glaser/Frei, S. 308 ff. Eine Auflistung der Vor- und Nachteile der geltenden Regelung findet sich auch im Bericht der Bundeskanzlei zu den Proporzwahlsystemen, Ziffer 3.7.1.
  • Art. 79 Abs. 2 Gesetz des Kantons Bern vom 5.6.2012 über die politischen Rechte (PRG/BE, SG 141.1); § 96 Abs. 1 Stimmrechtsgesetz des Kantons Luzern vom 25.10.1988 (StRG/LU, SG 10) i.V. m Art. 31 Abs. 1 BPR; Art. 8 Abs. 2 Gesetz des Kantons Obwalden vom 26.2.1984 über die Wahl des Kantonsrats (PG/OW, SG 122.2); Art. 45 Abs. 1 Gesetz des Kantons Glarus vom 7.5.2017 über die politischen Rechte (GPR/GL, SG I D/22/2); § 52 Abs. 1 Gesetzes des Kantons Solothurn vom 22.9.1996 über die politischen Rechte (GpR/SO, SG 113.111); § 51 Abs. 1 Gesetz des Kantons Thurgau vom 12.2.2014 über das Stimm- und Wahlrecht (StWG/TG, SG 161.1); Art. 151 und Art. 162 Loi du canton de Genève du 15.10.1982 sur l’exercice des droits politiques (LEDP/GE, SG A 5 05).
  • Art. 8 Proporzwahlreglement Herisau.
  • Art. 65 f. Loi du canton de Vaud du 5.10.2021 sur l’exercice des droits politiques (LEDP/VD, SG 160.01). In den unterteilten Wahlkreisen sind gemäss Art. 66 LEDP nur unterwahlkreisübergreifende Listenverbindungen derselben Listen oder Listengruppen möglich.
  • Art. 43 Abs. 2 Gesetz des Kantons St. Gallen vom 5.12.2018 über Wahlen und Abstimmungen (WAG/SG, SG 125.3).
  • Art. 79 Abs. 2 PRG/BE; Art. 8 Abs. 3 Proporzwahlreglement Herisau
  • § 96 Abs. 1 StRG/LU i.V. m Art. 31 Abs. 1bis BPR; § 52 Abs. 2 GpR/SO, § 51 Abs. 2 StWG/TG.
  • Von 1919 bis 1994 gab es vier Fälle von Unter-Unterlistenverbindungen, drei davon 1991, kurz vor deren Abschaffung, siehe Weber, Rz. 726.
  • So auch, ohne Mehrwert, Art. 8c Abs. 2 VPR.
  • Alle hier zitierten Beispiele stammen von den Nationalratswahlen 2023, (Quelle: Bericht BR NRW 2023).
  • Auch von der Bundeskanzlei, die unter dem Titel der Unterscheidung nach verschiedenen Flügeln einer Gruppierung auch überparteiliche Unterlistenverbindungen mit gleichem Listenhauptnamen als zulässig erachtete (vgl. zuletzt Leitfaden BK NRW 2019 Ziffer 3.5.4).
  • Bericht BR NRW 2019.
  • Hangartner/Kley, Rz. 664; Weber, Rz. 725
  • Glaser/Frei, S. 308 ff.
  • Hangartner/Kley/Braun Binder/Glaser, Rz. 653
  • AB 2021 NR S. 2178 f.; AB 2022 SR S. 774 f. Die Pa. Iv. 21.402 der Staatspolitischen Kommission des Nationalrats (Präzisierung der Unterlistenverbindungen) verlangte eine Änderung von Art. 31 Abs. 1bis BPR (Die Formulierung «Flügel einer Gruppierung» solle durch «Flügel einer politischen Partei» ersetzt werden). Der Nationalrat wollte der Pa. Iv. Folge geben, der Ständerat nicht. Es existiere keine Vorgabe, eine politische Partei zu sein, um Wahlvorschläge einreichen zu können, und es gebe Gruppierungen, die sich explizit nicht als Parteien verstünden. Würde man diesen das Recht auf das Eingehen von Unterlistenverbindungen versagen, würde dies eine Einschränkung der politischen Rechte bedeuten. Auch für den Ständerat (wie für seine SPK) ist es aber als unzulässig anzusehen, wenn sich verschiedene Parteien zusammen als «Gruppierung» definieren, um eine Unterlistenverbindung eingehen zu können, siehe insbesondere auch den Bericht der SPK-S vom 8.4.2002.
  • Kreisschreiben BR NRW 2023, Ziffer 7.4.9.
  • BGE 149 I 354, E. 3 und E. 5
  • BBl 127 I S. 1317, S. 1338.
  • Kreisschreiben BR NRW 2023, Ziffer 7.8.3.
  • BGE 104 Ia 360.
  • Eine ausführliche Besprechung zu diesem Urteil findet sich bei Weber, Rz. 731 ff.
  • BBl 1993 III S. 445, S. 485 und Fussnote 35.

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