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Kommentierung zu
Art. 26 BPR
defriten

I. Entstehungsgeschichte

1 Die Bestimmung wurde 1976 beim Erlass des BPR neu aufgenommen. Laut Botschaft des Bundesrates normiert sie die bisherige Praxis

, wie sie vom Bundesgericht mit Blick auf die Abstimmungsfreiheit in einem Entscheid aus dem Jahr 1972 gutheissen wurde
. Um allfällige Unklarheiten zu beseitigen, fand der Entscheid Eingang als Rechtsnorm in das neue Gesetz.

II. Bedeutung der Vorschrift

A. Allgemeines

2 Die Bestimmung statuiert, dass die Stimmberechtigten des Wahlkreises Einsicht nehmen können in einen Wahlvorschlag und in die Namen der Unterzeichnenden. Die Stimmberechtigten haben einen Anspruch darauf, nicht nur die einzelnen Kandidierenden zu kennen, sondern auch zu wissen, wer die Urheber eines Wahlvorschlags sind. In der Praxis hat die Vorschrift wenig Bedeutung, da meist öffentlich bekannt ist, welche Gruppierung oder welche Personen hinter einem Wahlvorschlag stehen.

B. Rechtsvergleich

3 Die meisten Kantone kennen in ihrem Parlamentswahlrecht praktisch gleichlautende Normen.

III. Einsichtnahme in Wahlvorschläge

4 Zur Einsichtnahme in die Wahlvorschläge berechtigt sind gemäss der Formulierung im Gesetz «die Stimmberechtigten des Wahlkreises». Die Einsichtnahme beschlägt explizit «die Wahlvorschläge» und «die Namen der Unterzeichner». Einsicht zu gewähren hat die nach dem kantonalen Recht zuständige Wahlbehörde.

5 Die interessierten Stimmberechtigten können die Wahlvorschläge und die Unterzeichnerlisten «bei der zuständigen Behörde einsehen». Es besteht von Bundesrechts wegen kein Anspruch auf Abgabe einer Kopie der entsprechenden Dokumente.

Zulässig scheint es, aus datenschutzrechtlichen Überlegungen, die Wohnadressen der Kandidierenden und der unterzeichnenden Personen bei der Einsichtsgewährung abzudecken, soweit der Zweck der Einsichtnahme (Identifizierung der hinter einem Wahlvorschlag stehenden Personen) dadurch nicht verhindert wird.

6 Eine Einsichtnahme in Wahlvorschläge gestützt auf Art. 26 BPR ist nach dem Ablauf der Anmeldefrist zu gewähren. Vor Ablauf des Wahlanmeldeschlusses kommuniziert die Wahlbehörde die eingegangenen Wahlvorschläge auch nicht öffentlich. Die Parteien und Gruppierungen haben die Möglichkeit bis zum Ablauf der Einreichefrist ihre Wahlvorschläge zu verändern. Weder hat die Öffentlichkeit einen Anspruch darauf, über eingegangene Wahlvorschläge vor dem Wahlanmeldeschluss informiert zu werden, noch können Parteien oder andere politische Gruppierungen gestützt auf Artikel 26 BPR vor dem Wahlanmeldeschluss Einblick in die Wahlvorschläge der Konkurrenz nehmen.

7 Dem bundesgerichtlichen Grundsatzentscheid lag ein Fall aus dem Kanton Schwyz zugrunde.

Bei den Nationalratswahlen von 1971 hatte in letzter Minute ein Komitee «Wir wollen wählen» einen Wahlvorschlag eingereicht und so stille Wahlen verhindert. Viele wollten nun wissen, wer hinter diesem Wahlvorschlag steht. Gegen die Einsichtsgewährung in die Liste der unterzeichnenden Personen aber wehrten sich diese mit Hinweis auf das Stimm- und Wahlgeheimnis. Das Bundesgericht befand, das Stimmgeheimnis schütze die Stimmabgabe der Wählenden, stehe aber einer Einsicht der Stimmberechtigten in die Liste der Unterzeichnenden nicht entgegen. Eine solche gebiete dagegen der Grundsatz der Abstimmungsfreiheit. «Um das Stimmrecht in voller Unabhängigkeit und Freiheit ausüben zu können, muss aber jeder Wähler die Möglichkeit haben, sich Klarheit über die politische Absicht der Vorgeschlagenen und der Vorschlagenden zu verschaffen.» Ein dafür geeignetes Mittel sei die Einsicht in die Liste der Vorschlagenden. Zwar könne nicht ausgeschlossen werden, dass die Unterzeichnenden «ab und zu gewissen Unannehmlichkeiten ausgesetzt sein könnten», wenn ihre Namen auf Verlangen bekanntgegeben werden. «Weit mehr Gewicht als das Interesse der Unterzeichner an der Geheimhaltung der Listen hat aber das Interesse der Allgemeinheit an deren Zugänglichkeit. (…) Wer einen Wahlvorschlag unterzeichnet und damit bedeutsame öffentlich-rechtliche Funktionen übernimmt, muss sich der Öffentlichkeit stellen, auch wenn ihm dies schwer fällt».

8 Die Idee hinter dieser Regelung leuchtet ein. Im Sinne der Transparenz und gemäss dem Grundsatz der Abstimmungsfreiheit sollen die Wahlberechtigten erfahren können, welche Leute hinter einem Wahlvorschlag stehen.

Mit Blick auf die Praxis ist die Tragweite der Norm etwas zu relativieren. Im Kanton Schwyz, im Jahre 1971, als ein Wahlvorschlag 15 Unterschriften erforderte, liessen sich durch die Einsichtnahme in die Unterzeichnerliste die «Hintermänner» des Wahlvorschlags wohl eruieren. In einem Kanton, in dem 200 oder 400 Unterschriften beigebracht werden müssen, dürfte es aber heute deutlich schwieriger sein, durch Einsichtnahme in die Unterschriftenlisten herauszufinden, wer wirklich hinter einem Wahlvorschlag steht. Viele der Unterzeichnenden sind im Rahmen einer breiten Unterschriftensammlung angegangen worden und können kaum als die massgeblichen politischen Kräfte hinter einem Wahlvorschlag bzw. als dessen Urheberschaft gesehen werden.

9 In der Praxis kommt eine Einsichtsgewährung gestützt auf Art. 26 BPR kaum vor. Im Allgemeinen ist in der interessierten Öffentlichkeit bekannt, welche politische Richtung eine bestimmte Gruppierung vertritt und wer hinter deren Wahlvorschlag steht. Fälle wie der dem bundesgerichtlichen Grundsatzentscheid zugrundeliegende, wo in letzter Minute eine völlig unbekannte Gruppierung einen Wahlvorschlag eingereicht hatte, sind äusserst selten.

Literaturverzeichnis

Muheim Anton, Wahl des Nationalrates, in: Das Bundesgesetz über die politischen Rechte, Veröffentlichungen des Schweizerischen Instituts für Verwaltungskurse an der Hochschule St. Gallen, St. Gallen 1978, S. 65–89.

Tschannen Pierre, Kommentierung zu Art. 34 BV, in: Waldmann Bernhard/Belser Eva Maria, Epiney Astrid (Hrsg.), Basler Kommentar, Bundesverfassung, Basel 2015.

Materialienverzeichnis

Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung zu einem Bundesgesetz über die politischen Rechte vom 9.4.1975 (BBl 1975 I 1317).

Fussnoten

  • BBl 1975 S. 1317, S. 1337.
  • BGE 98 Ib 289 i.S. Fontana und Mitbeteiligte gegen Regierungsrat des Kantons Schwyz.
  • Muheim, S. 77.
  • Als Beispiele für viele: § 85 i. V. mit § 49 Abs. 4 Gesetz des Kantons Zürich vom 1.9.2003 über die politischen Rechte (GPR/ZH, SG 161); § 30 Stimmrechtsgesetz des Kantons Luzern vom 25.10.1988 (StRG/LU, SG 10); § 21d Verordnung des Kantons Aargau vom 25.11.1992 zum Gesetz über die politischen Rechte (VGPR/AG, SG 131.111); Art. 38 Gesetz des Kantons St. Gallen vom 5.12.2018 über Wahlen und Abstimmungen (WAG/SG, SG 125.3); Art. 42 Abs. 1 Loi du canton de Vaud du 5.10.2021 sur l’exercice des droits politiques (LEDP/VD, SG 160.01).
  • Explizit ausgeschlossen wird die Vervielfältigung der Wahlvorschläge im Rahmen der Einsichtsgewährung im Kanton St. Gallen, siehe Art. 38 Abs. 2 WAG/SG.
  • BGE 98 Ib 289.
  • Auch BSK-Tschannen, Art. 34 BV N. 19.
  • Zur Rolle der Unterzeichnenden eines Wahlvorschlags siehe auch OK BPR zu Art. 25 BPR N. 10.

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DOI (Digital Object Identifier)

10.17176/20240512-143149-0

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