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Kommentierung zu
Art. 54 BPR
defriten

I. Entstehungsgeschichte

1 Schon das Bundesgesetz betreffend die Wahl der Mitglieder des Nationalrathes vom 21. Dezember 1850 sah Regelungen zur «Erledigung einzelner Stellen im Nationalrathe im Laufe einer Amtsdauer» vor.

Wünschte ein Nationalrat von seinem Amt zurückzutreten und galt in dessen Kanton der Amtszwang, musste er für einen Rücktritt bei «seiner Wählerschaft oder der betreffenden Kantonsregierung» ein Entlassungsgesuch einreichen. Bei Nationalräten, die aus einem Kanton ohne Amtszwang kamen, reichte die Einreichung einer Austrittserklärung im Nationalrat, sofern dieser tagte. Diese wurde durch den Nationalrat zu Protokoll genommen. Erfolgte eine Austrittserklärung ausserhalb von Nationalratssessionen, musste diese dem Bundesrat zu Protokoll gegeben werden.
Das Mitglied des Nationalrates war gesetzlich verpflichtet, sein Mandat so lange auszuführen, bis ein Nachfolger gewählt wurde.

2 Das nachfolgende Bundesgesetz betreffend die Wahlen des Nationalrates vom 14. Februar 1919

sah demgegenüber keine spezifischen Regelungen zum Rücktritt vor.

3 Erst mit der Schaffung des Bundesgesetzes über die politischen Rechte 1976 wurde mit Art. 54 wieder eine konkrete Bestimmung betreffend den Rücktritt eines Mitglieds des Nationalrates ins BPR aufgenommen. Gemäss dieser hat das Mitglied seinen Rücktritt schriftlich dem Präsidenten bzw. der Präsidentin des Nationalrates mitzuteilen. Diese Bestimmung wurde seit dem Inkrafttreten des BPR nie einer Revision unterzogen.

II. Rechtsvergleich

4 Die allermeisten Kantone sehen in ihren Erlassen betreffend die Wahl ihres Parlaments keine Bestimmungen zur Modalität des Rücktritts aus dem Parlament vor. Diese Kantone umschreiben in ihren Erlassen lediglich, wie der Parlamentssitz bei vorzeitigem Ausscheiden eines Mitglieds wiederzubesetzen ist.

Nur in wenigen Kantonen, wie z.B. Bern und Schaffhausen, sieht das Gesetz demgegenüber explizit vor, dass ein Rücktritt aus dem Parlament dem Präsidenten bzw. der Präsidentin schriftlich mitzuteilen ist.
Im Kanton St. Gallen ist der Rücktritt bei der Staatskanzlei und im Kanton Wallis beim Staatsrat einzureichen.

5 In Kantonen, die für Parlamentsmitglieder den Amtszwang bzw. die Amtspflicht

kennen, ist ein Rücktritt vor Ende der Amtsperiode grundsätzlich nicht möglich. Diese Kantone sehen vor, dass das Parlamentsmitglied, welches vorzeitig von seinem Amt zurücktreten will, bei der zuständigen Behörde ein Amtsentlassungsgesuch stellen muss. So hat bspw. im Kanton Nidwalden der Landrat das Rücktrittsgesuch eines ausscheidenden Mitglieds zu genehmigen;
im Kanton Uri entscheidet der Regierungsrat über Amtsentlassungsbegehren von Landratsmitgliedern, wobei die Mitglieder bis zum Entlassungsentscheid im Amt bleiben müssen.
Da der Amtszwang auf kantonaler Ebene in Bezug auf Parlamentsmitglieder eine «kaum mehr durchgesetzte Regel»
darstellt, sind Amtsentlassungsgesuche nur noch pro forma zu stellen. Diese werden von den zuständigen Behörden jeweils ohne Weiteres bewilligt.

III. Bedeutung der Vorschrift und Norminhalt

6 Als «Rücktritt» wird das Niederlegen des Nationalratsmandats vor Ablauf der Amtsperiode (Art. 149 Abs. 2 Satz 2 BV) bezeichnet. Bei einem Rücktritt wird die Amtsdauer des zurücktretenden Mitglieds (Art. 145 Satz 1 BV) vorzeitig beendet.

Scheidet ein Mitglied des Nationalrates demgegenüber auf Ende der vierjährigen Amtsperiode aus dem Amt, handelt es sich folgerichtig nicht um einen Rücktritt.

7 Art. 54 BPR bildet nicht, wie der Sachüberschrift entnommen werden könnte, die Grundlage für das Recht eines Mitglieds des Nationalrates, während der Amtsperiode zurückzutreten, sondern regelt lediglich dessen Modalität. Das Rücktrittsrecht eines jeden einzelnen Mitglieds ergibt sich vielmehr aus dem Umstand, dass auf Bundesebene kein Amtszwang besteht.

Jedem Mitglied des Nationalrates steht es demzufolge jederzeit zu, freiwillig aus dem Nationalrat auszuscheiden und damit den Sitz für die Nachfolge freizumachen.

A. Schriftlichkeit der Rücktrittserklärung

8 Die Rücktrittserklärung des scheidenden Mitglieds des Nationalrates hat schriftlich zu erfolgen. Die Formvorschrift der Schriftlichkeit der Rücktrittserklärung besteht erst seit der Inkraftsetzung des BPR.

Die Nationalratswahlgesetze von 1850 und 1919 sahen keine Formvorschriften für die Rücktrittserklärung vor. Die Einführung des Formerfordernisses der Schriftlichkeit wurde im Gesetzgebungsverfahren 1976 nicht begründet;
sie führt naturgemäss zu mehr Rechtssicherheit.

9 Grundsätzlich bedeutet Schriftlichkeit im öffentlichen Recht, dass der Inhalt der Erklärung auf einem dauerhaften Erklärungsträger (in der Regel auf Papier) niedergeschrieben sowie eigenhändig unterschrieben werden muss.

In der Praxis wird die Schriftlichkeit jedoch sehr weit gefasst. Gemäss dieser muss das Rücktrittsschreiben durch das Mitglied des Nationalrates handschriftlich oder elektronisch unterzeichnet sein. Der Rücktritt kann brieflich, per Fax oder E-Mail eingereicht werden, wobei der Rücktritt dem Mitglied des Nationalrates eindeutig zugeordnet werden können muss (bspw. durch Übermittlung des Rücktritts mit der E-Mail-Adresse des Parlaments [Domain: @parl.ch]).
Unwirksam ist der Rücktritt, wenn er beispielsweise lediglich telefonisch, in den sozialen Medien oder im Rahmen einer Medienkonferenz erklärt wird.
Diese weite Auslegung des Begriffs «Schriftlichkeit» muss m.E. bei einer nächsten BPR-Revision berücksichtigt werden und Eingang ins Gesetz finden.

B. Präsidentin bzw. Präsident des Nationalrates als Adressat des Rücktritts

10 Adressat des Rücktritts ist die Nationalratspräsidentin bzw. der Nationalratspräsident. Eine Übermittlung des Rücktrittsschreibens durch das zurücktretende Mitglied des Nationalrates an eine andere Behörde wie beispielsweise eine kantonale Staatskanzlei oder die Bundeskanzlei ist nicht vorgesehen. Gemäss Art. 15 Abs. 1 VPR benachrichtigt das Generalsekretariat der Bundesversammlung die entsprechende Kantonsregierung über die eingegangene Rücktrittserklärung.

C. Keine Begründung des Rücktritts

11 Grundsätzlich muss der Rücktritt nicht begründet werden. Jedoch ist es durchaus üblich, dass das zurücktretende Mitglied des Nationalrates seine Beweggründe für das vorzeitige Ausscheiden im entsprechenden Rücktrittsschreiben mitteilt. Diese werden gelegentlich im Rahmen der Verabschiedung des ausscheidenden Mitglieds aus dem Nationalrat durch den Präsidenten bzw. die Präsidentin des Nationalrates

auszugsweise verlesen oder paraphrasiert.

Ich danke Benjamin Böhler, BLaw, Hilfsassistent am Zentrum für Demokratie Aarau, für die Mithilfe bei der Materialrecherche und die wertvollen Anmerkungen sowie Janis Denzler, BLaw, Hilfsassistent am Zentrum für Demokratie Aarau, für die kritische Durchsicht des Textes und die wertvollen Anmerkungen.

Zudem danke ich dem Generalsekretär der Bundesversammlung, Philippe Schwab, für die wertvolle Auskunft in Bezug auf die Rücktrittspraxis im Nationalrat.

Literaturverzeichnis

Auer Andreas, Staatsrecht der schweizerischen Kantone, Bern 2016.

Hangartner Yvo/Kley Andreas/Braun Binder Nadja/Glaser Andreas, Die demokratischen Rechte in Bund und Kantonen der Schweizerischen Eidgenossenschaft, 2. Aufl., Zürich 2023.

Lammers Guillaume, Kommentierung zu Art. 149 BV, in: Martenet Vincent/Dubey Jacques (Hrsg.), Commentaire romand, Constitution fédérale, Basel 2021.

Markić Luka, Kommentierung zu Art. 55 BPR, in: Glaser Andreas/Braun Binder Nadja/Bisaz Corsin/Tornay Schaller Bénédicte (Hrsg.), Onlinekommentar zum Bundesgesetz über die politischen Rechte, abrufbar unter https://onlinekommentar.ch/de/kommentare/bpr54, besucht am 18.10.2023.

Schaub Lukas, Kommentierung zu Art. 145 BV, in: Waldmann Bernhard/Besler Eva Maria/Epiney Astrid (Hrsg.), Basler Kommentar, Bundesverfassung, Basel 2015.

Fussnoten

  • Siehe Art. 36 des Bundesgesetzes betreffend die Wahl der Mitglieder des Nationalrathes vom 21.12.1850, publ. in: BBl 1850 III 884.
  • Art. 36 Abs. 1 des Bundesgesetzes betreffend die Wahl der Mitglieder des Nationalrathes vom 21.12.1850, publ. in: BBl 1850 III 884.
  • Art. 37 des Bundesgesetzes betreffend die Wahl der Mitglieder des Nationalrathes vom 21.12.1850, publ. in: BBl 1850 III 884.
  • Bundesgesetz betreffend die Wahlen des Nationalrates vom 14.2.1919, publ. in: BS I 180; AS 1975 601.
  • Das Nationalratswahlgesetz von 1919 regelte in Bezug auf den Rücktritt nur, dass «[…] im Falle der Erledigung während der Amtsdauer […] die Wiederbesetzung durch Nachrücken bzw. Ergänzungswahl erfolgt (siehe insb. Art. 24 Abs. 1 des Bundesgesetzes betreffend die Wahlen des Nationalrates vom 14.2.1919, publ. in: BS I 180; AS 1975 601).
  • Statt vieler § 21 Abs. 1 des Kantonsratswahlgesetzes des Kantons Schwyz vom 17.12.2014 (KRWG/SZ; SRSZ 120.200); § 59 des Gesetzes des Kantons Basel-Stadt vom 21.4.1994 über Wahlen und Abstimmungen (Wahlgesetz/BS; SG 132.100); § 43 des Gesetzes des Kantons Basel-Landschaft vom 7.9.1981 über die politischen Rechte (GpR/BL; SGS 120); § 60 des Gesetzes des Kantons Thurgau vom 12.2.2014 über Stimm- und Wahlrecht (StWG/TG; RB 161.1); Art. 84 der Loi du Canton de Vaud du 5.10.2021 sur l’exercice des droits politiques (LEDP/VD; RSV 160.01); Art. 44 der Loi du Canton de Jura du 26.10.1978 sur les droits politiques (LEDP/JU; RSJU 161.1).
  • Art. 58 Abs. 2 lit. a des Gesetzes des Kantons Bern vom 5.6.2012 über die politischen Rechte (PRG/BE; BSG 141.1); § 46 der Verordnung des Kantons Schaffhausen vom 13.11.1979 über die Wahl des Kantonsrates und die Wahl der Einwohnerräte nach dem proportionalen Wahlverfahren (Proporzwahlverordnung/SH; SHR 161.111).
  • Art. 113 Abs. 4 i.V.m. Art. 105 lit. b des Gesetzes des Kantons St. Gallen vom 5.12.2018 über Wahlen und Abstimmungen (sGS 125.3); Art. 161 Abs. 1 des Gesetzes des Kantons Wallis vom 13.5.2004 über die politischen Rechte (SGS 160.1).
  • Zum Amtszwang siehe insb. Hangartner/Kley/Braun Binder/Glaser, Rz. 268–278 m.w.H.u.Verw.
  • Art. 7 Abs. 2 des Gesetzes über die kantonalen und kommunalen Behörden des Kantons Nidwalden vom 25.4.1971 (BehG/NW; NG 161.1).
  • Art. 10 i.V.m. Art. 9 des Gesetzes des Kantons Uri vom 5.6.2016 zur Besetzung von Behörden (GBB/UR; RB 2.2221).
  • Auer, Rz. 146.
  • Siehe bspw. genehmigte Rücktrittsgesuche von Landratsmitgliedern durch den Landrat des Kantons Nidwalden (Landrat des Kantons Nidwalden, Protokoll der Landratssitzung vom 18.12.2019, S. 593 f., Genehmigung der Rücktritte von Landrat Conrad Wagner, Stans, und Landrat Dominic Starkl, Stansstad, https://www.nw.ch/_docn/202777/2019-12-18_Protokoll_Version_Internet.pdf, besucht am 3.7.2023) sowie bewilligte Amtsentlassungsbegehren von Landratsmitgliedern durch den Regierungsrat des Kantons Uri mit Begründung (Regierungsrat des Kantons Uri, Amtsentlassungsbegehren von Landrat Franz-Xaver Arnold, Altdorf, vom 28.3.2017, https://www.ur.ch/newsarchiv/34760, besucht am 3.7.2023; dergl., Amtsentlassungsbegehren von Landrätin Daniela Planzer, Schattdorf, vom 20.11.2018, https://www.ur.ch/newsarchiv/48964, besucht am 3.7.2023) und ohne Begründung (dergl., Amtsentlassungsbegehren von Landrat Dr. Toni Moser, Bürglen, vom 12.12.2017, https://www.ur.ch/newsarchiv/39257, besucht am 3.7.2023; dergl., Amtsentlassungsbegehren von Landrat Thomas Huwyler, Altdorf, vom 23.1.2018, https://www.ur.ch/newsarchiv/40195, besucht am 3.7.2023).
  • Zur Unterscheidung der Begriffe Amts- bzw. Legislaturperiode und Amtsdauer siehe insb. CR-Lammers, Art. 149 BV N. 29 und BSK-Schaub, Kommentierung zu Art. 145 BV N. 4.
  • Hangartner/Kley/Braun Binder/Glaser, Rz. 272.
  • Vgl. betreffend Rücktritt aus kantonalen Parlamenten Hangartner/Kley/Braun Binder/Glaser, Rz. 1419.
  • Bundesrat, Botschaft an die Bundesversammlung zu einem Bundesgesetz über die politischen Rechte vom 9.4.1975, BBl 1975 I 1317 ff., hier S. 1342.
  • Bundesrat, Botschaft an die Bundesversammlung zu einem Bundesgesetz über die politischen Rechte vom 9.4.1975, BBl 1975 I 1317 ff., hier S. 1342.
  • Vgl. zum Begriff der «Schriftlichkeit» im öffentlichen Recht insb. Sägesser Thomas, Kommentierung zu Art. 13 RVOG N. 48 ff., in: dergl., Regierungs- und Verwaltungsorganisationsgesetz, Kommentar, 2. Aufl., Bern 2022; Cavelti Urs Peter, Kommentierung zu Art. 21 VwVG N. 7, in: Auer Christoph/Müller Markus/Schindler Benjamin (Hrsg.), VwVG, Bundesgesetz über das Verwaltungsverfahren, Kommentar, 2. Aufl., Zürich 2019; Egli Patricia, Kommentierung zu Art. 21 VwVG N. 3, in: Waldmann Bernhard/Krauskopf Patrick L./Weissenberger Philippe (Hrsg.), Verwaltungsverfahrensgesetz, Praxiskommentar, 3. Aufl., Zürich 2016; Amstutz Kathrin/Arnold Peter, Kommentierung zu Art. 48 BGG, in: Niggli Marcel Alexander/Uebersax Peter/Wiprächtiger Hans/Kneubühler Lorenz (Hrsg.), Bundesgerichtsgesetz, Basler Kommentar, 3. Aufl., Basel 2018.
  • Auskunft des Generalsekretärs der Bundesversammlung, persönliche Kommunikation, 11.07.2023.
  • In begrenzten Fällen muss eine Ausnahme von der Schriftlichkeit möglich sein, insbesondere in Fällen, in denen das Mitglied des Nationalrates nicht in der Lage ist, seine Rücktrittserklärung zu unterschreiben. M.E. muss es dem Mitglied demnach gestattet sein, die Unterschrift durch ein beglaubigtes Handzeichen zu ersetzen oder durch eine öffentliche Beurkundung ersetzen zu lassen (Art. 15 OR analog; zur Anwendung obligationenrechtlicher Grundsätze im öffentlichen Recht siehe Bucher Eugen, Schweizerisches Obligationenrecht, Allgemeiner Teil ohne Deliktsrecht, 2. Aufl., Zürich 1988, S. 82), da sonst ein Rücktritt nicht möglich wäre.
  • Zum Nachrücken siehe OK-Markić, Art. 55 BPR N. 6 ff.
  • Zur Sitzungsleitung siehe Art. 7 GRN.
  • Siehe bspw. AB 2004 NR 1239 (CV 04.9001; Rücktritt von Nationalrat Rudolf Strahm [SP/BE]); AB 2014 NR 1871 (CV 14.9001; Rücktritt von Nationalrätin Ursula Haller Vannini [BDP/BE]); AB 2023 NR 915 (CV 23.9001; Rücktritt von Nationalrat Yves Nidegger [SVP/GE]).

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