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Kommentierung zu
Art. 366 StPO

Eine Kommentierung von Denise Weingart

Herausgegeben von Sonja Koch

defriten

I. Einleitung

1 Der Begriff des Abwesenheitsverfahrens, auch Kontumazialverfahren genannt, bezeichnet ein gerichtliches Hauptverfahren, welches in einem Urteil seinen Abschluss findet, ohne dass die beschuldigte Person persönlich vor Gericht erschienen ist.

2 Ein Verfahren in Abwesenheit der beschuldigten Person tangiert den aus dem Konventionsrecht (Art. 6 EMRK), dem Verfassungsrecht (Art. 29 Abs. 2 BV) sowie dem Gesetzesrecht (Art. 3 StPO) fliessenden Anspruch auf ein faires Verfahren. Gemäss diesem Grundsatz des «fair trials» kann die beschuldigte Person an einem gegen sie gerichteten Strafverfahren teilnehmen und Parteirechte ausüben, was ihr bei Nichtteilnahme an der Gerichtsverhandlung verwehrt bleibt. Ebenfalls widerspricht das Abwesenheitsverfahren dem in Art. 343 StPO verankerten «Unmittelbarkeitsprinzip», wonach sich das Gericht von der beschuldigten Person einen persönlichen Eindruck verschafft, wobei die Befragung des Beschuldigten von Gesetzes wegen eingehend und gleich zu Beginn des Beweisverfahrens erfolgen soll (Art. 341 Abs. 4 StPO). Der unmittelbare Eindruck einer beschuldigten Person auf das Gericht kann unter Umständen für die Urteilsfindung von wesentlicher Bedeutung sein. Dieser Eindruck fehlt, wenn die beschuldigte Person nicht an der Hauptverhandlung teilnimmt. Vor dem Hintergrund dieser tangierten Verfahrensgrundsätze erstaunt es nicht, dass die Durch­führung von Abwesenheitsverfahren Gegenstimmen erhält.

3 Trotz dieser Bedenken kann und darf nach der hier vertretenen Ansicht das Abwesenheitsverfahren nicht mehr aus der Praxis weggedacht werden. Auch wenn eine beschuldigte Person nach dem Grundsatz nemo tenetur se ipsum accusare nicht verpflichtet werden kann, zu seiner Verurteilung beizutragen, besteht in einem Rechtsstaat grundsätzlich ein Interesse an effektiver Strafverfolgung. Das Recht auf persönliche Teilnahme an der Verhandlung kann deshalb – wie dies auch vom Bundesgericht klar festgehalten wurde

– keine absolute Geltung beanspruchen.

4 Ohne die Möglichkeit des Verhandelns in Abwesenheit der beschuldigten Person könnten zahlreiche Anklagen nicht gerichtlich behandelt und die Verfahren nicht oder zumindest nicht zeitnah abgeschlossen werden, weil es aus den unterschiedlichsten Gründen (bspw. mangels Kenntnis des Aufenthaltsortes des Beschuldigten oder aufgrund der verweigernden Haltung dem Strafverfahren gegenüber etc.) nicht möglich ist, den Beschuldigten zum Erscheinen vor Gericht zu bewegen. Zu hoch wäre die Anzahl an Verfahren, die mangels Durchführbarkeit einer Hauptverhandlung verzögert, allenfalls sistiert und schliesslich aufgrund des Eintritts der Verfolgungsverjährung eingestellt werden müssten, was aus rechtsstaatlichen Gesichtspunkten nicht hinzunehmen ist. Nach der hier vertretenen Auffassung soll und darf es nicht vom Verhalten der beschuldigten Person abhängen dürfen, ob ein gegen diese Person geführtes Verfahren abgeschlossen werden kann oder nicht.

5 Ebenfalls nicht hinzunehmen ist, dass die beschuldigte Person durch ihr eigenes Verhalten das Verfahren wesentlich verzögern kann, indem sie der Verhandlung aus nicht entschuldbaren Gründen fernbleibt. Dagegen spräche denn auch das ebenfalls aus Konventionsrecht (Art. 6 EMRK) und Verfassungsrecht (Art. 29 Abs. 1 BV) fliessende Beschleunigungsgebot nach Art. 5 Abs. 1 StPO, welches die Strafverfolgungsbehörden verpflichtet, das Verfahren unverzüglich an die Hand zu nehmen und ohne unbegründete Verzögerung zum Abschluss zu bringen.

6 Auch generalpräventive Überlegungen spielen dabei eine Rolle. So soll das Rechtsbewusstsein durch den Befriedungseffekt der Strafe zwischen Täter und Opfer nicht dadurch ausgehöhlt werden, dass sich die beschuldigte Person dem Verfahren entziehen kann. Schliesslich soll die Allgemeinheit von der Begehung von Straftaten abgeschreckt werden, was bei der Einstellung von Verfahren aufgrund der verweigernden Haltung der beschuldigten Person gegenüber dem Strafverfahren nicht den erwünschten Effekt hervorbringen dürfte.

7 Insgesamt sind die Eingriffe in die Verfahrensrechte der beschuldigten Person bei Nichterscheinung vor Gericht durch Durchführung eines Abwesenheitsverfahrens gerechtfertigt und – bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen, auf welche nachfolgend im Einzelnen eingegangen wird – entsprechend hinzunehmen.

II. Die Voraussetzungen des Abwesenheitsverfahrens

A. Vorbemerkung

8 Um den Ansprüchen des «fair trials» begegnen zu können, hat ein Abwesenheitsverfahren stets als Ausnahme zu gelten. Der Gesetzgeber hat entsprechend die Voraussetzungen für die Durchführung eines solchen Verfahrens streng formuliert. Neben dem Vorliegen der allgemeinen Prozessvoraussetzungen wie insb. eine ordnungsgemässe Anklage, Zuständigkeit des Gerichts, Strafantrag bei Antragsdelikten, keine andere Rechtshängigkeit oder bereits eingetretene Rechtskraft, Verhandlungsfähigkeit der beschuldigten Person etc.

sind von Gesetzes wegen bei der Durchführung eines Abwesenheitsverfahrens weitere Voraussetzungen zu erfüllen: So kann ein Kontumazialurteil nicht bereits nach der ersten unentschuldigten Abwesenheit der beschuldigten Person an der Hauptverhandlung ausgefällt werden, sondern es muss zu einem zweiten Hauptverhandlungstermin vorgeladen werden (Art. 366 Abs. 1 StPO).

9 Beide Vorladungen haben jeweils ordnungsgemäss zu erfolgen. Sodann kann ein Urteil in Abwesenheit der beschuldigten Person nur dann ergehen, wenn die beschuldigte Person im bisherigen Verfahren ausreichend Gelegenheit hatte, sich zu den ihr vorgeworfenen Straftaten zu äussern (Art. 366 Abs. 4 lit. a StPO) und der Sachverhalt liquid, d.h. spruchreif, ist (Art. 366 Abs. 4 lit. b StPO). Die strengen Voraussetzungen und die Gefahr, dass bei Antrag auf Neubeurteilung (Art. 368 StPO) allenfalls noch eine dritte Hauptverhandlung durchgeführt werden muss, was einen erheblichen Aufwand für alle Beteiligten – insbesondere für die Strafbehörden – bedeutet, führen dazu, dass das Abwesenheitsverfahren in der Praxis eher zurückhaltend angewendet wird.

B. Unentschuldigtes Nichterscheinen der beschuldigten Person

10 Bleibt die beschuldigte Person unentschuldigt der Hauptverhandlung fern, so sind nach gesetzlicher Bestimmung die Vorschriften über das Abwesenheitsverfahren anwendbar (Art. 336 Abs. 4 StPO). Mit Fernbleiben ist Säumnis nach Art. 93 StPO gemeint, wonach eine Partei dann säumig ist, wenn sie zu einem Termin nicht erscheint. Das Nichterscheinen muss sodann unentschuldigt sein, weshalb bspw. bei einer vorgängigen Dispensation nicht von Säumnis gesprochen werden kann. Die säumige Person muss allenfalls vorhandene entschuldigende Gründe glaubhaft vorbringen.

Die Strafbehörden haben die Entschuldigungsgründe zu prüfen.
Die tatsächliche Voraussetzung der Entschuldbarkeit ist eine Beweisfrage. Die Beweis­würdigung ist Aufgabe des Sachgerichts.

11 Einer Vorladung ist Folge zu leisten und wer verhindert ist, hat dies der vorladenden Behörde unverzüglich mitzuteilen (Art. 205 Abs. 1 und 2 StPO). Insofern gilt als unentschuldigt grundsätzlich, wer die korrekt ergangene Vorladung

erhalten hat und nicht zum Verhandlungstermin erschienen ist, obwohl es bei Vorliegen von Verhinderungsgründen möglich gewesen wäre, um eine Verschiebung zu ersuchen oder mindestens das Nichterscheinen rechtzeitig zu begründen.

12 Unentschuldigtes Nichterscheinen i.S.v. Art. 366 f. StPO setzt ein schuldhaftes Fernbleiben voraus.Verlangt wird, dass die beschuldigte Person der Verhandlung bewusst und freiwillig fernbleibt.

So kann bspw. von unentschuldigtem Fernbleiben ausgegangen werden, wenn die vorgeladene Person aus Angst vor einer Verurteilung, aus Scham, Faulheit oder Gleichgültigkeit nicht zur Hauptverhandlung erscheint.
Abwesenheit aus Furcht vor einer Verhaftung wird gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung ebenfalls nicht als entschuldbare subjektive Unmöglichkeit gewertet, da das öffentliche Interesse an der Durchführung des Strafverfahrens (auch gegen einen Abwesenden) schwerer wiegt als das gegenläufige persönliche Interesse der beschuldigten Person, sich einer in einem anderen Verfahren bereits rechtskräftig ausgesprochenen Strafe durch Flucht entziehen zu können.
Nicht entschuldbar ist weiter das Nichterscheinen aufgrund von Arbeitsüberlastung, mangelnder Sprachkenntnisse, blosser Rechtsunkenntnis etc. Auch das Nichterscheinen nach einem abgelehntem Verschiebungsgesuch (Art. 205 Abs. 2 StPO)
oder abschlägig beurteilten Dispensationsgesuch (Art. 336 Abs. 3 StPO) führt zu unentschuldigter Säumnis.

13 Von Gesetzes wegen unentschuldigt gilt sodann, wer sich selber in den Zustand der Verhandlungsunfähigkeit versetzt oder sich weigert, aus der Haft zur Hauptverhandlung vorgeführt zu werden. In beiden Fällen kann von Gesetzes wegen sofort, d.h. bereits beim ersten Termin, ein Abwesenheitsverfahren durchgeführt werden (Art. 366 Abs. 3 StPO). Die Verweigerung der Zuführung lässt sich i.d.R. ohne weiteres darin erkennen, dass die für die Zuführung beauftragte Polizeibeamten die beschuldigte Person nicht dazu bewegen können, den Transport zum Gericht anzutreten. Die zweite Variante des Versetzens in einen verhandlungsunfähigen Zustand erfüllt, wer körperlich und/oder geistig nicht (mehr) in der Lage ist, der Verhandlung zu folgen (Art. 114 Abs. 1 StPO e contrario). Selbstverschuldet ist eine Verhandlungsunfähigkeit bspw. dann, wenn die Teilnahme an der Verhandlung aufgrund von vorgängigem Drogen- oder Alkoholkonsum oder wegen vorgängiger Selbstverletzung oder Selbstgefährdung verunmöglicht wird. Sowohl mit der Weigerung, vor Gericht zu erscheinen, als auch mit dem selbstständigen Versetzen in einen verhandlungsunfähigen Zustand, zeigt die beschuldigte Person ihr Desinteresse an der Teilnahme am Gerichtsverfahren. Sie ist aufgrund eigenen Verschuldens am gerichtlichen Termin abwesend bzw. nicht in der Lage, der Verhandlung zu folgen. Es ist von einem konkludenten Verzicht auf die ihr zustehenden Verfahrensrechte, insbesondere auf das Recht auf persönliche Teilnahme an der Hauptverhandlung und das Äusserungsrecht, auszugehen. Ist die persönliche Anwesenheit der ordnungsgemäss vorgeladenen beschuldigten Person nicht zwingend erforderlich, kann das Gericht bei liquidem Sachverhalt in Abwesenheit der säumigen Partei bereits beim ersten Termin verhandeln und ein Kontumazialurteil fällen. Andernfalls ist sie mittels Zuführungsbefehl an die Polizei zwangsweise zum Gericht zu beordern oder die Hauptverhandlung ist zu verschieben, allenfalls das Verfahren zu sistieren.

14 Entschuldigt nicht erschienen ist hingegen, wer aufgrund von objektiver Unmöglichkeit (höhere Gewalt) oder subjektiver Unmöglichkeit (persönliche Umstände, Irrtum) nicht zur Verhandlung erscheinen kann.

Vorausgesetzt ist, dass es den Betroffenen unmöglich war, am Termin zu erscheinen, so z.B. aufgrund von Naturkatastrophen, Kriegsereignissen, Unfällen mit schwerwiegenden gesundheitlichen Folgen, Inhaftierungen, schwere Erkrankung des Betroffenen selbst oder allenfalls einer hilfsbedürftigen Drittperson, für die der Betroffene verantwortlich ist, Todesfälle in der Familie, kurzfristiger Einsatz im Militärdienst etc.

15 Liegt ein Irrtum über die Erscheinungspflicht vor, so hat das Gericht zu eruieren, wie es zu diesem Irrtum gekommen ist und ob der Irrtum von der beschuldigten Person selber zu verantworten ist. Zu berücksichtigen ist dabei, ob die Säumnis durch einen Umstand eingetreten ist, der nach den Regeln vernünftiger Interessenwahrung auch von einer sorgsamen Person nicht befürchtet werden muss.

So kann bspw. die irrtümliche Annahme einer beschuldigten Person, die Vorladung sei durch Einreichung eines ihrer Ansicht nach genügenden Beweisfotos obsolet geworden, nicht als entschuldigenden Grund geschützt werden.
Dies umso mehr nicht, wenn der Beschuldigte auf der Vorladung ausdrücklich auf die Pflicht zum Erscheinen hingewiesen wurde.

16 In der aktuellen Pandemiesituation stellt sich in Bezug auf die Entschuldbarkeit die Frage, wie bei Personen vorzugehen ist, welche sich zwar termingerecht zum Gericht begeben, sich aber weigern, das Gerichtsgebäude aufgrund der in öffentlichen Gebäuden zeitweilig geltenden Maskenpflicht zu betreten. Nach der hier vertretenen Ansicht darf in solchen Konstellationen von einem freiwilligen bzw. selbstverschuldeten Nichterscheinen und folglich von einer unentschuldigten Abwesenheit der beschuldigten Person mit den entsprechenden Rechtsfolgen

ausgegangen werden.

17 Für die Durchführung eines Abwesenheitsverfahrens ist in persönlicher Hinsicht vorausgesetzt, dass die beschuldigte Person säumig ist. Erscheint zwar die beschuldigte Person aber nicht die Verteidigung zur Hauptverhandlung, ist – Missbrauchsfälle vorbehalten

– kein Abwesenheitsverfahren durchzuführen und die Verhandlung ist zu verschieben (Art. 336 Abs. 5 StPO). Bei Säumnis der Staatsanwaltschaft ist ebenfalls ein neuer Termin festzusetzen (Art. 337 Abs. 5 StPO). Ebenfalls kein Grund für die Durchführung eines Abwesenheitsverfahrens liegt vor, wenn die Privatklägerschaft unentschuldigt nicht zur Verhandlung erscheint: Diesfalls kann die Verhandlung gem. Art. 339 ff. StPO fortgesetzt und mit Urteil im ordentlichen Verfahren abgeschlossen werden. Der Privatklägerschaft steht gegen das in ihrer Abwesenheit gefällte Urteil die Berufung offen. Die Möglichkeit, eine neue Beurteilung gem. Art. 368 StPO zu verlangen, steht ihr demgegenüber nicht zu, da sich dieser Rechtsbehelf einzig an die verurteilte Person richtet.

18 Wann in zeitlicher Hinsicht eine Säumnis vorliegt, ist im jeweiligen Einzelfall in Ausübung des pflichtgemässen Ermessens durch das Gericht zu entscheiden. Hat bspw. die beschuldigte Person vorgängig zu ihrem Nichterscheinen ihr Desinteresse an einer Teilnahme an der Hauptverhandlung kundgetan, erscheint es nicht nötig, längere Zeit zuzuwarten, bis die Hauptverhandlung abgebrochen und zum neuen Termin vorgeladen wird bzw. beim zweiten Termin das Abwesenheitsverfahren durchgeführt wird. Ist die beschuldigte Person unbekannten Aufenthalts und wurde die Vorladung mittels öffentlicher Ausschreibung publiziert, so erscheint nach der hier vertretenen Ansicht die Gewährung einer sogenannten «Respektviertelstunde» als ausreichend.

Wurde von Seiten der beschuldigten Person eine Verspätung angekündigt, erscheint es angezeigt, das Eintreffen der beschuldigten Person abzuwarten bzw. auch eine längere, d.h. über die Respektviertelstunde hinausgehende Verzögerung hinzunehmen und die Hauptverhandlung erst in Anwesenheit der beschuldigten Person zu eröffnen. Andernfalls liefe das Gericht Gefahr, in überspitzten Formalismus zu verfallen
bzw. eine nicht verhältnismässige Verletzung der verfassungsmässig garantierten Verfahrensrechte einzugehen.

C. Ordnungsgemässe Vorladung zur Hauptverhandlung

19 Unentschuldigt von einer Verhandlung fernbleiben kann nur, wer vorgängig ordnungsgemäss vorgeladen wurde. Ordnungsgemäss vorgeladen i.S.v. Art. 201 ff. i.V.m. Art. 85 ff. StPO bedeutet, dass die Vorladung dem Beschuldigten entweder direkt zugestellt wurde oder – bei Vorliegen der entsprechenden Voraussetzungen

– eine öffentliche Ausschreibung nach Art. 88 StGB erfolgte und die Fristen für eine rechtsgültige Vorladung
eingehalten wurden.

20 Eine ordnungsgemässe direkte Zustellung an den Beschuldigten liegt vor, wenn der Versand per Einschreiben erfolgte und die Vorladung gegen Unterschrift ausgehändigt wurde. Dabei reicht eine Zustellung an einen Angestellten oder Hausgenossen grundsätzlich aus (Art. 85 Abs. 3 StPO). Ebenfalls ausreichend ist, wenn die beschuldigte Person tatsächlich Kenntnis von der Vorladung erhalten hat. Dies ist im Einzelfall zu prüfen und kann bspw. bejaht werden, wenn die beschuldigte Person kurz nach dem (mutmasslichen) Erhalt der Vorladung Dispositionen trifft, wie bspw. Flugtickets bucht oder sich ins Ausland absetzt bzw. untertaucht. Auch ist von einer ordnungsgemässen Zustellung der Vorladung auszugehen, wenn im Hinblick auf den Hauptverhandlungstermin innert der mit Vorladung angesetzten Frist durch die beschuldigte Person Beweismittel eingereicht werden. In diesen Fällen darf nach der hier vertretenen Ansicht davon ausgegangen werden, dass die beschuldigte Person vom Hauptverhandlungstermin und der entsprechenden Vorladung tatsächlich Kenntnis erlangt hat, ansonsten sie wohl kaum fristgetreue Eingaben machen würde. Die Beweislast für eine tatsächliche Kenntnisnahme und somit für das Vorliegen einer ordnungsgemässen Zustellung liegt jedoch in jedem Fall bei den Strafbehörden.

21 Gültig ist eine Zustellung ebenfalls unter Annahme der Zustellungsfiktion gem. Art. 85 Abs. 4 StPO, wenn die eingeschriebene Postsendung nicht abgeholt wurde oder wenn der Adressat die Annahme der eingeschriebenen Postsendung verweigert hat.

In Anwendung der Zustellfiktion gilt die Zustellung bei unterlassener Abholung oder Verweigerung als am siebten Tag nach dem erfolglosen Zustellungsversuch als zugestellt, sofern die beschuldigte Person mit der Zustellung rechnen musste. Dies ist regelmässig dann der Fall, wenn gegen die beschuldigte Person bereits eine Voruntersuchung durchgeführt wurde und Anklage gegen sie erhoben bzw. ein Strafbefehl erlassen wurde.

22 Nicht ordnungsgemäss ist die Zustellung der Vorladung hingegen dann, wenn sie einzig an den amtlichen oder privaten Verteidiger ergeht. In der Praxis wird sowohl von Seiten der Gerichte als auch der Anwaltschaft oftmals verkannt, dass dieser Zustellweg den gesetzlichen Ansprüchen nicht genügt. Zustellungen an die Verteidigung werden von Gesetzes wegen zwar für Mitteilungen explizit vorgesehen (Art. 87 Abs. 3 StPO), gelten aber aufgrund der ausdrücklichen Regelung von Art. 87 Abs. 4 StPO nicht für die Zustellung der Vorladung, die einer persönlichen Zustellung an die zur Verhandlung zu erscheinende Partei und somit an die beschuldigte Person selber bedarf. Als gangbarer Weg erscheint die Möglichkeit, der Verteidigung zusammen mit ihrer Orientierungskopie ein zusätzliches Exemplar der Vorladung auszuhändigen, damit sie diese – quasi als Hilfsperson des Gerichts – an ihre Klientschaft weiterleitet. In solchen Fällen ist dem Gericht allerdings eine Zustellbescheinigung, unterzeichnet durch die beschuldigte Person, vorzulegen, die belegt, dass die Vorladung durch die beschuldigte Person tatsächlich zur Kenntnis genommen wurde. Nicht alle Anwälte sind bereit, als «Zustellgehilfen des Gerichts» zu fungieren. Dies wäre aber angesichts der Vereinfachung von mitunter komplizierten und oft langwierigen Zustellwegen – insbesondere bei Zustellungen ins Ausland, welche auf dem Rechtshilfeweg zu erfolgen haben – aus Sicht der Strafbehörden wünschenswert.

23 Mittels öffentlicher Ausschreibung nach Art. 88 StGB kann ebenfalls gültig zur Hauptverhandlung vorgeladen werden. Dies unter den alternativen Voraussetzungen, dass der Aufenthaltsort der Adressatin oder des Adressaten unbekannt ist und trotz zumutbarer Nachforschungen nicht ermittelt werden kann (Art. 88 lit. a StPO), eine Zustellung unmöglich ist oder mit ausserordentlichen Umtrieben verbunden wäre (Art. 88 lit. b StPO) oder eine Partei oder ihr Rechtsbeistand mit Wohnsitz, gewöhnlichem Aufenthaltsort oder Sitz im Ausland kein Zustellungsdomizil in der Schweiz bezeichnet hat (Art. 88 lit. c StPO). Die rechtmässige öffentliche Bekanntmachung schafft die Fiktion der Zustellung, d.h. die unwiderlegbare Vermutung, dass der Inhalt der Mitteilung dem Adressaten zur Kenntnis gelangt ist.

Die Zustellung gilt vom Publikationstag der Bekanntmachung an als erfolgt (Art. 88 Abs. 2 StPO). Nicht genügend ist eine Vorladung per öffentlicher Ausschreibung, wenn eine beschuldigte Person für unauffindbar erklärt wurde, obwohl seine ausländische Adresse den Behörden bekannt war oder zumindest bei Anwendung der entsprechenden Sorgfalt hätte festgestellt werden können.

24 Eine gültige Zustellung einer Vorladung liegt immer nur dann vor, wenn die Frist nach Art. 202 StPO eingehalten wurde. So sind Vorladungen im gerichtlichen Verfahren mindestens 10 Tage vor der Verfahrenshandlung zuzustellen (Art. 202 Abs. 1 lit. b StPO). Öffentliche Vorladungen sind mindestens einen Monat vor der Verfahrenshandlung zu publizieren (Art. 202 Abs. 2 StPO).

D. Ausreichende Gelegenheit zur Äusserung (rechtliches Gehör; Abs. 4 lit. a)

25 Die in Art. 366 Abs. 4 lit. a StPO enthaltene materielle Voraussetzung fliesst direkt aus dem konventions- und verfassungsrechtlichen Grundsatz nach Art. 6 EMRK bzw. den allgemeinen Verfahrensgarantien von Art. 29 BV, wonach die beschuldigte Person das Recht hat, am Verfahren teilzunehmen und sich zu sämtlichen Vorwürfen äussern zu können. Die Bestimmung verdeutlicht, dass es kein Vorverfahren gegen Abwesende gibt; kann die beschuldigte Person im Vorverfahren wegen unbekannten Aufenthalts nicht einvernommen werden, ist das Verfahren schon von der Staatsanwaltschaft zu sistieren.

Insofern regeln die Art. 366 ff. StPO nur die Abwesenheit einer beschuldigten Person an der Hauptverhandlung.

26 Ausreichende Gelegenheit zur Äusserung wurde immer dann gewährt, wenn die beschuldigte Person im Vorverfahren durch die Staatsanwaltschaft einlässlich und zu allen angeklagten Tatbeständen einvernommen wurde. Der staatsanwaltschaftlichen Einvernahme gleichzusetzen sind in diesem Zusammenhang die an die Polizeibehörden nach Art. 312 Abs. 2 StPO delegierten Einvernahmen sowie die rechtshilfeweise durch eine ausserkantonale oder ausländische Staatsanwaltschaft unter Wahrung der Parteirechte durchgeführten Einvernahmen.

Auch wenn das Gesetz nicht ausdrücklich eine staatsanwaltschaftliche Einvernahme vorschreibt, dürfte eine polizeiliche Einvernahme i.d.R. nicht genügen.
Hat sich der Beschuldigte aber zusätzlich, bspw. mittels Briefs oder E-Mails bei den Strafverfolgungsbehörden gemeldet und sich zur Sache geäussert, so kann dies nach der hier vertretenen Ansicht bereits genügen. Dies insbesondere dann, wenn die beschuldigte Person von Anfang an ihr Desinteresse an der Verhandlungsteilnahme äusserte oder ihre Aussage zur Sache anlässlich der früheren Einvernahme(n) vehement verweigerte. Ebenfalls massgebend ist, ob die beschuldigte Person sich zu den Ergebnissen des Vorverfahrens bzw. zu den ihr vorgeworfenen Sachverhalten äussern konnte. Eine Befragung unter dem Vorwurf der einfachen Körperverletzung reicht selbstredend nicht aus, um dem Anspruch auf rechtliches Gehör in Bezug auf eine später zur Anklage gebrachte vorsätzliche Tötung zu genügen. Es ist folglich jeweils im Einzelfall durch das Gericht abzuwägen, ob dem Anspruch des Beschuldigten auf Äusserung genüge getan wurde.

27 Hatte die beschuldigte Person im Vorverfahren keine ausreichende Gelegenheit zur Äusserung und kann ihr das rechtliche Gehör auch im gerichtlichen Hauptverfahren nicht gewährt werden, kann zu diesem Zeitpunkt kein Urteil ergehen. Das Verfahren ist in Anwendung von Art. 366 Abs. 2 i.V.m. Art. 329 Abs. 2 StPO zu sistieren.

E. Liquider Sachverhalt (Abs. 4 lit. b)

28 Für die Durchführung eines Abwesenheitsverfahrens ist weiter vorausgesetzt, dass der Sachverhalt liquid bzw. spruchreif ist. Mit anderen Worten muss das Gericht in der Lage sein, gestützt auf die vorhandenen Beweismittel ein Urteil zu fällen.

29 Liquid ist der Sachverhalt vorab bei Vorliegen eines überprüfbaren oder glaubhaften Geständnisses der beschuldigten Person in Bezug auf den ihr vorgeworfenen Sachverhalt. Lässt sich dieses Geständnis durch die Akten stützten, steht einer sofortigen Beurteilung der Sache im Abwesenheitsverfahren – sofern auch die anderen Voraussetzungen erfüllt sind – nichts im Weg.

30 Liegt kein Geständnis der beschuldigten Person vor, ist für das Vorliegen eines spruchreifen Sachverhalts vorausgesetzt, dass die Beweislage eindeutig ist und die Schuld durch stichhaltige Beweise nachgewiesen werden kann. Auch kann bereits zu Beginn der Verhandlung klar sein, dass eine Verurteilung in Anwendung des Grundsatzes «in dubio pro reo» nicht möglich erscheint. In diesem Fall kann die beschuldigte Person im Abwesenheitsverfahren auch freigesprochen werden.

31 Nicht liquid ist der Sachverhalt hingegen dann, wenn der persönliche Eindruck der vorgeladenen aber unentschuldigt nicht erschienenen Person für das Gericht zur Fällung eines Urteils von entscheidender Bedeutung ist. Erlaubt die Akten- und die sich daraus ergebende Beweislage eine Beurteilung ohne Anwesenheit der beschuldigten Person nicht, ist die Verhandlung abzubrechen und zu einem neuen Termin vorzuladen oder aber die vorgeladene Person mittels polizeilicher Hilfe zum Gerichtstermin vorführen zu lassen. Gelingt auch die Zuführung nicht, ist das Verfahren nach Art. 366 Abs. 2 letzter Satz StPO zu sistieren.

III. Sistierung (Art. 366 Abs. 2 letzter Satz StPO)

32 Alternativ zur Durchführung eines Abwesenheitsverfahrens lässt es das Gesetz nach Art. 366 Abs. 2 letzter Satz StPO zu, bei Abwesenheit der beschuldigten Person das Verfahren zu sistieren. Dieses Vorgehen ist vorab dann sinnvoll, wenn die beschuldigte Person bloss vorübergehend (bspw. ferienhalber) abwesend oder verhandlungsunfähig ist und damit gerechnet werden kann, dass das Verfahren innert angemessener Frist unter Gewährung des verfassungsrechtlich garantierten Teilnahmerechts im ordentlichen Verfahren zu Ende geführt werden kann. Angezeigt ist eine Sistierung auch dann, wenn das Gericht eine Befragung der beschuldigten Person oder weitere Beweisabnahmen für notwendig hält.

Die Entscheidung, ob ein Verfahren zu sistieren ist, steht dabei im freien Ermessen des Gerichts.

IV. Ausnahmen und Abgrenzungen

A. Dispensation von der Hauptverhandlung (Art. 336 StPO)

33 Abzugrenzen ist das unentschuldigte Nichterscheinen von der Möglichkeit nach Art. 336 StPO, sich von der persönlichen Anwesenheit an der Hauptverhandlung dispensieren zu lassen. Die Verfahrensleitung kann nach Art. 336 Abs. 3 StPO die beschuldigte Person auf ihr Gesuch hin vom persönlichen Erscheinen an der Hauptverhandlung dispensieren, wenn sie wichtige Gründe geltend macht und ihre Anwesenheit nicht erforderlich ist. Lässt sich die beschuldigte Person dispensieren und wird das Gesuch bewilligt, ist es dem Gericht möglich, bereits beim ersten Termin die Hauptverhandlung durchzuführen und ein Urteil zu fällen. Es findet diesfalls ein ordentliches Verfahren statt.

In der Regel wird die beschuldige Person im Falle der Dispensation von einer Rechtsanwältin oder einem Rechtsanwalt vor Gericht verteidigt, was aber nicht zwingend vorausgesetzt ist. Ist die beschuldigte Person unbekannten Aufenthalts und besteht zwischen der Verteidigung und der Klientschaft kein Kontakt, ist das Stellen eines Dispensationsgesuchs grundsätzlich nicht denkbar, da die Verteidigung mangels entsprechender Instruktion i.d.R. nicht in der Lage ist, einen solchen Antrag beim Gericht zu deponieren. Diesfalls kommt – mangels Dispensationsgesuchs – einzig das Abwesenheits­verfahren unter der Bedingung, dass zu einem zweiten Termin vorgeladen wird, in Betracht.

B. Verlassen des Verhandlungsortes (Art. 340 Abs. 1 lit. c StPO)

34 Wurde die Hauptverhandlung in Anwesenheit der beschuldigten Person eröffnet und verlässt sie im späteren Verlauf den Verhandlungsort, ohne sich vorgängig dispensieren zu lassen, wird die Verhandlung ohne die abwesende beschuldigte Person fortgesetzt und zu Ende geführt (Art. 340 Abs. 1 lit. c StPO). Das Verfahren wird dabei in der zu Beginn der Verhandlung festgelegten Verfahrensart weitergeführt. Das Abwesenheitsverfahren kommt diesfalls nicht zur Anwendung.

C. Nichterscheinen zur Fortsetzungsverhandlung

35 Erscheint die beschuldigte Person vorladungsgemäss zur Hauptverhandlung, muss diese aber aus anderen Gründen abgebrochen und an einem Fortsetzungstermin weitergeführt werden, so ist nach der hier vertretenen Ansicht bei unentschuldigtem Nichterscheinen am Fortsetzungstermin ebenfalls kein Abwesenheitsverfahren durchzuführen.

36 Die Verfahrensart wurde bei Eröffnung der Verhandlung am ersten Termin festgesetzt und kann im Nachhinein nicht mehr verändert werden. Das Nichterscheinen zur Fortsetzungsverhandlung gilt nach der hier vertretenen Ansicht als eine besondere Form des Verlassens des Verhandlungsortes und das hiervor zu Ziff. II. B. Gesagte ist analog anzuwenden. Unter den gegebenen Umständen erscheint es allerdings als angezeigt, der beschuldigten Person eine «Respektviertelstunde» einzuräumen und nach Möglichkeit zu versuchen, sie zu kontaktieren. Aufgrund des Erscheinens zum ersten Termin kann ohne gegenteilige Anzeichen nicht per se davon ausgegangen werden, die beschuldigte Person habe am weiteren Verlauf des Verfahrens kein Interesse (mehr).

37 Sollte sich herausstellen, dass die beschuldigte Person ohne eigenes Verschulden den Fortsetzungstermin verpasst hat, ist ihr nach der hier vertretenen Ansicht eine zweite Chance zu gewähren und die Verhandlung erneut abzubrechen. Sollte sich die Säumnis beim nächsten Fortsetzungstermin wiederholen, kann das Verfahren ohne weiteres im ordentlichen Verfahren zu Ende geführt werden. Vorbehalten bleibt in jedem Fall ein rechtsmissbräuchliches und rein prozesstaktisches Verhalten

der beschuldigten Person. Solche Verhaltensweisen sind nicht zu schützen.

D. Ausschluss vom weiteren Verfahren (Art. 63 Abs. 4 StPO)

38 Muss die zur Anwesenheit verpflichtete beschuldigte Person in Anwendung von sitzungspolizeilichen Massnahmen aufgrund ihres Verhaltens vom weiteren Verfahren ausgeschlossen werden (Art. 63 Abs. 4 StPO), wird die Verhandlung ohne die beschuldigte Person fortgesetzt und zu Ende geführt. Auch hier ist die zu Beginn der Verhandlung in Anwesenheit der Partei(en) festgesetzte Verfahrensart beizubehalten. Das Abwesenheitsverfahren findet keine Anwendung.

E. Säumnis im Einspracheverfahren gegen einen Strafbefehl (Art. 356 Abs. 4 StPO)

39 Hat das Gericht eine Einsprache gegen einen Strafbefehl zu beurteilen, so hat die Einsprache erhebende Person eine Mitwirkungsobliegenheit: Bleibt sie trotz Vorladung einer Einvernahme unentschuldigt fern, gilt ihre Einsprache von Gesetzes wegen als zurückgezogen (Art. 355 Abs. 2 StPO). Diese vorab für das staatsanwaltschaftliche Einspracheverfahren konzipierte Rückzugsfiktion gilt gemäss Art. 356 Abs. 2 StPO analog auch bei Nichterscheinen der einsprechenden Person zur gerichtlichen Hauptverhandlung. Der Rückzug der Einsprache wird demnach fingiert, sofern die beschuldigte Person ordnungsgemäss zur Hauptverhandlung vorgeladen wurde und sich vor Gericht nicht anwaltlich vertreten lässt. Erscheint die Verteidigung zur Hauptverhandlung aber nicht die einsprechende Person, so ist die Verhandlung abzubrechen und an einem späteren Termin neu anzusetzen. Vorbehalten bleibt eine allfällige Dispensation der beschuldigten Person, die eine Durchführung der Verhandlung ohne den Beschuldigten erlaubt.

40 Für die Frage, wann eine einsprechende Person nach Art. 356 Abs. 4 StPO als unentschuldigt säumig gilt, kann auf das oben ausgeführte verwiesen werden.

Auch gelten nach der hier vertretenen Ansicht die Weigerung, aus der Haft zugeführt zu werden bzw. das selbstständige Versetzen in einen verhandlungsunfähigen Zustand (Art. 366 Abs. 3 StPO) als nicht entschuldbarer Grund analog auch im Strafbefehlsverfahren. Die Durchführung eines Abwesenheitsverfahren wird in diesen Fällen jedoch – anders als im ordentlichen Verfahren – obsolet und das Einspracheverfahren ist beim erstmaligen Nichterscheinen am ersten Termin wegen Rückzugs der Einsprache als Gegenstandslos vom Protokoll abzuschreiben.

41 Die Rückzugsfiktion ist allerdings im Einspracheverfahren dann nicht anwendbar, wenn die beschuldigte Person im Ausland lebt und die Vorladung im Ausland zuzustellen ist. Gemäss Art. 69 IRSG (SR 351.1) ist, wer eine Vorladung zum Erscheinen vor einer ausländischen Behörde entgegennimmt, nicht verpflichtet, ihr Folge zu leisten (Abs. 1). Vorladungen, die Zwangsandrohungen enthalten, werden nicht zugestellt (Abs. 2). Insofern dürfen die schweizerischen Behörden dem sich im Ausland aufhaltenden Beschuldigten zwar Vorladungen zusenden, wobei diese jedoch keine Zwangsandrohungen enthalten dürfen. Sie stellen in der Sache blosse Einladungen dar, denen die beschuldigte Person folgen kann oder nicht. Erscheint die im Ausland wohnende einsprechende Person nicht zur Hauptverhandlung, hat das Gericht in analoger Anwendung von Art. 366 Abs. 1 StPO bei gegebenen Voraussetzungen das Abwesenheitsverfahren in Aussicht zu stellen und zu einem zweiten Termin vorzuladen. Bleibt die einsprechende Person auch beim zweiten Termin unentschuldigt fern, ist bei Vorliegen sämtlicher Voraussetzungen das Abwesenheitsverfahren durchzuführen. Die Rückzugsfiktion androhen dürfen die schweizerischen Behörden der beschuldigten Person nur dann, wenn sie sich freiwillig in die Schweiz begibt und die Vorladung hier zugestellt werden kann.

F. Säumnis im abgekürzten Verfahren (Art. 358 ff. StPO)

42 Im abgekürzten Verfahren gem. Art. 358 ff. StPO ist bei Nichterscheinen der beschuldigten Person die Durchführung eines Abwesenheitsverfahrens nicht möglich. Ein Verfahren ohne Anwesenheit der beschuldigten Person würde der ausdrücklichen Vorgabe von Art. 361 Abs. 2 StPO widersprechen, wonach im abgekürzten die persönliche Befragung der beschuldigten Person zum Zwecke der Überprüfung des Geständnisses und der Prüfung der Übereinstimmung des Sachverhalts mit der Aktenlage vorgeschrieben ist.

Erscheint die beschuldigte Person unentschuldigt nicht zum Verhandlungstermin, ist die Verhandlung neu anzusetzen. Es darf davon ausgegangen werden, dass die beschuldigte Person ein Interesse an der Teilnahme an der Hauptverhandlung hat, zumal sie im abgekürzten Verfahren in der Regel ein tieferes Strafmass und tiefere Verfahrenskosten als im ordentlichen Verfahren zu erwarten hat.

G. Abwesenheit der beschuldigten Person im Verfahren bei schuldunfähigen Personen (Art. 374 Abs. 2 lit. a StPO)

43 Kein Abwesenheitsverfahren gem. Art. 366 ff. StPO ist durchzuführen, wenn das Gericht bei einer schuldunfähigen Person mit Rücksicht auf deren Gesundheitszustand oder zum Schutz ihrer Persönlichkeitsrechte in ihrer Abwesenheit tagt.

Diesfalls handelt es sich um eine speziell im Gesetz geregelte Anwendungsform der Dispensation von der Hauptverhandlung gemäss Art. 336 Abs. 3 StPO. In Anwendung von Art. 374 Abs. 2 StPO ist ein ordentliches Verfahren in Abwesenheit der beschuldigten Person durchzuführen.

H. Säumnis im Berufungsverfahren

44 Im Berufungsverfahren kommt die Durchführung eines Abwesenheitsverfahrens gestützt auf Art. 407 Abs. 2 StPO nur dann in Betracht, wenn die Staatsanwaltschaft oder die Privatklägerschaft Berufung gegen das erstinstanzliche Urteil erhoben haben. Bleibt in dieser Konstellation die beschuldigte Person als nicht berufungsführende Person der Berufungsverhandlung unentschuldigt fern, ist das Abwesenheitsverfahren nach Art. 366 ff. StPO in Aussicht zu stellen und zu einem zweiten Termin vorzuladen. Bleibt die beschuldigte Person auch beim zweiten Termin säumig und sind die restlichen Voraussetzungen erfüllt, kann auch im Berufungsverfahren ein Abwesenheitsurteil gefällt werden.

45 Ist die beschuldigte Person berufungsführende Partei und bleibt sie in dieser Eigenschaft der Berufungsverhandlung unentschuldigt fern und lässt sich auch nicht vertreten, gilt die Berufung von Gesetzes wegen als zurückgezogen (Art. 407 Abs. 1 lit. a StPO). Wird die säumige beschuldigte Person vor zweiter Instanz anwaltlich vertreten, ist die Berufungsverhandlung dennoch im ordentlichen Verfahren durchzuführen. Ein Abwesenheitsverfahren gemäss den Art. 366 ff. StPO findet diesfalls nicht statt (Art. 407 Abs. 2 StPO, e contrario). Erscheint zwar die berufungsführende beschuldigte Person zur Berufungsverhandlung, bleibt hingegen die (amtliche) notwendige Verteidigung aus, ist die Verhandlung von Gesetzes wegen zu verschieben (Art. 336 Abs. 5 StPO i.V.m. Art. 405 Abs. 1 StPO).

46 Fand vor erster Instanz ein Abwesenheitsverfahren statt und erhob die amtliche Verteidigung in Ausübung ihrer anwaltlichen Sorgfaltspflicht im Namen des noch immer abwesenden Beschuldigten Berufung, so ist Mangels Kenntnis des Aufenthaltsortes der berufungsführenden Person und somit aufgrund der Unmöglichkeit der Zustellung der Vorladung zur Berufungsverhandlung gestützt auf die Rückzugsfiktion gemäss Art. 407 Abs. 1 Bst. c StPO von einer zurückgezogenen Berufung auszugehen.

Schematischer Überblick über das Abwesenheitsverfahren

Schematischer Überblick über das Abwesenheitsverfahren

Literaturverzeichnis

Maurer Thomas, in: Niggli Marcel Alexander/Heer Marianne/Wiprächtiger Hans (Hrsg.), Basler Kommentar zur Strafprozessordnung, 2. Aufl., Basel 2014.

Mattmann Jascha/Eschle David/Rader Franziska/Walser Simone/Thommen Marc, Heimliche Verurteilungen, ZStrR 139/2021 S. 253 ff.

Riklin Franz, Schweizerische Strafprozessordnung mit JStPO, StBOG und weiteren Erlassen, Orell Füssli Kommentar (Navigator.ch), 2. Aufl. 2014.

Schmid Niklaus/Jositsch Daniel, Handbuch des schweizerischen Strafprozessrechts, 3. Aufl. Zürich/St.Gallen 2017 (zit. Handbuch).

Schmid Niklaus/Jositsch Daniel, Praxiskommentar zur schweizerischen Strafprozessordnung, Dike Kommentar, 3. Aufl. Zürich 2018 (zit. Praxiskommentar).

Summers Sarah, in: Donatsch Andreas/Lieber Viktor/Summers Sarah/Wohlers Wolfgang (Hrsg.), Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung, 3. Aufl., Zürich 2020.

Wyder Peter-René in: Niggli Marcel Alexander/Heer Marianne/Wiprächtiger Hans (Hrsg.), Basler Kommentar zur Strafprozessordnung, 2. Aufl., Basel 2014.

Fussnoten

  • So bspw. Schmid/Jositsch, Handbuch, Rz. 1401, die das Abwesenheitsverfahren unter verschiedenen Aspekten als nicht mehr zeitgemäss erachten.
  • BGE 127 I 213 E. 3.
  • Zu den allgemeinen Prozessvoraussetzungen ausführlich BSK-Maurer, N. 14 zu Art. 366 StPO.
  • Vgl. auch BSK-Maurer, N. 15 zu Art. 366 StPO.
  • Urteil 6B_1175/2016 vom 24. März 2017 E. 9.3.
  • Urteil 6B_203/2016 vom 14. Dezember 2016 E. 2.2.2 zur Rechtsprechung des EGMR; Siehe auch die Kommentierung in N. 9 zu Art. 368 StPO.
  • Urteile 6B_438/2017, 6B_439/2017 vom 24. August 2017 E. 4.7; Nach BSK-Wyder, N. 22 zu Art. 336 StPO, stellt die Frage, ob die Abwesenheit des Beschuldigten entschuldigt oder unentschuldigt erfolgt sei, eine Rechtsfrage dar.
  • Siehe zur ordnungsgemässen Vorladung nachfolgend N. 19 ff.
  • Urteil 6B_453/2020 vom 23. September 2020 E. 2.3.1 m.w.H.; Schmid/Jositsch, Handbuch, Rz. 1411.
  • Urteile 6B_438/2017, 6B_439/2017 vom 24. August 2017 E. 4.3 m.w.H, wobei das Bundesgericht festhält, es seien an die Entschuldbarkeit keine strengen Anforderungen zu stellen. Hier müsste wohl m.E. eher das Gegenteil gemeint sein, namentlich, dass an die Schuldbarkeit keine strengen Anforderungen zu stellen sind.
  • Bei Selbsteinlieferung in ein Spital am Tag der Hauptverhandlung ist insbesondere an die Möglichkeit der Instrumentalisierung der gesundheitlichen Verfassung bzw. der Inszenierung einer Verhandlungs­unfähigkeit zu denken. Mitunter könnten die konkreten Umstände den Schluss zulassen, dass die beschuldigte Person an der Verhandlung nicht teilnehmen wollte und die Unmöglichkeit, dies zu tun, durch Selbsteinlieferung in das Spital bewusst selbst verschuldet hat. So geschildert in Urteil 6B_438/2017, 6B_439/2017 vom 24. August 2017 E. 4.7.
  • Urteil 6B_208/2012 vom 30. August 2012 E. 3.3.1; BGE 127 I 213 E. 4.
  • Schmid/Jositsch, Handbuch, Rz. 1397.
  • Urteile 6B_438/2017, 6B_439/2017 vom 24. August 2017 E. 4.3 m.w.H.; BGE 127 I 213 E. 3a; 126 I 36 E. 1b; Urteil 6B_1175/2016 vom 24. März 2017 E. 9.3 und Urteil 6B_931/2015 vom 21. Juli 2016 E. 1.2.
  • Vgl. Mattmann/Eschle/Rader/Walser/Thommen, S. 269; BSK-Riedo, N. 37 und N. 38 zu Art. 94 StPO.
  • Urteil 6B_309/2020 vom 23. November 2020 m.w.H.
  • Beschluss der Beschwerdekammer des Obergerichts des Kantons Bern BK 22 31 vom 26. Januar 2022 E. 3.4.
  • Im ordentlichen Verfahren wäre diesfalls ein zweiter Termin zur Durchführung des Abwesenheits­verfahrens anzusetzen. Im Strafbefehlsverfahren kann nach der hier vertretenen Auffassung die Feststellung des Rückzugs der Einsprache nach Art. 355 Abs. 2 StPO erfolgen und das Verfahren abgeschrieben werden.
  • Was die Rechtfertigung der in öffentlichen Gerichtsgebäuden geltenden Maskentragpflicht betrifft, kann auf die Rechtsprechung in BGE 147 I 393 zur Maskentragpflicht in Supermärkten und Geschäften verwiesen werden, welche nach der hier vertretenen Ansicht analog anwendbar ist.
  • Von missbräuchlichem Verhalten ist auszugehen, wenn der Verteidiger in Absprache mit dem Klienten bspw. zum Zwecke der Verfahrensverzögerung der Hauptverhandlung fernbleibt.
  • Eine im Vorentwurf zur StPO noch vorgesehene Wartefrist von einer Stunde («Respektstunde»; Art. 104 Abs. 4 VE StPO) ist heute nicht mehr vorgesehen und erscheint mit Blick auf die nur geringe Wahrscheinlichkeit, dass die mittels öffentlicher Publikation vorgeladene Person doch noch erscheint, als nicht gerechtfertigt.
  • Vgl. dazu auch SK-Summers, N. 11 zu Art. 366 StPO.
  • Siehe zur öffentlichen Ausschreibung nachfolgend N. 23.
  • Zehn Tage vor dem Hauptverhandlungstermin bei direkter Zustellung (Art. 202 Abs. 1 lit. b StPO) bzw. einen Monat im Voraus bei öffentlicher Publikation (Art. 202 Abs. 2 StPO); siehe dazu nachfolgend N. 24.
  • BSK-Maurer, N. 13 zu Art. 366 StPO.
  • Wobei Handlungen für einen fremden Staat natürlich heikel sein können, sofern der jeweils betroffene ausländische Staat eine Strafbestimmung wie Art. 271 StGB kennt.
  • BSK-Arquint, N. 8 zu Art. 88 StPO.
  • OFK-Riklin, N. 2 zu Art. 366 StPO m.w.H.
  • Schmid/Jositsch, Praxiskommentar, N. 10 zu Art. 366 StPO.
  • OFK-Riklin, N. 1 Vorbemerkungen zu Art. 366 StPO.
  • BSK-Maurer, N. 16 zu Art. 366 StPO; angezweifelt von Schmid/Jositsch, Handbuch, Rz. 1401 FN 132, wonach fraglich sei, ob eine im Ausland durchgeführte Einvernahme genüge.
  • BSK-Maurer, N. 16 zu Art. 366 StPO; Schmid/Jositsch, Handbuch, Rz. 1401.
  • Vgl. BSK-Maurer, N. 16 zu Art. 366 StPO.
  • Schmid/Jositsch, Handbuch, Rz. 1402.
  • Vgl. Schmid/Jositsch, Praxiskommentar, N. 7 zu Art. 366 StPO.
  • BSK-Maurer, N. 7 und N. 19 zu Art. 366 StPO.
  • Bspw. der Versuch, sich in eine bevorstehende Verjährung zu retten.
  • Vgl. ausführlich zum unentschuldigten Nichterscheinen N. 10 ff.
  • BGE 140 IV 86 E. 2.4.
  • BGE 139 IV 233 S. 238 ff.
  • BSK-Maurer, N. 7a zu Art. 366 StPO.
  • Zum Ganzen: Urteil 6B_1293/2018 vom 14. März 2019 E. 3.3.2.
  • Beschluss der 2. Strafkammer des Obergerichts des Kantons Bern SK 18 283 vom 22. Oktober 2018.

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