Eine Kommentierung von Stefan Wyler
Herausgegeben von Andreas Glaser / Nadja Braun Binder / Corsin Bisaz / Bénédicte Tornay Schaller
Art. 25 Vertreter des Wahlvorschlages
1 Die Unterzeichner haben einen Vertreter des Wahlvorschlages und dessen Stellvertreter zu bezeichnen. Verzichten sie darauf, so gelten diejenigen, deren Namen in der Reihenfolge der Unterzeichner an erster und zweiter Stelle stehen, als Vertreter und Stellvertreter.
2 Der Vertreter und, wenn er verhindert ist, sein Stellvertreter sind berechtigt und verpflichtet, im Namen der Unterzeichner die zur Beseitigung von Anständen erforderlichen Erklärungen rechtsverbindlich abzugeben.
I. Entstehungsgeschichte
1 Die Bestimmung wurde 1976 beim Erlass des BPR inhaltlich unverändert aus dem Bundesgesetz betreffend die Wahl des Nationalrates von 1919
II. Bedeutung der Vorschrift
A. Allgemeines
2 Die Bestimmung regelt, wer die für einen Wahlvorschlag verantwortlichen Ansprechpersonen der wahlleitenden Behörden sind. Sie stellt sicher, dass für jeden Wahlvorschlag ein Vertreter/eine Vertreterin und ein Stellvertreter/eine Stellvertreterin bestimmt sind, die für diesen Wahlvorschlag rechtsverbindlich handeln können.
B. Rechtsvergleich
3 Die Kantone verlangen in ihrem Parlamentswahlrecht regelmässig die Bezeichnung einer Vertretung und Stellvertretung für die Wahlvorschläge.
III. Vertreter des Wahlvorschlages
A. Bezeichnung (Abs. 1)
4 Für jeden Wahlvorschlag muss ein Vertreter/eine Vertreterin und ein Stellvertreter/eine Stellvertreterin bezeichnet werden. Diese sind für den betreffenden Wahlvorschlag im Verkehr mit den wahlleitenden Behörden die verantwortlichen Ansprechpersonen. Für die Wahlbehörden ist es wichtig, angesichts der kurzen Fristen in der Wahlvorbereitung rasch erreichbare Ansprechpersonen seitens der Wahlvorschläge zu haben. Es ist ihnen nicht zumutbar, bei Rückfragen, mit den mitunter schlecht erreichbaren einzelnen Kandidierenden direkt in Kontakt zu treten.
5 Gemäss der Formulierung im Gesetz sind es die Unterzeichnenden eines Wahlvorschlags, die die Vertretung des Wahlvorschlags «bezeichnen». In der Praxis wird die Einreichung der meisten Wahlvorschläge von Sekretariaten der Parteien oder Gruppierungen betreut. Diese organisieren (wenn nötig) die Unterschriften für das Unterschriftenquorum gemäss Artikel 24 BPR und bezeichnen die Personen, die den Wahlvorschlag rechtsverbindlich vertreten.
6 Seit der Lockerung der Vorschriften über die Unterschriftenquoren
7 Das Gesetz umschreibt nicht näher, wer Vertreter bzw. Vertreterin eines Wahlvorschlags sein kann. Es können dies somit Unterzeichnende wie auch Kandidierende sein, die geschäftsführenden oder präsidierenden Personen einer Partei gemäss Art. 24 Abs. 3 BPR aber auch weitere (zivilrechtlich handlungsfähige) Personen aus dem Umfeld einer Partei oder kandidierenden Gruppierung. Das Gesetz beschränkt den Kreis der Personen, die einen Wahlvorschlag vertreten können, nicht. Gemäss Kreisschreiben des Bundesrates müssen die einen Wahlvorschlag vertretenden Personen im Wahlkreis stimmberechtigt sein
8 Eine Person kann nur für einen einzigen Wahlvorschlag die Vertretung oder die Stellvertretung darstellen. Dies gilt auch für verbundene bzw. unterverbundene Listen derselben Gruppierung. Diese Präzisierung steht so nicht im Gesetz, wird aber in den Kreisschreiben des Bundesrates zu den Nationalratswahlen festgehalten.
9 Wird bei der Einreichung eines Wahlvorschlags keine Vertretung und/oder keine Stellvertretung bezeichnet, so gelten als solche die erst- und die zweitunterzeichnende Person des Wahlvorschlags. Wie es sich verhält, wenn der Wahlvorschlag im Sinne vom Art. 24 Abs. 3 BPR vom Beibringen der Unterschriften befreit ist, regelt das Gesetz nicht. Gemäss dem Kreisschreiben des Bundesrates zu Nationalratswahlen 2023, würden hier die erste und zweite kandidierende Person die Vertretung darstellen.
10 Die Formulierung von Art. 25 BPR ist überholt. Nach dem Wortlaut der Bestimmung sind es «die Unterzeichner», die «einen Vertreter des Wahlvorschlages und dessen Stellvertreter» bezeichnen. Diese Personen gelten dann als Vertretung der Unterzeichnenden und geben in deren Namen verbindliche Erklärungen ab (vgl. Abs. 2). Damit wird den Unterzeichnenden eine Rolle zugeschrieben – im Sinne einer Trägerschaft oder Urheberschaft eines Wahlvorschlags –, die nicht der Realität entspricht. Bei vielen Wahlvorschlägen etablierter Parteien gibt es mittlerweile aufgrund der Lockerungen der Regeln über die Unterschriftenquoren gar keine Unterzeichnenden im Sinne von Art. 24 BPR mehr. Es sind die Parteisekretariate, die die Wahlvorschlagsvertretungen bezeichnen. Bei den kleinen Parteien und den Aussenseiterlisten sind es die Parteisekretariate bzw. oftmals die Kandidierenden selber, die die Unterschriften für das Quorum sammeln und die Vertretungen benennen. Die Unterzeichnenden eines Wahlvorschlags sind nicht die Urheber des Wahlvorschlags, sondern oftmals Leute, die mehr oder weniger zufällig auf der Unterschriftenliste unterschrieben haben.
11 Für die Zukunft drängt sich eine Neufassung der Bestimmung auf. Neuere kantonale Gesetzgebungen zu den politischen Rechten haben denn auch in ihren Wahlregeln den Konnex zwischen Unterzeichnenden und Wahlvorschlagsvertretung aufgehoben. Sie verlangen für jeden Wahlvorschlag die Bezeichnung einer Vertretung, definieren diese aber nicht mehr als die Vertretung der Unterzeichnenden.
B. Abgabe von Erklärungen (Abs. 2)
12 Die Personen, die die Vertretung bzw. die Stellvertretung des Wahlvorschlags ausüben, sind berechtigt und verpflichtet, im Namen der Unterzeichnenden «die zur Beseitigung von Anständen erforderlichen Erklärungen rechtsverbindlich abzugeben». Ihre Erklärungen im Rahmen des Mängelbehebungs- und Bereinigungsverfahrens von Art. 29 BPR sind für den Wahlvorschlag bindend und verpflichtend. Zu denken ist etwa an Anpassungen von Listenbezeichnungen oder Listenkürzeln, die zu Verwechslung Anlass geben könnten, an den Ersatz von Kandidaturen, die von Amtes wegen gestrichen werden müssen, an Fragen bezüglich der Berufsbezeichnung usw. Auch die Formulierung dieses zweiten Absatzes («im Namen der Unterzeichner») ist überholt (vgl. oben N. 11).
13 Welche entscheidende Rolle den Personen zukommt, die als Listenvertretung fungieren, illustriert ein Entscheid des Bundesgerichts zu den Solothurner Kantonsratswahlen 2005.
Materialienverzeichnis
Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung zu einem Bundesgesetz über die politischen Rechte vom 9.4.1975 (BBl 1975 I 1317).
Kreisschreiben des Bundesrates an die Kantonsregierungen vom 19.10.2022 über die Gesamterneuerungswahl des Nationalrates vom 22.10.2023, (BBl 2022 2547) (zit. Kreisschreiben BR NRW 2023).
Leitfaden der Bundeskanzlei für kandidierende Gruppierungen für die Nationalratswahlen vom 22.10.2023 (zit. Leitfaden BK NRW 2023).
Fussnoten
- BBl 1919 I S. 262.
- BBl 1975 S. 1317, S. 1337.
- Als Beispiele für viele § 51 Abs. 3 und 90 Gesetz des Kantons Zürich vom 1.9.2003 über die politischen Rechte (GPR/ZH, SG 161); Art. 67 Abs. 4 und 5 Gesetz des Kantons Bern vom 5.6.2012 über die politischen Rechte (PRG/BE, SG 141.1); Art. 36 Gesetz des Kantons St. Gallen vom 5.12.2018 über Wahlen und Abstimmungen (WAG/SG, SG 125.3); Art. 59 Abs. 3–5 Loi du canton de Vaud du 5.10.2021 sur l’exercice des droits politiques (LEDP/VD, SG 160.01); § 28 Stimmrechtsgesetz des Kantons Luzern vom 25.10.1988 (StRG/LU, SG 10); § 48 f. Abs. 1 Gesetz des Kantons Thurgau vom 12.2.2014 über das Stimm- und Wahlrecht (StWG/TG, SG 161.1).
- Vgl. OK BPR zu Art. 24 BPR.
- Kreisschreiben BR NRW 2023, Ziffer 7.4.6.
- Kreisschreiben BR NRW 2023, Ziffer 7.4.8.
- Leitfaden BK NRW 2023, Ziffer 3.4.6.
- Kreisschreiben BR NRW 2023, Ziffer 7.4.8.
- Kreisschreiben BR NRW 2023, Ziffer 7.4.8.
- § 48 StWG/TG; Art. 59 Abs. 3–5 LEDP/VD.
- BGer 1P.94/2005 vom 17.5.2005.
- § 39 des Gesetzes des Kantons Solothurn vom 22.9.1996 über die politischen Rechte (GpR/SO, SG 113.111).
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