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SCHWEIZERISCHES STRAFGESETZBUCH
CYBERCRIME CONVENTION
HANDELSREGISTERVERORDNUNG
- I. Einleitung
- II. Die Voraussetzungen des Abwesenheitsverfahrens
- III. Sistierung (Art. 366 Abs. 2 letzter Satz StPO)
- IV. Ausnahmen und Abgrenzungen
- Schematischer Überblick über das Abwesenheitsverfahren
- Literaturverzeichnis
I. Einleitung
1 Der Begriff des Abwesenheitsverfahrens, auch Kontumazialverfahren genannt, bezeichnet ein gerichtliches Hauptverfahren, welches in einem Urteil seinen Abschluss findet, ohne dass die beschuldigte Person persönlich vor Gericht erschienen ist.
2 Ein Verfahren in Abwesenheit der beschuldigten Person tangiert den aus dem Konventionsrecht (Art. 6 EMRK), dem Verfassungsrecht (Art. 29 Abs. 2 BV) sowie dem Gesetzesrecht (Art. 3 StPO) fliessenden Anspruch auf ein faires Verfahren. Gemäss diesem Grundsatz des «fair trials» kann die beschuldigte Person an einem gegen sie gerichteten Strafverfahren teilnehmen und Parteirechte ausüben, was ihr bei Nichtteilnahme an der Gerichtsverhandlung verwehrt bleibt. Ebenfalls widerspricht das Abwesenheitsverfahren dem in Art. 343 StPO verankerten «Unmittelbarkeitsprinzip», wonach sich das Gericht von der beschuldigten Person einen persönlichen Eindruck verschafft, wobei die Befragung des Beschuldigten von Gesetzes wegen eingehend und gleich zu Beginn des Beweisverfahrens erfolgen soll (Art. 341 Abs. 4 StPO). Der unmittelbare Eindruck einer beschuldigten Person auf das Gericht kann unter Umständen für die Urteilsfindung von wesentlicher Bedeutung sein. Dieser Eindruck fehlt, wenn die beschuldigte Person nicht an der Hauptverhandlung teilnimmt. Vor dem Hintergrund dieser tangierten Verfahrensgrundsätze erstaunt es nicht, dass die Durchführung von Abwesenheitsverfahren Gegenstimmen erhält.
3 Trotz dieser Bedenken kann und darf nach der hier vertretenen Ansicht das Abwesenheitsverfahren nicht mehr aus der Praxis weggedacht werden. Auch wenn eine beschuldigte Person nach dem Grundsatz nemo tenetur se ipsum accusare nicht verpflichtet werden kann, zu seiner Verurteilung beizutragen, besteht in einem Rechtsstaat grundsätzlich ein Interesse an effektiver Strafverfolgung. Das Recht auf persönliche Teilnahme an der Verhandlung kann deshalb – wie dies auch vom Bundesgericht klar festgehalten wurde
4 Ohne die Möglichkeit des Verhandelns in Abwesenheit der beschuldigten Person könnten zahlreiche Anklagen nicht gerichtlich behandelt und die Verfahren nicht oder zumindest nicht zeitnah abgeschlossen werden, weil es aus den unterschiedlichsten Gründen (bspw. mangels Kenntnis des Aufenthaltsortes des Beschuldigten oder aufgrund der verweigernden Haltung dem Strafverfahren gegenüber etc.) nicht möglich ist, den Beschuldigten zum Erscheinen vor Gericht zu bewegen. Zu hoch wäre die Anzahl an Verfahren, die mangels Durchführbarkeit einer Hauptverhandlung verzögert, allenfalls sistiert und schliesslich aufgrund des Eintritts der Verfolgungsverjährung eingestellt werden müssten, was aus rechtsstaatlichen Gesichtspunkten nicht hinzunehmen ist. Nach der hier vertretenen Auffassung soll und darf es nicht vom Verhalten der beschuldigten Person abhängen dürfen, ob ein gegen diese Person geführtes Verfahren abgeschlossen werden kann oder nicht.
5 Ebenfalls nicht hinzunehmen ist, dass die beschuldigte Person durch ihr eigenes Verhalten das Verfahren wesentlich verzögern kann, indem sie der Verhandlung aus nicht entschuldbaren Gründen fernbleibt. Dagegen spräche denn auch das ebenfalls aus Konventionsrecht (Art. 6 EMRK) und Verfassungsrecht (Art. 29 Abs. 1 BV) fliessende Beschleunigungsgebot nach Art. 5 Abs. 1 StPO, welches die Strafverfolgungsbehörden verpflichtet, das Verfahren unverzüglich an die Hand zu nehmen und ohne unbegründete Verzögerung zum Abschluss zu bringen.
6 Auch generalpräventive Überlegungen spielen dabei eine Rolle. So soll das Rechtsbewusstsein durch den Befriedungseffekt der Strafe zwischen Täter und Opfer nicht dadurch ausgehöhlt werden, dass sich die beschuldigte Person dem Verfahren entziehen kann. Schliesslich soll die Allgemeinheit von der Begehung von Straftaten abgeschreckt werden, was bei der Einstellung von Verfahren aufgrund der verweigernden Haltung der beschuldigten Person gegenüber dem Strafverfahren nicht den erwünschten Effekt hervorbringen dürfte.
7 Insgesamt sind die Eingriffe in die Verfahrensrechte der beschuldigten Person bei Nichterscheinung vor Gericht durch Durchführung eines Abwesenheitsverfahrens gerechtfertigt und – bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen, auf welche nachfolgend im Einzelnen eingegangen wird – entsprechend hinzunehmen.
II. Die Voraussetzungen des Abwesenheitsverfahrens
A. Vorbemerkung
8 Um den Ansprüchen des «fair trials» begegnen zu können, hat ein Abwesenheitsverfahren stets als Ausnahme zu gelten. Der Gesetzgeber hat entsprechend die Voraussetzungen für die Durchführung eines solchen Verfahrens streng formuliert. Neben dem Vorliegen der allgemeinen Prozessvoraussetzungen wie insb. eine ordnungsgemässe Anklage, Zuständigkeit des Gerichts, Strafantrag bei Antragsdelikten, keine andere Rechtshängigkeit oder bereits eingetretene Rechtskraft, Verhandlungsfähigkeit der beschuldigten Person etc.
9 Beide Vorladungen haben jeweils ordnungsgemäss zu erfolgen. Sodann kann ein Urteil in Abwesenheit der beschuldigten Person nur dann ergehen, wenn die beschuldigte Person im bisherigen Verfahren ausreichend Gelegenheit hatte, sich zu den ihr vorgeworfenen Straftaten zu äussern (Art. 366 Abs. 4 lit. a StPO) und der Sachverhalt liquid, d.h. spruchreif, ist (Art. 366 Abs. 4 lit. b StPO). Die strengen Voraussetzungen und die Gefahr, dass bei Antrag auf Neubeurteilung (Art. 368 StPO) allenfalls noch eine dritte Hauptverhandlung durchgeführt werden muss, was einen erheblichen Aufwand für alle Beteiligten – insbesondere für die Strafbehörden – bedeutet, führen dazu, dass das Abwesenheitsverfahren in der Praxis eher zurückhaltend angewendet wird.
B. Unentschuldigtes Nichterscheinen der beschuldigten Person
10 Bleibt die beschuldigte Person unentschuldigt der Hauptverhandlung fern, so sind nach gesetzlicher Bestimmung die Vorschriften über das Abwesenheitsverfahren anwendbar (Art. 336 Abs. 4 StPO). Mit Fernbleiben ist Säumnis nach Art. 93 StPO gemeint, wonach eine Partei dann säumig ist, wenn sie zu einem Termin nicht erscheint. Das Nichterscheinen muss sodann unentschuldigt sein, weshalb bspw. bei einer vorgängigen Dispensation nicht von Säumnis gesprochen werden kann. Die säumige Person muss allenfalls vorhandene entschuldigende Gründe glaubhaft vorbringen.
11 Einer Vorladung ist Folge zu leisten und wer verhindert ist, hat dies der vorladenden Behörde unverzüglich mitzuteilen (Art. 205 Abs. 1 und 2 StPO). Insofern gilt als unentschuldigt grundsätzlich, wer die korrekt ergangene Vorladung
12 Unentschuldigtes Nichterscheinen i.S.v. Art. 366 f. StPO setzt ein schuldhaftes Fernbleiben voraus. Verlangt wird, dass die beschuldigte Person der Verhandlung bewusst und freiwillig fernbleibt.
13 Von Gesetzes wegen unentschuldigt gilt sodann, wer sich selber in den Zustand der Verhandlungsunfähigkeit versetzt oder sich weigert, aus der Haft zur Hauptverhandlung vorgeführt zu werden. In beiden Fällen kann von Gesetzes wegen sofort, d.h. bereits beim ersten Termin, ein Abwesenheitsverfahren durchgeführt werden (Art. 366 Abs. 3 StPO). Die Verweigerung der Zuführung lässt sich i.d.R. ohne weiteres darin erkennen, dass die für die Zuführung beauftragte Polizeibeamten die beschuldigte Person nicht dazu bewegen können, den Transport zum Gericht anzutreten. Die zweite Variante des Versetzens in einen verhandlungsunfähigen Zustand erfüllt, wer körperlich und/oder geistig nicht (mehr) in der Lage ist, der Verhandlung zu folgen (Art. 114 Abs. 1 StPO e contrario). Selbstverschuldet ist eine Verhandlungsunfähigkeit bspw. dann, wenn die Teilnahme an der Verhandlung aufgrund von vorgängigem Drogen- oder Alkoholkonsum oder wegen vorgängiger Selbstverletzung oder Selbstgefährdung verunmöglicht wird. Sowohl mit der Weigerung, vor Gericht zu erscheinen, als auch mit dem selbstständigen Versetzen in einen verhandlungsunfähigen Zustand, zeigt die beschuldigte Person ihr Desinteresse an der Teilnahme am Gerichtsverfahren. Sie ist aufgrund eigenen Verschuldens am gerichtlichen Termin abwesend bzw. nicht in der Lage, der Verhandlung zu folgen. Es ist von einem konkludenten Verzicht auf die ihr zustehenden Verfahrensrechte, insbesondere auf das Recht auf persönliche Teilnahme an der Hauptverhandlung und das Äusserungsrecht, auszugehen. Ist die persönliche Anwesenheit der ordnungsgemäss vorgeladenen beschuldigten Person nicht zwingend erforderlich, kann das Gericht bei liquidem Sachverhalt in Abwesenheit der säumigen Partei bereits beim ersten Termin verhandeln und ein Kontumazialurteil fällen. Andernfalls ist sie mittels Zuführungsbefehl an die Polizei zwangsweise zum Gericht zu beordern oder die Hauptverhandlung ist zu verschieben, allenfalls das Verfahren zu sistieren.
14 Entschuldigt nicht erschienen ist hingegen, wer aufgrund von objektiver Unmöglichkeit (höhere Gewalt) oder subjektiver Unmöglichkeit (persönliche Umstände, Irrtum) nicht zur Verhandlung erscheinen kann.
15 Liegt ein Irrtum über die Erscheinungspflicht vor, so hat das Gericht zu eruieren, wie es zu diesem Irrtum gekommen ist und ob der Irrtum von der beschuldigten Person selber zu verantworten ist. Zu berücksichtigen ist dabei, ob die Säumnis durch einen Umstand eingetreten ist, der nach den Regeln vernünftiger Interessenwahrung auch von einer sorgsamen Person nicht befürchtet werden muss.
16 In der aktuellen Pandemiesituation stellt sich in Bezug auf die Entschuldbarkeit die Frage, wie bei Personen vorzugehen ist, welche sich zwar termingerecht zum Gericht begeben, sich aber weigern, das Gerichtsgebäude aufgrund der in öffentlichen Gebäuden zeitweilig geltenden Maskenpflicht zu betreten. Nach der hier vertretenen Ansicht darf in solchen Konstellationen von einem freiwilligen bzw. selbstverschuldeten Nichterscheinen und folglich von einer unentschuldigten Abwesenheit der beschuldigten Person mit den entsprechenden Rechtsfolgen
17 Für die Durchführung eines Abwesenheitsverfahrens ist in persönlicher Hinsicht vorausgesetzt, dass die beschuldigte Person säumig ist. Erscheint zwar die beschuldigte Person aber nicht die Verteidigung zur Hauptverhandlung, ist – Missbrauchsfälle vorbehalten
18 Wann in zeitlicher Hinsicht eine Säumnis vorliegt, ist im jeweiligen Einzelfall in Ausübung des pflichtgemässen Ermessens durch das Gericht zu entscheiden. Hat bspw. die beschuldigte Person vorgängig zu ihrem Nichterscheinen ihr Desinteresse an einer Teilnahme an der Hauptverhandlung kundgetan, erscheint es nicht nötig, längere Zeit zuzuwarten, bis die Hauptverhandlung abgebrochen und zum neuen Termin vorgeladen wird bzw. beim zweiten Termin das Abwesenheitsverfahren durchgeführt wird. Ist die beschuldigte Person unbekannten Aufenthalts und wurde die Vorladung mittels öffentlicher Ausschreibung publiziert, so erscheint nach der hier vertretenen Ansicht die Gewährung einer sogenannten «Respektviertelstunde» als ausreichend.
C. Ordnungsgemässe Vorladung zur Hauptverhandlung
19 Unentschuldigt von einer Verhandlung fernbleiben kann nur, wer vorgängig ordnungsgemäss vorgeladen wurde. Ordnungsgemäss vorgeladen i.S.v. Art. 201 ff. i.V.m. Art. 85 ff. StPO bedeutet, dass die Vorladung dem Beschuldigten entweder direkt zugestellt wurde oder – bei Vorliegen der entsprechenden Voraussetzungen
20 Eine ordnungsgemässe direkte Zustellung an den Beschuldigten liegt vor, wenn der Versand per Einschreiben erfolgte und die Vorladung gegen Unterschrift ausgehändigt wurde. Dabei reicht eine Zustellung an einen Angestellten oder Hausgenossen grundsätzlich aus (Art. 85 Abs. 3 StPO). Ebenfalls ausreichend ist, wenn die beschuldigte Person tatsächlich Kenntnis von der Vorladung erhalten hat. Dies ist im Einzelfall zu prüfen und kann bspw. bejaht werden, wenn die beschuldigte Person kurz nach dem (mutmasslichen) Erhalt der Vorladung Dispositionen trifft, wie bspw. Flugtickets bucht oder sich ins Ausland absetzt bzw. untertaucht. Auch ist von einer ordnungsgemässen Zustellung der Vorladung auszugehen, wenn im Hinblick auf den Hauptverhandlungstermin innert der mit Vorladung angesetzten Frist durch die beschuldigte Person Beweismittel eingereicht werden. In diesen Fällen darf nach der hier vertretenen Ansicht davon ausgegangen werden, dass die beschuldigte Person vom Hauptverhandlungstermin und der entsprechenden Vorladung tatsächlich Kenntnis erlangt hat, ansonsten sie wohl kaum fristgetreue Eingaben machen würde. Die Beweislast für eine tatsächliche Kenntnisnahme und somit für das Vorliegen einer ordnungsgemässen Zustellung liegt jedoch in jedem Fall bei den Strafbehörden.
21 Gültig ist eine Zustellung ebenfalls unter Annahme der Zustellungsfiktion gem. Art. 85 Abs. 4 StPO, wenn die eingeschriebene Postsendung nicht abgeholt wurde oder wenn der Adressat die Annahme der eingeschriebenen Postsendung verweigert hat.
22 Nicht ordnungsgemäss ist die Zustellung der Vorladung hingegen dann, wenn sie einzig an den amtlichen oder privaten Verteidiger ergeht. In der Praxis wird sowohl von Seiten der Gerichte als auch der Anwaltschaft oftmals verkannt, dass dieser Zustellweg den gesetzlichen Ansprüchen nicht genügt. Zustellungen an die Verteidigung werden von Gesetzes wegen zwar für Mitteilungen explizit vorgesehen (Art. 87 Abs. 3 StPO), gelten aber aufgrund der ausdrücklichen Regelung von Art. 87 Abs. 4 StPO nicht für die Zustellung der Vorladung, die einer persönlichen Zustellung an die zur Verhandlung zu erscheinende Partei und somit an die beschuldigte Person selber bedarf. Als gangbarer Weg erscheint die Möglichkeit, der Verteidigung zusammen mit ihrer Orientierungskopie ein zusätzliches Exemplar der Vorladung auszuhändigen, damit sie diese – quasi als Hilfsperson des Gerichts – an ihre Klientschaft weiterleitet. In solchen Fällen ist dem Gericht allerdings eine Zustellbescheinigung, unterzeichnet durch die beschuldigte Person, vorzulegen, die belegt, dass die Vorladung durch die beschuldigte Person tatsächlich zur Kenntnis genommen wurde. Nicht alle Anwälte sind bereit, als «Zustellgehilfen des Gerichts» zu fungieren. Dies wäre aber angesichts der Vereinfachung von mitunter komplizierten und oft langwierigen Zustellwegen – insbesondere bei Zustellungen ins Ausland, welche auf dem Rechtshilfeweg zu erfolgen haben – aus Sicht der Strafbehörden wünschenswert.
23 Mittels öffentlicher Ausschreibung nach Art. 88 StGB kann ebenfalls gültig zur Hauptverhandlung vorgeladen werden. Dies unter den alternativen Voraussetzungen, dass der Aufenthaltsort der Adressatin oder des Adressaten unbekannt ist und trotz zumutbarer Nachforschungen nicht ermittelt werden kann (Art. 88 lit. a StPO), eine Zustellung unmöglich ist oder mit ausserordentlichen Umtrieben verbunden wäre (Art. 88 lit. b StPO) oder eine Partei oder ihr Rechtsbeistand mit Wohnsitz, gewöhnlichem Aufenthaltsort oder Sitz im Ausland kein Zustellungsdomizil in der Schweiz bezeichnet hat (Art. 88 lit. c StPO). Die rechtmässige öffentliche Bekanntmachung schafft die Fiktion der Zustellung, d.h. die unwiderlegbare Vermutung, dass der Inhalt der Mitteilung dem Adressaten zur Kenntnis gelangt ist.
24 Eine gültige Zustellung einer Vorladung liegt immer nur dann vor, wenn die Frist nach Art. 202 StPO eingehalten wurde. So sind Vorladungen im gerichtlichen Verfahren mindestens 10 Tage vor der Verfahrenshandlung zuzustellen (Art. 202 Abs. 1 lit. b StPO). Öffentliche Vorladungen sind mindestens einen Monat vor der Verfahrenshandlung zu publizieren (Art. 202 Abs. 2 StPO).
D. Ausreichende Gelegenheit zur Äusserung (rechtliches Gehör; Abs. 4 lit. a)
25 Die in Art. 366 Abs. 4 lit. a StPO enthaltene materielle Voraussetzung fliesst direkt aus dem konventions- und verfassungsrechtlichen Grundsatz nach Art. 6 EMRK bzw. den allgemeinen Verfahrensgarantien von Art. 29 BV, wonach die beschuldigte Person das Recht hat, am Verfahren teilzunehmen und sich zu sämtlichen Vorwürfen äussern zu können. Die Bestimmung verdeutlicht, dass es kein Vorverfahren gegen Abwesende gibt; kann die beschuldigte Person im Vorverfahren wegen unbekannten Aufenthalts nicht einvernommen werden, ist das Verfahren schon von der Staatsanwaltschaft zu sistieren.
26 Ausreichende Gelegenheit zur Äusserung wurde immer dann gewährt, wenn die beschuldigte Person im Vorverfahren durch die Staatsanwaltschaft einlässlich und zu allen angeklagten Tatbeständen einvernommen wurde. Der staatsanwaltschaftlichen Einvernahme gleichzusetzen sind in diesem Zusammenhang die an die Polizeibehörden nach Art. 312 Abs. 2 StPO delegierten Einvernahmen sowie die rechtshilfeweise durch eine ausserkantonale oder ausländische Staatsanwaltschaft unter Wahrung der Parteirechte durchgeführten Einvernahmen.
27 Hatte die beschuldigte Person im Vorverfahren keine ausreichende Gelegenheit zur Äusserung und kann ihr das rechtliche Gehör auch im gerichtlichen Hauptverfahren nicht gewährt werden, kann zu diesem Zeitpunkt kein Urteil ergehen. Das Verfahren ist in Anwendung von Art. 366 Abs. 2 i.V.m. Art. 329 Abs. 2 StPO zu sistieren.
E. Liquider Sachverhalt (Abs. 4 lit. b)
28 Für die Durchführung eines Abwesenheitsverfahrens ist weiter vorausgesetzt, dass der Sachverhalt liquid bzw. spruchreif ist. Mit anderen Worten muss das Gericht in der Lage sein, gestützt auf die vorhandenen Beweismittel ein Urteil zu fällen.
29 Liquid ist der Sachverhalt vorab bei Vorliegen eines überprüfbaren oder glaubhaften Geständnisses der beschuldigten Person in Bezug auf den ihr vorgeworfenen Sachverhalt. Lässt sich dieses Geständnis durch die Akten stützten, steht einer sofortigen Beurteilung der Sache im Abwesenheitsverfahren – sofern auch die anderen Voraussetzungen erfüllt sind – nichts im Weg.
30 Liegt kein Geständnis der beschuldigten Person vor, ist für das Vorliegen eines spruchreifen Sachverhalts vorausgesetzt, dass die Beweislage eindeutig ist und die Schuld durch stichhaltige Beweise nachgewiesen werden kann. Auch kann bereits zu Beginn der Verhandlung klar sein, dass eine Verurteilung in Anwendung des Grundsatzes «in dubio pro reo» nicht möglich erscheint. In diesem Fall kann die beschuldigte Person im Abwesenheitsverfahren auch freigesprochen werden.
31 Nicht liquid ist der Sachverhalt hingegen dann, wenn der persönliche Eindruck der vorgeladenen aber unentschuldigt nicht erschienenen Person für das Gericht zur Fällung eines Urteils von entscheidender Bedeutung ist. Erlaubt die Akten- und die sich daraus ergebende Beweislage eine Beurteilung ohne Anwesenheit der beschuldigten Person nicht, ist die Verhandlung abzubrechen und zu einem neuen Termin vorzuladen oder aber die vorgeladene Person mittels polizeilicher Hilfe zum Gerichtstermin vorführen zu lassen. Gelingt auch die Zuführung nicht, ist das Verfahren nach Art. 366 Abs. 2 letzter Satz StPO zu sistieren.
III. Sistierung (Art. 366 Abs. 2 letzter Satz StPO)
32 Alternativ zur Durchführung eines Abwesenheitsverfahrens lässt es das Gesetz nach Art. 366 Abs. 2 letzter Satz StPO zu, bei Abwesenheit der beschuldigten Person das Verfahren zu sistieren. Dieses Vorgehen ist vorab dann sinnvoll, wenn die beschuldigte Person bloss vorübergehend (bspw. ferienhalber) abwesend oder verhandlungsunfähig ist und damit gerechnet werden kann, dass das Verfahren innert angemessener Frist unter Gewährung des verfassungsrechtlich garantierten Teilnahmerechts im ordentlichen Verfahren zu Ende geführt werden kann. Angezeigt ist eine Sistierung auch dann, wenn das Gericht eine Befragung der beschuldigten Person oder weitere Beweisabnahmen für notwendig hält.
IV. Ausnahmen und Abgrenzungen
A. Dispensation von der Hauptverhandlung (Art. 336 StPO)
33 Abzugrenzen ist das unentschuldigte Nichterscheinen von der Möglichkeit nach Art. 336 StPO, sich von der persönlichen Anwesenheit an der Hauptverhandlung dispensieren zu lassen. Die Verfahrensleitung kann nach Art. 336 Abs. 3 StPO die beschuldigte Person auf ihr Gesuch hin vom persönlichen Erscheinen an der Hauptverhandlung dispensieren, wenn sie wichtige Gründe geltend macht und ihre Anwesenheit nicht erforderlich ist. Lässt sich die beschuldigte Person dispensieren und wird das Gesuch bewilligt, ist es dem Gericht möglich, bereits beim ersten Termin die Hauptverhandlung durchzuführen und ein Urteil zu fällen. Es findet diesfalls ein ordentliches Verfahren statt.
B. Verlassen des Verhandlungsortes (Art. 340 Abs. 1 lit. c StPO)
34 Wurde die Hauptverhandlung in Anwesenheit der beschuldigten Person eröffnet und verlässt sie im späteren Verlauf den Verhandlungsort, ohne sich vorgängig dispensieren zu lassen, wird die Verhandlung ohne die abwesende beschuldigte Person fortgesetzt und zu Ende geführt (Art. 340 Abs. 1 lit. c StPO). Das Verfahren wird dabei in der zu Beginn der Verhandlung festgelegten Verfahrensart weitergeführt. Das Abwesenheitsverfahren kommt diesfalls nicht zur Anwendung.
C. Nichterscheinen zur Fortsetzungsverhandlung
35 Erscheint die beschuldigte Person vorladungsgemäss zur Hauptverhandlung, muss diese aber aus anderen Gründen abgebrochen und an einem Fortsetzungstermin weitergeführt werden, so ist nach der hier vertretenen Ansicht bei unentschuldigtem Nichterscheinen am Fortsetzungstermin ebenfalls kein Abwesenheitsverfahren durchzuführen.
36 Die Verfahrensart wurde bei Eröffnung der Verhandlung am ersten Termin festgesetzt und kann im Nachhinein nicht mehr verändert werden. Das Nichterscheinen zur Fortsetzungsverhandlung gilt nach der hier vertretenen Ansicht als eine besondere Form des Verlassens des Verhandlungsortes und das hiervor zu Ziff. II. B. Gesagte ist analog anzuwenden. Unter den gegebenen Umständen erscheint es allerdings als angezeigt, der beschuldigten Person eine «Respektviertelstunde» einzuräumen und nach Möglichkeit zu versuchen, sie zu kontaktieren. Aufgrund des Erscheinens zum ersten Termin kann ohne gegenteilige Anzeichen nicht per se davon ausgegangen werden, die beschuldigte Person habe am weiteren Verlauf des Verfahrens kein Interesse (mehr).
37 Sollte sich herausstellen, dass die beschuldigte Person ohne eigenes Verschulden den Fortsetzungstermin verpasst hat, ist ihr nach der hier vertretenen Ansicht eine zweite Chance zu gewähren und die Verhandlung erneut abzubrechen. Sollte sich die Säumnis beim nächsten Fortsetzungstermin wiederholen, kann das Verfahren ohne weiteres im ordentlichen Verfahren zu Ende geführt werden. Vorbehalten bleibt in jedem Fall ein rechtsmissbräuchliches und rein prozesstaktisches Verhalten
D. Ausschluss vom weiteren Verfahren (Art. 63 Abs. 4 StPO)
38 Muss die zur Anwesenheit verpflichtete beschuldigte Person in Anwendung von sitzungspolizeilichen Massnahmen aufgrund ihres Verhaltens vom weiteren Verfahren ausgeschlossen werden (Art. 63 Abs. 4 StPO), wird die Verhandlung ohne die beschuldigte Person fortgesetzt und zu Ende geführt. Auch hier ist die zu Beginn der Verhandlung in Anwesenheit der Partei(en) festgesetzte Verfahrensart beizubehalten. Das Abwesenheitsverfahren findet keine Anwendung.
E. Säumnis im Einspracheverfahren gegen einen Strafbefehl (Art. 356 Abs. 4 StPO)
39 Hat das Gericht eine Einsprache gegen einen Strafbefehl zu beurteilen, so hat die Einsprache erhebende Person eine Mitwirkungsobliegenheit: Bleibt sie trotz Vorladung einer Einvernahme unentschuldigt fern, gilt ihre Einsprache von Gesetzes wegen als zurückgezogen (Art. 355 Abs. 2 StPO). Diese vorab für das staatsanwaltschaftliche Einspracheverfahren konzipierte Rückzugsfiktion gilt gemäss Art. 356 Abs. 2 StPO analog auch bei Nichterscheinen der einsprechenden Person zur gerichtlichen Hauptverhandlung. Der Rückzug der Einsprache wird demnach fingiert, sofern die beschuldigte Person ordnungsgemäss zur Hauptverhandlung vorgeladen wurde und sich vor Gericht nicht anwaltlich vertreten lässt. Erscheint die Verteidigung zur Hauptverhandlung aber nicht die einsprechende Person, so ist die Verhandlung abzubrechen und an einem späteren Termin neu anzusetzen. Vorbehalten bleibt eine allfällige Dispensation der beschuldigten Person, die eine Durchführung der Verhandlung ohne den Beschuldigten erlaubt.
40 Für die Frage, wann eine einsprechende Person nach Art. 356 Abs. 4 StPO als unentschuldigt säumig gilt, kann auf das oben ausgeführte verwiesen werden.
41 Die Rückzugsfiktion ist allerdings im Einspracheverfahren dann nicht anwendbar, wenn die beschuldigte Person im Ausland lebt und die Vorladung im Ausland zuzustellen ist. Gemäss Art. 69 IRSG (SR 351.1) ist, wer eine Vorladung zum Erscheinen vor einer ausländischen Behörde entgegennimmt, nicht verpflichtet, ihr Folge zu leisten (Abs. 1). Vorladungen, die Zwangsandrohungen enthalten, werden nicht zugestellt (Abs. 2). Insofern dürfen die schweizerischen Behörden dem sich im Ausland aufhaltenden Beschuldigten zwar Vorladungen zusenden, wobei diese jedoch keine Zwangsandrohungen enthalten dürfen. Sie stellen in der Sache blosse Einladungen dar, denen die beschuldigte Person folgen kann oder nicht. Erscheint die im Ausland wohnende einsprechende Person nicht zur Hauptverhandlung, hat das Gericht in analoger Anwendung von Art. 366 Abs. 1 StPO bei gegebenen Voraussetzungen das Abwesenheitsverfahren in Aussicht zu stellen und zu einem zweiten Termin vorzuladen. Bleibt die einsprechende Person auch beim zweiten Termin unentschuldigt fern, ist bei Vorliegen sämtlicher Voraussetzungen das Abwesenheitsverfahren durchzuführen. Die Rückzugsfiktion androhen dürfen die schweizerischen Behörden der beschuldigten Person nur dann, wenn sie sich freiwillig in die Schweiz begibt und die Vorladung hier zugestellt werden kann.
F. Säumnis im abgekürzten Verfahren (Art. 358 ff. StPO)
42 Im abgekürzten Verfahren gem. Art. 358 ff. StPO ist bei Nichterscheinen der beschuldigten Person die Durchführung eines Abwesenheitsverfahrens nicht möglich. Ein Verfahren ohne Anwesenheit der beschuldigten Person würde der ausdrücklichen Vorgabe von Art. 361 Abs. 2 StPO widersprechen, wonach im abgekürzten die persönliche Befragung der beschuldigten Person zum Zwecke der Überprüfung des Geständnisses und der Prüfung der Übereinstimmung des Sachverhalts mit der Aktenlage vorgeschrieben ist.
G. Abwesenheit der beschuldigten Person im Verfahren bei schuldunfähigen Personen (Art. 374 Abs. 2 lit. a StPO)
43 Kein Abwesenheitsverfahren gem. Art. 366 ff. StPO ist durchzuführen, wenn das Gericht bei einer schuldunfähigen Person mit Rücksicht auf deren Gesundheitszustand oder zum Schutz ihrer Persönlichkeitsrechte in ihrer Abwesenheit tagt.
H. Säumnis im Berufungsverfahren
44 Im Berufungsverfahren kommt die Durchführung eines Abwesenheitsverfahrens gestützt auf Art. 407 Abs. 2 StPO nur dann in Betracht, wenn die Staatsanwaltschaft oder die Privatklägerschaft Berufung gegen das erstinstanzliche Urteil erhoben haben. Bleibt in dieser Konstellation die beschuldigte Person als nicht berufungsführende Person der Berufungsverhandlung unentschuldigt fern, ist das Abwesenheitsverfahren nach Art. 366 ff. StPO in Aussicht zu stellen und zu einem zweiten Termin vorzuladen. Bleibt die beschuldigte Person auch beim zweiten Termin säumig und sind die restlichen Voraussetzungen erfüllt, kann auch im Berufungsverfahren ein Abwesenheitsurteil gefällt werden.
45 Ist die beschuldigte Person berufungsführende Partei und bleibt sie in dieser Eigenschaft der Berufungsverhandlung unentschuldigt fern und lässt sich auch nicht vertreten, gilt die Berufung von Gesetzes wegen als zurückgezogen (Art. 407 Abs. 1 lit. a StPO). Wird die säumige beschuldigte Person vor zweiter Instanz anwaltlich vertreten, ist die Berufungsverhandlung dennoch im ordentlichen Verfahren durchzuführen. Ein Abwesenheitsverfahren gemäss den Art. 366 ff. StPO findet diesfalls nicht statt (Art. 407 Abs. 2 StPO, e contrario). Erscheint zwar die berufungsführende beschuldigte Person zur Berufungsverhandlung, bleibt hingegen die (amtliche) notwendige Verteidigung aus, ist die Verhandlung von Gesetzes wegen zu verschieben (Art. 336 Abs. 5 StPO i.V.m. Art. 405 Abs. 1 StPO).
46 Fand vor erster Instanz ein Abwesenheitsverfahren statt und erhob die amtliche Verteidigung in Ausübung ihrer anwaltlichen Sorgfaltspflicht im Namen des noch immer abwesenden Beschuldigten Berufung, so ist Mangels Kenntnis des Aufenthaltsortes der berufungsführenden Person und somit aufgrund der Unmöglichkeit der Zustellung der Vorladung zur Berufungsverhandlung gestützt auf die Rückzugsfiktion gemäss Art. 407 Abs. 1 Bst. c StPO von einer zurückgezogenen Berufung auszugehen.
Schematischer Überblick über das Abwesenheitsverfahren
Schematischer Überblick über das Abwesenheitsverfahren
Literaturverzeichnis
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