Eine Kommentierung von Maha Meier
Herausgegeben von Maria Ludwiczak Glassey / Lukas Staffler
Art. 8 Gegenrecht
1 Einem Ersuchen wird in der Regel nur entsprochen, wenn der ersuchende Staat Gegenrecht gewährt. Das Bundesamt für Justiz (BJ) holt eine Zusicherung des Gegenrechts ein, wenn dies geboten erscheint.
2 Das Gegenrecht ist insbesondere nicht erforderlich bei Zustellungen oder wenn die Ausführung eines Ersuchens:
a. im Hinblick auf die Art der Tat oder die Notwendigkeit der Bekämpfung bestimmter Taten geboten erscheint;
b. die Lage des Verfolgten oder die Aussichten für seine soziale Wiedereingliederung verbessern könnte; oder
c. der Abklärung einer gegen einen Schweizer Bürger gerichteten Tat dient.
3 Der Bundesrat kann im Rahmen dieses Gesetzes anderen Staaten das Gegenrecht zusichern.
I. Allgemeines
1 Der in Art. 8 IRSG verankerte Grundsatz der Gegenseitigkeit in der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen ist eine Voraussetzung für die Gewährung von Rechtshilfe. Es kommt jedoch nur zur Anwendung, wenn zwischen den betroffenen Staaten kein Abkommen oder Vertrag über internationale Zusammenarbeit in Strafsachen besteht; in diesem Fall unterliegen Rechtshilfeersuchen ausschliesslich dem Schweizer Recht und den allgemeinen Grundsätzen des Völkerrechts.
2 Der Grundsatz der Gegenseitigkeit kann ausnahmsweise auch in Fällen gelten, in denen ein bilateraler oder multilateraler Vertrag über internationale Rechtshilfe in Strafsachen besteht, insbesondere wenn die in dem Rechtshilfeersuchen genannte Straftat nicht unter den Vertrag fällt. Damit Rechtshilfe über den Vertrag hinaus gewährt werden kann, muss daher der Grundsatz der Gegenseitigkeit gewährleistet sein. Ein internationales Rechtshilfeabkommen steht somit der Erlangung einer Zusicherung für einen nicht von diesem Abkommen erfassten Bereich nicht entgegen.
3 Die Gewährleistung des Grundsatzes der Gegenseitigkeit ist nicht in einer bestimmten Situation zu prüfen, sondern als Praxis zwischen Staaten zu verstehen, die sich gegenseitig in Strafsachen Rechtshilfe leisten. Der ersuchte Staat, der Rechtshilfe nach dem Grundsatz der Gegenseitigkeit gewährt, erwartet, dass der ersuchende Staat ihm in einer ähnlichen Situation die gleiche Unterstützung gewährt. Der Grundsatz der Gegenseitigkeit kann sich aus Vertragsverhandlungen, einer früheren Praxis zwischen den Staaten oder aus einer vom ersuchenden Staat gegebenen Zusicherung ergeben.
II. Historischer Hintergrund
4 Der Grundsatz der Gegenseitigkeit ist eine allgemeine Regel des Völkerrechts, die es einem Staat erlaubt, einen Vorteil, den er einem anderen Staat gewährt, von der absoluten Zusicherung abhängig zu machen, dass er gegebenenfalls denselben Vorteil erhält. Der Grundsatz der Gegenseitigkeit hat seine Grundlage im Allgemeinen im Völkergewohnheitsrecht. Die Bedingung der Gegenseitigkeit ist Ausdruck der Souveränität eines Staates, der die Gewährung von Rechtshilfe an einen anderen Staat als politischen und nicht als rechtlichen Akt betrachtet. Mit der Weiterentwicklung des Verständnisses der staatlichen Souveränität und der strafrechtlichen Ziele wird die Bedingung der Gegenseitigkeit aufgrund einer weiten Auslegung der Ausnahmegründe, die sich aus verschiedenen Faktoren wie insbesondere der Weiterentwicklung der staatlichen Souveränität, der Achtung der Menschenrechte, der zunehmenden Bedeutung internationaler Übereinkommen oder der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen anderer Staaten ergibt, zunehmend gelockert. Die zuständigen Behörden verfügen in dieser Frage über einen weiten Ermessensspielraum. Der Grundsatz der Gegenseitigkeit kann Gegenstand politischer Abwägungen sein; dem vorstehenden Text folgend ist daher zwischen der Förderung der internationalen Zusammenarbeit und der Wahrung der Souveränität oder sogar anderen oben genannten Interessen abzuwägen.
5 Gemäss Art. 8 Abs. 1 IRSG ist die Rechtshilfe in Strafsachen von der Gegenseitigkeit abhängig, insbesondere unter Berücksichtigung der Umstände, namentlich der Schwere der Straftat. Das Gesetz sieht jedoch Ausnahmen von der Gegenseitigkeit vor (Art. 8 Abs. 2 IRSG): eine einfache Mitteilung, die Art der begangenen Tat oder die Bekämpfung bestimmter Formen von Straftaten (Bst. a), die Verbesserung der Lage der verfolgten Person oder ihrer Chancen auf soziale Wiedereingliederung (lit. b) und schliesslich die Aufklärung einer gegen einen Schweizer Bürger gerichteten Handlung (lit. c). Für die Gewährleistung der Gegenseitigkeit gegenüber anderen Staaten ist ausschliesslich der Bundesrat zuständig (Art. 8 Abs. 3 IRSG).
III. Grundsatz der Gegenseitigkeit des IRSG
A. Erfordernis der Gegenseitigkeit (Abs. 1)
1. Allgemeines
6 Gemäss Art. 8 Abs. 1 IRSG gibt die Schweiz einem Rechtshilfeersuchen eines ausländischen Staates nur statt, wenn dieser ihr Gegenseitigkeit gewährt. Es handelt sich um einen Grundsatz des Völkerrechts, der es dem ersuchten Staat erlaubt, die Gewährung der Rechtshilfe davon abhängig zu machen, dass der ersuchende Staat ihm gegebenenfalls denselben Vorteil gewährt, d. h. dieselbe Art der Rechtshilfe zu denselben Zwecken (do ut des).
7 Die Gegenseitigkeit ist somit ein Grundsatz, der «für die Gewährung der Rechtshilfe, die Auslieferung, die Übertragung der Strafverfolgung und die Vollstreckung von Entscheidungen unerlässlich ist. Folglich kann Rechtshilfe nicht gewährt werden, wenn der ersuchende Staat keine Gegenseitigkeit gewährt und kein Ausnahmefall im Sinne von Art. 8 Abs. 2 IRSG vorliegt.
8 Der Grundsatz der Gegenseitigkeit spielt eine wesentliche Rolle, allerdings nur, wenn die Zusammenarbeit auf dem Rechtshilfegesetz (IRSG) beruht: Denn bei internationalen Rechtshilfeübereinkommen spielt die Gegenseitigkeit nur eine sehr begrenzte Rolle, da diese gemäss dem Grundsatz Pacta sunt servanda (Art. 26 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge) für die Vertragsstaaten verbindlich sind, sofern keine wesentliche Verletzung vorliegt (Art. 60 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge).
9 Das Erfordernis der Gegenseitigkeit als Voraussetzung für die Rechtshilfe liegt in erster Linie im Interesse des Staates und nicht der von dem Rechtshilfeersuchen betroffenen Person. Dennoch kann sich Letztere im schweizerischen Recht darauf berufen, wenn es zu ihren Gunsten wirkt. Deshalb wirken sich die Einschränkung der Gegenseitigkeit oder die weite Auslegung der Ausnahmen von Art. 8 Abs. 2 IRSG de facto zu ihren Ungunsten aus, da sie eine Ausweitung des Rechtshilferechts ermöglichen.
10 Die Bestimmung von Art. 8 IRSG befasst sich mit eingehenden Ersuchen, doch kennt die Schweiz aus Gründen der Symmetrie ein gleichwertiges System für ausgehende Ersuchen gemäss Art. 30 Abs. 1 IRSG, der wie folgt lautet:
«Die schweizerischen Behörden dürfen einem ausländischen Staat kein Ersuchen stellen, dem sie nach diesem Gesetz nicht nachkommen könnten.»
2. Gegenseitigkeitsgarantie
11 Wie bereits erwähnt, beruht der Grundsatz der Gegenseitigkeit auf gegenseitigen Erwartungen zwischen Staaten, sich zu denselben Zwecken dieselben Vorteile zu gewähren; diese können sich aus vertraglichen Verhandlungen, aus der bisherigen Praxis oder aus einer diesbezüglichen Zusicherung ergeben. Das OEIMP präzisiert, dass die Voraussetzung der Gegenseitigkeit auch dann erfüllt ist, wenn die Rechtshilfe vom ausländischen Staat ohne Mitwirkung seiner Behörden erbracht werden kann (Art. 1 OEIMP). Jeder Einzelfall muss geprüft werden, um festzustellen, ob im konkreten Fall Gegenseitigkeit gegeben ist oder nicht.
12 Die Gewährung der Gegenseitigkeit ist unproblematisch, wenn der ersuchende Staat der Schweiz bereits die gleiche Rechtshilfe gewährt hat, um die er ersucht. Diese kann definiert werden als Rechtshilfe, deren Zweck und Inhalt identisch sind, insbesondere in Bezug auf die betreffende Straftat. So wird die Gegenseitigkeit gegenüber Staaten, mit denen die Schweiz regelmässig zusammenarbeitet, vermutet und beruht auf dem Grundsatz des Vertrauens und der internationalen Treu und Glauben.
13 Hat der ersuchende Staat noch nie eine ähnliche Rechtshilfe geleistet, muss sein Verhalten unter Berücksichtigung seiner innerstaatlichen Rechtshilferegelung und gegebenenfalls seiner Praxis in Fällen mit ähnlichem Ziel und Inhalt gegenüber der Schweiz, aber auch gegenüber anderen Staaten geprüft werden. Daraus folgt, dass, wenn der ersuchende Staat die von ihm selbst erbetene Rechtshilfe generell gewährt, die Gegenseitigkeit als gegeben gilt, während er, wenn er die Rechtshilfe in ähnlichen Fällen nicht gewährt, die Rechtshilfe nicht de facto verweigern darf, sondern sie von einer Gegenseitigkeitserklärung abhängig machen muss. Das Bundesamt für Justiz (BJ) des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements (EJPD) ist als Zentralbehörde dafür zuständig, zu beurteilen, ob eine Gegenseitigkeitserklärung verlangt werden muss. So verlangt das BJ gemäss Art. 8 Abs. 1 in fine IRSG «eine Gegenseitigkeitsgarantie, wenn die Umstände dies erfordern». Es verfügt damit über einen weiten Ermessensspielraum. Das BJ ist zuständig für die Prüfung der Gültigkeit der vom ersuchenden Staat vorgelegten Gegenseitigkeitsgarantie. Es ist darauf hinzuweisen, dass diese Garantie gemäss den üblichen Regeln für internationale Garantien erteilt werden muss, bevor die Schweiz über die Gewährung der Rechtshilfe entscheidet. Gemäss dem Vertrauensgrundsatz, der die Beziehungen zwischen Staaten prägt, haben die Schweizer Behörden nicht zu prüfen, ob die Gegenseitigkeitserklärung den Formvorschriften des ausländischen Rechts entspricht oder ob die Behörde, von der die Gegenseitigkeitserklärung stammt, zuständig ist, es sei denn, es liegt ein offensichtlicher Missbrauch vor. Bei offensichtlichem Missbrauch können die Schweizer Behörden die Anerkennung der Gegenseitigkeitserklärung des ersuchenden Staates verweigern, was eine Ausnahme vom Grundsatz des Vertrauens darstellt. Ein offensichtlicher Missbrauch hebt somit die Vermutung der Gültigkeit der staatlichen Erklärungen auf und führt zu einer erneuten Prüfung durch das BJ. In einem solchen Fall kann das BJ die Gewährleistung und Gewährung der Rechtshilfe verweigern, um Klärungen ersuchen oder eine neue Gegenseitigkeitserklärung verlangen.
3. Anwendungsbereich
14 Der ersuchte Staat kann vom ersuchenden Staat eine Gegenseitigkeitsgarantie verlangen, mit der er sich verpflichtet, ihm künftig Rechtshilfe im gleichen Umfang und zu den gleichen Bedingungen zu gewähren, wie sie ihm gewährt wurde. Mit dieser Garantie verpflichtet sich der ersuchende Staat, dem ersuchten Staat für einen bestimmten Zeitraum Rechtshilfe zu gewähren. Er kann dies in Form einer Einzelgarantie oder einer Pauschalgarantie tun.
15 Der Geltungsbereich der Garantie muss mindestens den Zweck und den Inhalt der erbetenen Rechtshilfe umfassen: In diesem Fall handelt es sich um eine Einzelgarantie. Die Einzelgarantie hat die Rechtsnatur einer einseitigen Handlung, deren Verbindlichkeit im Völkerrecht dem Vertrauensschutz zuzuordnen ist. Sie ist jedoch davon abhängig, dass die erbetene Rechtshilfe gewährt wird.
16 Es ist auch möglich, dass die Garantie einen ganzen Bereich abdeckt, wie beispielsweise die Auslieferung im Allgemeinen, aber auf bestimmte Aspekte der Straftat beschränkt ist, wie die Androhung einer Mindeststrafe: In diesem Fall spricht man von globalen Garantien. Globale Garantien liegen im Bereich der Gegenseitigkeit im weiteren Sinne und haben die Merkmale eines völkerrechtlichen Vertrags, der oft eine vorherige Mindestvereinbarung über die Rechtshilfe darstellt, die jedoch eine gewisse Dauer haben kann.
17 Die Gegenseitigkeitsgarantie unterliegt keinen besonderen Formvorschriften, muss jedoch schriftlich festgehalten werden. Sie kann beispielsweise in Form eines Briefwechsels erfolgen. Das nationale Recht des ersuchenden Staates bestimmt, wer für die Gewährung der Gegenseitigkeitsgarantie zuständig ist. In der Schweiz ist gemäss Art. 8 Abs. 3 IRSG der Bundesrat zuständig, anderen Staaten Gegenrecht zu garantieren. Das BJ als Zentralbehörde ist zuständig, die Zweckmässigkeit der Einholung einer Gegenrechtserklärung zu prüfen. Konkret beantragt der Direktionsbereich Internationale Rechtshilfe des BJ eine Gegenseitigkeitsgarantie, wenn die Umstände dies erfordern. Das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA), insbesondere die Direktion für Völkerrecht (DV), kann konsultiert werden, wenn politische oder diplomatische Erwägungen dies rechtfertigen.
18 Es versteht sich von selbst, dass der ersuchende Staat, der eine Gegenseitigkeitsgarantie übernimmt, nur dann daran gebunden ist, wenn der ersuchte Staat diese akzeptiert. Der Annahme geht eine Prüfung voraus, ob die Erklärung die Gegenseitigkeit zumindest im Umfang des Rechtshilfeersuchens gewährleistet. Die Annahme hängt von Form und Inhalt der Erklärung des ersuchenden Staates, aber auch von dessen Zuverlässigkeit und dem politischen Kontext ab.
19 Da das BJ für die Feststellung der Notwendigkeit einer Garantie zuständig ist, ist es auch zuständig, diese gemäss Art. 80p IRSG zu prüfen und gegebenenfalls anzunehmen.
B. Ausnahmen von den Gegenseitigkeitsgarantien (Abs. 2)
20 In bestimmten Ausnahmefällen kann die Schweiz gemäss Art. 8 Abs. 2 IRSG Rechtshilfe auch ohne Gegenseitigkeit leisten. Die Gegenseitigkeit ist grundsätzlich nicht erforderlich für einfache Notifikationen. Sie ist auch nicht erforderlich, wenn die Erledigung des Ersuchens einem hohen Strafverfolgungsinteresse dient, im Interesse der verfolgten Person liegt oder sogar der Aufklärung einer gegen einen Schweizer Bürger gerichteten Handlung dient.
21 Das BJ ist zuständig für die Beurteilung, ob das Ersuchen um Rechtshilfe von der Gegenseitigkeit befreit werden kann, weil es unter den Anwendungsbereich von Art. 8 Abs. 2 IRSG fällt. Dabei verfügt es über einen weiten Ermessensspielraum. Die Stellungnahme der von dem Rechtshilfeersuchen betroffenen Person hat bei der Beurteilung der Gegenseitigkeit nur begrenztes Gewicht, da dieses Erfordernis in erster Linie im Interesse des Staates und nicht der von dem Ersuchen betroffenen Person liegt. Die betroffene Person kann keine Gewährleistung der Gegenseitigkeit verlangen, aber sie kann sich auf deren Fehlen berufen, wenn dies für sie günstig ist, insbesondere um die Rechtmässigkeit der Rechtshilfe anzufechten. Sie kann sich jedoch nicht allein mit der Begründung, dass die Gegenseitigkeit gewährleistet ist, aber für sie ungünstig wäre, der Gewährung der Rechtshilfe widersetzen.
22 Gegenseitigkeit ist nicht erforderlich, wenn die Erledigung des Ersuchens aufgrund der Art der begangenen Tat oder der Notwendigkeit, bestimmte Straftaten zu bekämpfen, deren Verfolgung einem internationalen öffentlichen Interesse dient, geboten erscheint. Diese Ausnahme betrifft insbesondere die Bekämpfung der organisierten Kriminalität und der Wirtschaftskriminalität, der Geldwäscherei und der Korruption sowie der internationalen Verbrechen. Mit anderen Worten: In bestimmten Fällen hat die Schweiz aufgrund der Schwere der Straftaten ein Interesse daran, dass Rechtshilfe gewährt wird. Diese Straftaten beeinträchtigen den Frieden, die Sicherheit oder die Grundwerte der internationalen Gemeinschaft. Laut Popp muss es sich um Straftaten handeln, die international strafrechtlich verfolgt werden und durch internationale Übereinkommen unter Strafe gestellt sind, wie beispielsweise Völkermord, Rassendiskriminierung, Geiselnahme, Terrorismus, Sklaverei, Geldfälschung, Kinder- und Frauenhandel oder Geldwäscherei.
23 Die Gegenseitigkeit kann auch ausgeschlossen werden, wenn die Erledigung des Ersuchens im Interesse der verfolgten Person oder ihrer Wiedereingliederungsperspektiven liegt. Eine Verbesserung der Lage der verfolgten Person ist nur im Rahmen der kleinen Rechtshilfe denkbar und beschränkt sich auf entlastende Beweismittel. Die Situation, in der die Erledigung des Rechtshilfeersuchens geeignet ist, die Resozialisierungsaussichten der verfolgten Person zu verbessern, bezieht sich hingegen auf die Vollstreckung und kann sich auf die Auslieferung erstrecken. Sie entspricht insbesondere dem Wortlaut von Art. 100 Bst. b IRSG, der lautet:
« Die Vollstreckung einer schweizerischen Strafentscheidung kann einem ausländischen Staat übertragen werden, wenn die Übertragung eine bessere soziale Wiedereingliederung des Verurteilten erwarten lässt oder die Schweiz die Auslieferung nicht erwirken kann.
24 Schliesslich ist Gegenseitigkeit nicht erforderlich, wenn die Vollstreckung des Ersuchens der Aufklärung einer gegen einen Schweizer Staatsangehörigen gerichteten Straftat dient. Diese Ausnahmekategorie kann auf die kleine Rechtshilfe und die Auslieferung angewendet werden. Die Bestimmung scheint sich auch auf die Verfolgung von Straftaten gegen juristische Personen mit Sitz in der Schweiz zu erstrecken. Diese Ausnahme beruht auf dem Willen, die grundlegenden Interessen der Schweiz und ihrer Staatsangehörigen, seien es natürliche oder juristische Personen, zu schützen. In einem internationalen Kontext, der durch eine zunehmende Zahl internationaler Rechtshilfeabkommen und die Bekräftigung der Grundsätze der Zusammenarbeit und gegenseitigen Anerkennung geprägt ist, könnte jedoch die einseitige Gewährung von Rechtshilfe ohne Gegenleistung als Schwächung des Grundsatzes der Gegenseitigkeit, der eine Säule der Gleichheit zwischen Staaten darstellt, angesehen werden.
Literaturverzeichnis
Ludwiczak Glassey Maria, Commentaire de l’article 8 EIMP, in : Ludwiczak Glassey Maria/Laurent Moreillon, Petit Commentaire, Loi sur l’entraide pénale internationale, Bâle 2024
Ludwiczak Glassey Maria, Entraide judiciaire internationale en matière pénale, Bâle 2018
Maeder Stefan, Commentaire de l’article 8 EIMP, in : Niggli Marcel Alexander/Heimgartner Stefan (Hrsg.), Internationales Strafrecht, IRSG, GwÜ, Basler Kommentar, Bâle 2015
Moreillon Laurent (éd), Entraide internationale en matière pénale, Commentaire romand, Bâle 2004
Popp Peter, Gründzüge der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen, Bâle/Genève/Munich 2001
Sager Christian, Der Gegenrechtsgrundsatz im Rechtshilferecht – ein alter Zopf?, AJP 2014, p. 224 s.
Zimmermann Robert, La coopération judiciaire internationale en matière pénale, 6e éd., Berne 2024
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