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- Art. 2 CCC (Übereinkommen über die Cyberkriminalität [Cybercrime Convention])
- Art. 3 CCC (Übereinkommen über die Cyberkriminalität [Cybercrime Convention])
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BUNDESVERFASSUNG
OBLIGATIONENRECHT
BUNDESGESETZ ÜBER DAS INTERNATIONALE PRIVATRECHT
LUGANO-ÜBEREINKOMMEN
STRAFPROZESSORDNUNG
ZIVILPROZESSORDNUNG
BUNDESGESETZ ÜBER DIE POLITISCHEN RECHTE
ZIVILGESETZBUCH
BUNDESGESETZ ÜBER KARTELLE UND ANDERE WETTBEWERBSBESCHRÄNKUNGEN
BUNDESGESETZ ÜBER INTERNATIONALE RECHTSHILFE IN STRAFSACHEN
DATENSCHUTZGESETZ
BUNDESGESETZ ÜBER SCHULDBETREIBUNG UND KONKURS
SCHWEIZERISCHES STRAFGESETZBUCH
CYBERCRIME CONVENTION
HANDELSREGISTERVERORDNUNG
I. Entstehungsgeschichte
A. System der reinen Alternative (bis 1988)
1 In seiner ursprünglichen, bis 1988 geltenden Fassung gestaltete Art. 76 BPR die Abstimmung über eine Initiative und einen Gegenentwurf in Form einer "reinen Alternative". Die beiden Vorlagen wurden in einer gleichzeitigen Abstimmung gegenübergestellt. Jeder Stimmzettel konnte beide Vorlagen ablehnen, eine davon annehmen und die andere ablehnen oder leer bleiben. Die Zustimmung zu beiden Vorlagen führte hingegen zur Ungültigkeit des Stimmzettels (Verbot des doppelten Ja). Die absolute Mehrheit wurde für beide Vorlagen gemeinsam berechnet.
2 Dieses System war Gegenstand zahlreicher Kritiken, die Ende der 1970er Jahre nach drei Abstimmungen, bei denen eine Initiative und ein Gegenentwurf abgelehnt wurden, obwohl sie zusammen mehr Stimmen als der Status quo erhalten hatten, noch zunahmen.
B. System der subsidiären Frage (seit 1988)
1. Status quo bei Uneinigkeit von Volk und Ständen (bis 2003)
a. Verfassungsrevision
3 Als Reaktion auf diese Kritik und Forderungen nach Veränderungen schlägt der Bundesrat 1984 vor, die Modalitäten des Abstimmungsverfahrens dahingehend zu ändern, dass die Bürgerinnen und Bürger künftig sowohl der Initiative als auch dem Gegenentwurf zustimmen (Zulassung des doppelten Ja) und die Rangfolge zwischen beiden durch Beantwortung einer Stichfrage angeben können.
4 Die eidgenössischen Räte nehmen dieses System der doppelten Abstimmung mit Stichfrage (nach seinem Hauptentwickler "Haab" genannt) an, verabschieden es aber in Form einer Verfassungsänderung (Art. 121bis aBV). Diese wurde am 5. April 1987 von Volk und Ständen angenommen und trat ein Jahr später in Kraft.
b. Anpassung des BPR an die neue Gesetzgebung
5 Anstatt Art. 76 BPR im Sinne des neuen Art. 121bis aBV zu revidieren, hebt die Bundesversammlung in der Folge diese Bestimmung am 1. Januar 1989 auf, im Zuge einer Revision, deren Hauptthema die Ausgestaltung des Abstimmungsverfahrens über eine Initiative und einen Gegenentwurf in den Räten ist.
6 Erst im Jahr 2000, anlässlich eines Pakets von Gesetzesanpassungen nach dem Inkrafttreten der neuen Bundesverfassung, verabschiedete die Bundesversammlung einen neuen Art. 76 BPR, der die verfassungsrechtlichen Vorgaben konkretisiert (nunmehr in Art. 139b BV verankert).
2. Regel der höchsten Summe der Prozentsätze der Volks- und Standestimmen (seit 2003)
a. Revision der Verfassung
7 Das System der Abstimmung über eine Initiative und einen Gegenentwurf erfährt 2003 eine letzte Revision mit der Einführung der sogenannten "Summe der Prozentsätze"-Regel (Art. 139b Abs. 3 BV). Diese Regel soll die bis dahin vorherrschende Pattsituation verhindern, wenn sich bei der Beantwortung der Stichfrage die Mehrheit des Volkes für die Initiative und die Mehrheit der Kantone für den Gegenentwurf ausspricht oder umgekehrt (cpr Art. 121bis Abs. 3 dritter Satz aBV; Art. 139 Abs. 6 BV in der Fassung bis zum 31. Juli 2003). Bei Uneinigkeit zwischen Volk und Ständen über die Stichfrage ist nunmehr die Vorlage angenommen, die die höchste Summe der in Prozenten ausgedrückten Stimmen von Volk und Ständen erhält (Art. 139b Abs. 3 BV).
b. Keine Auswirkungen auf das BPR
8 Die Änderung der Verfassung in Richtung der Prozentsummenregel wird nicht auf Art. 76 BPR übertragen. Da diese Bestimmung nicht ausdrücklich besagt, dass der Dissens zwischen Volk und Ständen in der Stichfrage die Annahme der Verfassungsänderung vereitelt, erschien ihre Änderung wahrscheinlich überflüssig.
9 Art. 76 BPR erfuhr 2010 eine leichte Anpassung, die eher legistischer als materieller Natur war. Die Bundesversammlung gab ihm den Titel "Direkter Gegenentwurf" anlässlich der Revision des BPR, mit der die Möglichkeit eingeführt wurde, eine Initiative unter der Bedingung zurückzuziehen, dass ein indirekter Gegenentwurf in Kraft tritt (Art. 73a BPR).
II. Bedeutung der Bestimmung
A. Allgemeines
1. Hintergrund
10 Art. 76 BPR ist im 5. Titel des BPR angesiedelt, der der Volksinitiative gewidmet ist. Er konkretisiert Art. 139b BV, der die Grundsätze für das Verfahren der Volksabstimmung über eine Initiative und einen Gegenentwurf festlegt.
11 Wie der Titel schon sagt, gilt Art. 76 BPR nur für die Abstimmung über (eine Initiative und) einen direkten Gegenentwurf. Der Gegenentwurf ist ein Akt, den die Bundesversammlung als Alternative zur Initiative beschließt. Er ist "direkt", wenn er nicht nur inhaltlich, sondern auch formal eine Alternative darstellt, d. h. wenn er der Initiative in einem Verfahren gegenübergestellt wird, an dessen Ende nur ein einziger Rechtsakt in die Rechtsordnung eintritt. Im Vergleich dazu schlägt der "indirekte" Gegenentwurf, der nicht von Art. 76 BPR betroffen ist, eine materiell alternative Regelung vor, steht aber nicht in einem formal alternativen Verhältnis zur Initiative.
12 Das Verfahren der Abstimmung über eine Initiative und einen direkten Gegenentwurf betrifft nur Initiativen, die auf eine Teilrevision der Verfassung abzielen und von Grund auf neu verfasst wurden. Nach herrschender Meinung können andere Initiativen (auf eine Totalrevision der Verfassung gerichtet oder allgemein formuliert) nicht Gegenstand eines direkten Gegenentwurfs sein (Art. 139 Abs. 5 BV, gleichlautend mit Art. 101 ParlG).
13 Das in Art. 76 BPR konkretisierte Abstimmungsverfahren über eine Initiative und einen Gegenentwurf nach dem "Haab"-System ist relevant, wenn die Initiative nach Annahme des Gegenentwurfs nicht zurückgezogen wird (Art. 73 BPR). Die Behörden sind dann verpflichtet, die Initiative und den Gegenentwurf zur Abstimmung zu bringen (vgl. Art. 140 Abs. 1 Bst. a BV). Art. 139b BV ordnet in diesem Fall eine gleichzeitige Abstimmung über die beiden Vorlagen an (Abs. 1), erlaubt ihre doppelte Annahme und bestimmt, dass sie durch eine Stichfrage entschieden werden, wenn sie beide das doppelte Mehr von Volk und Ständen erhalten (Abs. 2). Art. 76 BPR konkretisiert diese Regeln, indem er die Abstimmungsfragen (Abs. 1), die Berechnung der Mehrheiten (Abs. 2) und die Ermittlung des Abstimmungsergebnisses bei doppelter Annahme von Initiative und Gegenentwurf (Abs. 3) festlegt. Es enthält somit Regeln sowohl darüber, wie die Bürgerinnen und Bürger ihren Willen zum Ausdruck bringen können, als auch darüber, wie ihre Stimmen bei der Ermittlung eines Ergebnisses berücksichtigt werden.
2. Funktionen
14 Wenn die Bundesversammlung einer Initiative einen direkten Gegenentwurf gegenüberstellt, müssen die Stimmberechtigten über eine Alternative mit drei Begriffen abstimmen: Status quo, Initiative oder Gegenentwurf. Art. 76 BPR, der Art. 139b BV konkretisiert, regelt das Abstimmungsverfahren über diese Alternative. Das Vorhandensein solcher generell-abstrakter Regeln, die die Modalitäten der Abstimmung hinreichend klar und präzise festlegen, ist wesentlich, um zu gewährleisten, dass die Abstimmung auf ihre Ordnungsmäßigkeit hin überprüft werden kann und ihr Ergebnis als getreuer und sicherer Ausdruck des Volkswillens angesehen werden kann (Art. 34 Abs. 2 BV).
15 Das durch Art. 139b BV und Art. 76 BPR geschaffene System gewährleistet die Verfahrensgleichheit zwischen den drei Optionen Status quo, Initiative oder Gegenentwurf. Mit anderen Worten, es stellt sicher, dass das Verfahren das Abstimmungsergebnis nicht beeinflusst, sondern in dem Sinne neutral bleibt, dass es rechnerisch die gleichen Erfolgschancen für Initiative und Gegenentwurf garantiert und es nicht schwieriger macht, den Status quo zu kippen als bei anderen Verfassungsänderungen. Wie jede andere Verfassungsänderung müssen jedoch sowohl die Initiative als auch der Gegenentwurf von einer doppelten Mehrheit des Volkes und der Stände angenommen werden, um gültig zu sein (Art. 140 Abs. 1 Bst. a, 142 Abs. 2 BV). Das Verfahren gewährleistet somit die Einhaltung des Föderalismus im Zusammenhang mit einer Abstimmung über alternative Verfassungsrevisionen.
16 Das Verfahren nach Art. 139b BV und Art. 76 BPR ermöglicht es den Bürgerinnen und Bürgern zudem, über die Initiative und den Gegenentwurf so differenziert abzustimmen, dass dies als (formeller) Ausdruck ihres (materiellen) Willens gewertet werden kann. Durch die Kombination von zwei Hauptabstimmungen und einer Stichfrage kann jeder Bürger jede der 13 nicht widersprüchlichen Präferenzordnungen, die das Verhältnis zwischen dem Gegenentwurf, der Initiative und dem Status quo regeln können, durch seine Stimme zum Ausdruck bringen. Durch die Verknüpfung der Fragen untereinander wird auch vermieden, dass die Abstimmung zu einem widersprüchlichen Gesamtergebnis führt. Diese Ausgestaltung dient somit nicht nur der (individuellen) inhaltlichen Freiheit der Abstimmung, sondern auch dem (kollektiven) Schutz der getreuen und sicheren Äußerung des Volkswillens, die sich beide aus der Garantie der politischen Rechte (Art. 34 Abs. 2 BV) ergeben.
B. Vergleichendes kantonales Recht
17 In fast allen Kantonen entspricht das System der Abstimmung über eine Initiative und einen Gegenentwurf mutatis mutandis (ohne das Erfordernis des doppelten Mehrs) demjenigen des Bundes (z.B. Art. 36 BV/ZH; Art. 60 Abs. 2 BV/BE; Art. 125 Abs. 5 BPR/FR; Art. 33 Abs. 3 BPR/VD; Art. 34 Abs. 4 BV/VS; Art. 113 BPR/NE; Art. 63 Abs. 3 BV/GE ). Nur zwei Kantone, der Jura und der Aargau, heben sich in diesem Punkt ab.
18 Im Kanton Jura werden Initiative und Gegenentwurf auch unabhängig voneinander in einer doppelten, gleichzeitigen Hauptabstimmung gegen den Status quo gestellt. Wenn sowohl die Initiative als auch der Gegenentwurf angenommen werden, gibt es jedoch keine Stichfrage. Die Vorlage, die mehr Stimmen erhalten hat, ist angenommen (Art. 76 Abs. 5 Cst./JU, Art. 93 Abs. 2 BPR/JU ).
19 Was den Kanton Aargau betrifft, so sieht er zwar eine gleichzeitige Abstimmung über die Initiative und den Gegenentwurf vor, aber die Abstimmung über die Initiative ist eine Hauptabstimmung, während die Abstimmung über den Gegenentwurf eine Eventualabstimmung ist (§ 65 Abs. 3 KV/AG ). Die Abstimmung über den Gegenentwurf wird nur dann berücksichtigt, wenn die Initiative abgelehnt wird. Wenn also beide Entwürfe die absolute Mehrheit erreichen, ist nur die Initiative angenommen (§ 59 Abs. 2 GPR/AG ).
III. Kommentar
A. Fragen, über die bei einer Abstimmung über eine Initiative und einen Gegenentwurf abgestimmt wird (Absatz 1)
1. Einheitlicher Stimmzettel
20 Art. 76 Abs. 1 BPR konkretisiert die Abstimmungsmodalitäten bei der Abstimmung über eine Initiative und einen direkten Gegenentwurf, indem er angibt, dass drei (unterschiedliche) Fragen auf einem (einzigen) Stimmzettel stehen. Damit setzt er die erste Weisung von Art. 139b Abs. 1 BV um, wonach die Stimmberechtigten in derselben Abstimmung ("gleichzeitig") über die Initiative und den Gegenentwurf abstimmen. Das Ziel dieser Gleichzeitigkeit ist es, die Chancengleichheit zwischen Initiative und Gegenentwurf zu gewährleisten.
21 Dennoch stimmen die Wähler über zwei verschiedene Gegenstände ab. Jede Bürgerin und jeder Bürger stimmt in erster Linie über die Initiative (Art. 76 Abs. 1 Bst. a BPR) und den Gegenentwurf (Art. 76 Abs. 1 Bst. b BPR) ab, und in zweiter Linie über ihre bzw. seine Präferenz zwischen Initiative und Gegenentwurf, falls beide angenommen werden (Art. 76 Abs. 1 Bst. c BPR). Die Bundesversammlung entscheidet im Übrigen über die Initiative und den Gegenentwurf in Form von zwei getrennten Bundesbeschlüssen (Art. 101 Abs. 2 ParlG).
2. Hauptfragen (Bst. a und b)
a. Unabhängige Abstimmungen
22 Die ersten beiden Fragen auf dem Stimmzettel ermöglichen es jeder Stimmbürgerin und jedem Stimmbürger, sich über die Initiative und den Gegenentwurf so zu äussern, als ob ihnen diese Vorlagen getrennt vorgelegt würden (Art. 76 Abs. 1 Bst. a und b BPR). Konkret lauten die Fragen wie folgt: a) Nehmen Sie die Volksinitiative "[Titel]" an? b) Nehmen Sie den Bundesbeschluss vom [Datum] betreffend [thematischer Titel des Gegenbeschlusses als Gegenentwurf"] an?
23 Sowohl die Initiative als auch der Gegenentwurf richten sich jeweils gegen die geltende Regelung (den Status quo). Um diesen zu stürzen, müssen beide die absolute Mehrheit der Stimmen von Volk und Ständen auf sich vereinen (Art. 140 Abs. 1 Bst. a, 142 Abs. 2–4 BV). Andernfalls wird die Vorlage abgelehnt.
24 Die Abstimmungen über die Initiative und den Gegenentwurf sind somit unabhängig voneinander. Jeder Gegenstand kann entweder angenommen oder abgelehnt werden. Werden beide abgelehnt, kommt es nicht zu einer Verfassungsänderung. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn eine Vorlage von der Mehrheit des Volkes und die andere von der Mehrheit der Kantone angenommen wird. Wenn nur eine der Vorlagen angenommen wird, wird die Verfassung in diesem Sinne revidiert. Wenn sowohl die Initiative als auch der Gegenentwurf angenommen werden, entscheidet eine eventuelle Abstimmung über eine Stichfrage zwischen den beiden Vorlagen, wodurch eine doppelte Verfassungsänderung vermieden werden kann.
b. Zulassung der doppelten Zustimmung
25 Art. 76 BPR, wie auch Art. 139b Abs. 2 BV, erlaubt es den Bürgerinnen und Bürgern, sowohl der Initiative als auch dem Gegenentwurf zuzustimmen ("every voter can declare without reservation"). Die Zustimmung zu einer der Vorlagen ist also nicht mehr Voraussetzung für die Abstimmung über die andere Vorlage. Die Bundesversammlung selbst kann die doppelte Zustimmung empfehlen (Art. 102 Abs. 1 Bst. b ParlG). Konkret können die Stimmzettel 9 Kombinationen enthalten: Ja/Ja; Nein/Nein; Ja/Nein; Nein/Ja; Weiss/Ja; Weiss/Nein; Ja/Weiss; Nein/Weiss; Weiss/Weiss; Weiss/Weiss.
26 Dank der Zulassung des "doppelten Ja" können die Bürgerinnen und Bürger ihre Präferenz für eine der beiden Revisionen (Initiative oder Gegenentwurf) gegenüber dem Status quo zum Ausdruck bringen. In Kombination mit der separaten Berechnung der Mehrheit ermöglicht diese Modalität, neun Präferenzen zwischen Initiative, Gegenentwurf und Status quo auszudrücken. Die Nebenfrage ermöglicht es, die restlichen 4 von 13 möglichen nicht widersprüchlichen Präferenzen auszudrücken.
27 Zum Vergleich: Im System der reinen Alternative waren Stimmzettel, die sowohl der Initiative als auch dem Gegenentwurf zustimmten, ungültig und wurden folglich bei der Ermittlung des Abstimmungsergebnisses nicht berücksichtigt. Eine leere Stimme, die sich nur auf eine der Vorlagen bezog, bedeutete de facto die Ablehnung dieser Vorlage. Dieses System ermöglichte keine ausreichend differenzierte Abstimmung, was sich zudem verfälschend auf das Gesamtergebnis der Abstimmung auswirken konnte und den Status quo über die gemeinsamen Anforderungen an jede Verfassungsänderung hinaus förderte. Denn von den 13 möglichen Präferenzordnungen zwischen Initiative, Gegenentwurf und Status quo konnten nur 4 tatsächlich ausgedrückt werden. Unter diesen Umständen war es möglich, dass die Initiative und der Gegenentwurf abgelehnt wurden, obwohl die Mehrheit der Wählerschaft eine Verfassungsänderung gewünscht hätte.
3. Subsidiäre Frage (Bst. c)
a. Ausschluss einer doppelten Verfassungsänderung
28 Da es zulässig ist, sowohl der Initiative als auch dem Gegenentwurf zuzustimmen, ist es möglich – auch wenn dies bisher noch nie vorgekommen ist –, dass beide Vorlagen jeweils das doppelte Mehr von Volk und Ständen erhalten und somit beide angenommen werden (Art. 142 Abs. 2 BV). Da Initiative und Gegenentwurf in einem (materiellen und formellen) Alternativverhältnis zueinander stehen , ist es jedoch ausgeschlossen, dass diese doppelte Annahme zu einer doppelten Verfassungsänderung führt.
b. Ausdruck einer Präferenz zwischen Initiative und Gegenentwurf im Fall einer doppelten Annahme
29 Um diese Grenze umzusetzen, sehen Art. 139b Abs. 2 BV und Art. 76 Abs. 1 Bst. c und Abs. 3 BPR vor, dass die beiden Vorlagen direkt einander gegenübergestellt werden in einer dritten, simultanen, von den Hauptfragen getrennten und subsidiären Frage, die die Bürgerinnen und Bürger fragt, "welcher der beiden Texte in Kraft treten soll, falls Volk und Stände die beiden Texte der geltenden Regelung vorziehen" (Art. 76 Abs. 1 Bst. c BPR). Die Frage lautet konkret: c) Wenn Volk und Stände sowohl die Volksinitiative "[Titel]" als auch den Gegenentwurf (Bundesbeschluss vom [Datum] über [thematischer Titel des als Gegenentwurf entgegengesetzten Beschlusses]) annehmen: Soll dann die Volksinitiative oder der Gegenentwurf in Kraft treten?
30 Im Gegensatz zur Abstimmung über die Initiative oder den Gegenentwurf lauten die Antworten, die die Bürgerinnen und Bürger auf die Stichfrage geben können, nicht "Ja" oder "Nein" (oder eine leere Stimme), sondern "Initiative" oder "Gegenentwurf" (oder eine leere Stimme). Die Stichfrage führt somit zwangsläufig zu einer Wahl zwischen diesen beiden Vorlagen. Erhält eine Vorlage die Mehrheit (aus der Summe der Stimmen von Volk und Ständen), vereint die andere zwangsläufig nur eine Minderheit auf sich. Wenn die Initiative zum Beispiel 51 Prozent der Stimmen erhält, hat der Gegenentwurf 49 Prozent. Es ist also nicht möglich, dass, wie bei den Hauptabstimmungen, beide Vorlagen die Mehrheit von Volk und Ständen auf sich vereinen.
31 Die Antwort auf die Stichfrage ist unabhängig von den Antworten auf die Hauptfragen zur Initiative und zum Gegenentwurf. Es ist möglich, sie nicht zu beantworten oder nur auf diese Frage zu antworten (vgl. auch Art. 76 Abs. 2 Satz 2 BPR ). Dieses System ermöglicht es, die 13 möglichen widerspruchsfreien Präferenzordnungen zwischen Initiative, Gegenentwurf und Status quo auszudrücken , einschließlich der 4, die eine Präferenz zwischen Initiative und Gegenentwurf anzeigen, wenn beide dem Status quo vorgezogen werden oder umgekehrt, wenn der Status quo ihnen vorgezogen wird.
B. Berechnung der Mehrheiten (Absatz 2)
1. Getrennte Berechnung
32 Art. 76 Abs. 2 BPR setzt das System der doppelten Abstimmung über Initiative und Gegenentwurf mit Stichfrage um, indem er festlegt, dass die Stimmen gezählt und die absolute Mehrheit für jeden Gegenstand getrennt berechnet werden (1. S.) und dass unbeantwortete Fragen nicht berücksichtigt werden (2. S.). Das bedeutet, dass eine leere Stimme bei einer der Fragen (partieller leerer Stimmzettel), z. B. der Präferenz zwischen Initiative und Status quo , bei der Berechnung der für die Beantwortung dieser Frage erforderlichen Mehrheit nicht berücksichtigt wird. Sie wird jedoch bei der Berechnung der erforderlichen Mehrheit für die Beantwortung der anderen Fragen berücksichtigt, wenn sie sich zu diesen Fragen äußert.
33 Zur Veranschaulichung: Wenn von insgesamt 2'600'000 in Frage kommenden Stimmzetteln 50'000 Stimmzettel nicht für die Initiative und 70'000 nicht für den Gegenentwurf abgegeben werden, ist die absolute Mehrheit des Volkes bereits bei 1'275'000 Ja-Stimmen ([2'600'000-50'000] : 2) für die Initiative erreicht, während sie für den Gegenentwurf bereits bei 1'265'000 Ja-Stimmen ([2'600'000-70'000] : 2) erreicht ist.
34 Um diese Berechnung zu ermöglichen, werden im Abstimmungsprotokoll für jede Hauptfrage getrennt die Anzahl der Ja-Stimmen, die Anzahl der Nein-Stimmen und die Anzahl der unbeantworteten Stimmzettel sowie für die Stichfrage die Anzahl der jeweiligen Stimmen für die Initiative oder den Gegenentwurf und die Anzahl der leeren Stimmen angegeben. Die Anzahl der Stimmzettel, die überhaupt nicht in Betracht kommen (völlig leer oder völlig ungültig), wird in einem gesonderten Posten eingetragen (Art. 4 Abs. 1 ODP und Anhang 1b ODP).
2. Ausdruck der Gleichgültigkeit zwischen einem Gegenstand und dem Status quo
35 Die separate Berechnung der Mehrheit ermöglicht es, nur bei der Initiative oder dem Gegenentwurf leer zu stimmen, ohne dass diese leere Stimme als Ablehnung dieses Gegenstands interpretiert wird. So ist es möglich, einem Gegenstand zuzustimmen oder ihn abzulehnen und eine Gleichgültigkeit zwischen dem anderen Gegenstand und dem Status quo auszudrücken. Jeder Gegenstand hat die gleichen Chancen, angenommen zu werden, wie wenn er allein zur Abstimmung gestellt würde.
36 Zum Vergleich: Im alten System wurde die absolute Mehrheit gemeinsam für die Initiative und den Gegenentwurf berechnet. Teilweise leere Stimmzettel wurden bei der Berechnung der gemeinsamen Mehrheitsschwelle berücksichtigt. Eine leere Stimme bei nur einer der Vorlagen bedeutete de facto, dass man diese Vorlage ablehnte, da der Stimmzettel dennoch die Schwelle für die absolute Mehrheit auch bei dieser Vorlage erhöhte. Dieses System verhinderte, dass die vier Prioritätsreihenfolgen zwischen Initiative, Gegenentwurf und Status quo, die eine Gleichgültigkeit zwischen dem Status quo und einem der Gegenstände zum Ausdruck bringen, zum Ausdruck kamen. Allgemeiner gesagt, verfälschte es den Ausdruck des Volkswillens, da teilweise leere Stimmzettel dazu beitrugen, die Schwelle für die absolute Mehrheit für einen Gegenstand zu erhöhen, dem diese Stimmzettel jedoch genauso viel Vorzug gegeben hatten wie dem Status quo.
C. Abstimmungsergebnis bei doppelter Annahme der Initiative und des Gegenentwurfs (Absatz 3)
1. Umfang der Stichfrage (1. Satz)
a. Mögliche Tragweite
37 Wie bereits erwähnt , hat die Zulässigkeit der doppelten Annahme von Initiative und Gegenentwurf zur Folge, dass es möglich ist, dass diese beiden Gegenstände von Volk und Ständen angenommen werden. Da die Verfassung nicht in diese beiden sich ausschließenden Richtungen revidiert werden kann, stellt das geltende Abstimmungssystem die Initiative und den Gegenentwurf in einer Stichfrage direkt gegenüber, die es den Bürgerinnen und Bürgern ermöglicht, ihre Präferenz zwischen diesen beiden Vorlagen auszudrücken, wenn beide angenommen werden (Art. 139b Abs. 2 BV cum 76 Abs. 1 Bst. c BPR).
38 Der subsidiäre Charakter der Frage nach der Präferenz zwischen Initiative und Gegenentwurf ergibt sich bereits aus dem Wortlaut, wie ihn Art. 76 Abs. 1 Bst. c BPR formuliert ("falls Volk und Stände die beiden Texte dem geltenden System vorziehen"). Art. 76 Abs. 3 erster Satz. BPR bestätigt die mögliche Bedeutung der Abstimmung über die Stichfrage, indem er festlegt, dass "wenn sowohl die Volksinitiative als auch der Gegenentwurf angenommen werden, das Ergebnis, das sich aus den Antworten auf die dritte Frage ergibt, die Entscheidung trägt". Im Gegensatz zu den Hauptabstimmungen wird die Abstimmung über die Stichfrage also nicht bedingungslos berücksichtigt. Ihre mögliche Bedeutung wird nur dann aktualisiert, wenn sowohl die Initiative als auch der Gegenentwurf als Antwort auf die Hauptfragen angenommen werden. In allen anderen Fällen sind nur die Ergebnisse der Hauptabstimmungen ausschlaggebend. Das Ergebnis der Abstimmung über die Stichfrage wird jedoch in allen Fällen festgestellt, auch in den Fällen, in denen nur die Hauptabstimmungen ausschlaggebend sind.
b. Zusätzliche Bedingung für die Annahme der Initiative oder des Gegenentwurfs
39 Das System der Stichfrage macht die Annahme einer Verfassungsänderung von der Annahme durch Volk und Stände abhängig (Art. 140 Abs. 1 Bst. a BV), wenn sowohl die Initiative als auch der Gegenentwurf angenommen werden. In diesem Fall muss die Verfassungsänderung nicht nur von Volk und Ständen als Antwort auf die Hauptabstimmungen angenommen worden sein – was in allen anderen Fällen eine ausreichende Voraussetzung für die Annahme einer Verfassungsänderung ist –, sondern auch als Antwort auf die Stichfrage bevorzugt worden sein.
2. Ergebnis der Abstimmung über die Stichfrage (2. Satz)
a. (Künstliche) Erfordernis einer doppelten Mehrheit
40 Nach dem Willen des Gesetzgebers muss die in Beantwortung der Stichfrage zum Ausdruck gebrachte Präferenz für die Initiative oder den Gegenentwurf eine doppelte Mehrheit von Volk und Ständen auf sich vereinen, um über ihre Alternative zu triumphieren. Art. 76 Abs. 3 zweiter Satz. BPR bestimmt, dass die Vorlage, die "die meisten Wähler- und die meisten Stände-Stimmen auf sich vereinigt", in Kraft tritt. Diese Regel muss jedoch in Verbindung mit Art. 139b Abs. 3 BV gelesen werden, um ihre Tragweite zu erfassen.
41 Bis 2003 wurde keine Verfassungsänderung angenommen, wenn bei der Beantwortung der Stichfrage eine Vorlage die Mehrheit der Volks- und die andere die Mehrheit der Stände-Stimmen auf sich vereinigte. Diese Blockade begünstigte den Status quo und verfälschte den Volkswillen. Um dieser Situation abzuhelfen, mildert Art. 139b Abs. 3 BV nun die Folgen einer Divergenz zwischen Volk und Kantonen. Wie in Art. 76 Abs. 3 zweiter Satz zum Ausdruck kommt. BPR ("die meisten Wählerstimmen und die meisten Standestimmen" [Hervorhebung hinzugefügt]), bleibt das doppelte absolute Mehr von Volk und Ständen bei der Beantwortung der Stichfrage jedoch implizit die grundsätzliche Regel.
42 Unserer Ansicht nach ist diese Unterscheidung zwischen einer ordentlichen Regel, wenn eine Antwort das doppelte Mehr erreicht, und einer besonderen Regel, wenn dies nicht der Fall ist, jedoch künstlich. Tatsache ist, dass Art. 139b Abs. 3 BV auf das Erfordernis des doppelten Mehrs verzichtet und stattdessen ein anderes Kriterium – die Mehrheit der Summe der Stimmen von Volk und Ständen – vorsieht, das in allen Situationen eine Entscheidung zwischen Initiative und Gegenentwurf ermöglicht. Eine Vorlage, die das Volks- und Ständemehr erreicht (z. B. 51 % des Volkes und 12 Kantone [52,17 %]), erhält nämlich zwangsläufig die höhere Summe der prozentualen Anteile der Stimmen der Stimmberechtigten und der Kantone (103,17 % vs. 96,83 %). Das nach Art. 139b Abs. 3 BV berechnete absolute Mehr ist daher in allen Fällen relevant, nicht nur bei Differenzen zwischen Volk und Ständen. Statt der Vorlage, die "die meisten Wähler- und die meisten Stände-Stimmen" (vgl. Art. 76 Abs. 3 Satz 2 BPR) sammelt, geht die Vorlage mit den meisten Wähler- und Stände-Stimmen als Sieger hervor (vgl. auch die italienische Version: "il maggior numero di voti del Popolo e dei Cantoni").
b. (Tatsächliche) Erfordernis der höchsten Summe der Stimmen von Volk und Kantonen
43 Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass der Ausgang der Abstimmung über die subsidiäre Frage – wenn diese ihre Tragweite entfalten soll – durch eine besondere Mehrheit bestimmt wird: Angenommen ist die Vorlage, welche die höchste Summe der Stimmen der Stimmberechtigten und der Kantone auf sich vereinigt (Art. 76 Abs. 3 2. Satz BPR cum 139b Abs. 3 BV).
44 Wenn eine Antwort auf die Stichfrage die Mehrheit der Stimmen des Volkes und die Mehrheit der Stimmen der Kantone auf sich vereinigt, vereinigt sie notwendigerweise auch die Mehrheit der Summe der Stimmen des Volkes und der Kantone auf sich. In diesem Fall, der nach der Vorstellung des Verfassungs- und des Gesetzgebers den Normalfall darstellt, ist keine zusätzliche Berechnung erforderlich.
45 Wenn umgekehrt eine Vorlage das Volksmehr und die andere das Ständemehr erreicht (beide Vorlagen haben jeweils das doppelte Mehr bei der Beantwortung der Hauptfrage erreicht), schreibt Art. 139b Abs. 3 BV eine Methode vor, die als "Summe der Prozentsätze" bezeichnet wird, bei der die Stimmen der Wählerinnen und Wähler sowie der Kantone, die jede Vorlage erhalten hat, in Prozente umgerechnet und dann addiert werden.
46 Nach dieser Methode ist jeder Kanton ca. 4,348 % wert, jeder "Halbkanton" ca. 2,174 %. Die Gesamtsumme der Volks- und der Standestimmen entspricht 200 % (100 % der Stimmen der Bürgerinnen und Bürger und 100 % der Stimmen der Kantone). Die absolute Mehrheit wird aus diesem Gesamttotal errechnet. Es wird also von der Vorlage erreicht, bei der die Summe der in Prozent umgerechneten Stimmen 100 % übersteigt, unabhängig davon, ob diese Vorlage ein Minimum von mehr als 50 % der Volks- und mehr als 50 % der Ständerstimmen erhalten hat. Mit anderen Worten: Die Siegervorlage ist diejenige, die die höchste Summe der in Prozent ausgedrückten Volks- und Standesvertreterstimmen erhält.
47 Als Beispiel kann man sich vorstellen, dass bei der Beantwortung einer subsidiären Frage mit insgesamt 2'500'000 Antworten eine Initiative 13 Kantone, 4 "Halbkantone" und 1'200'000 Volksstimmen erhält, während ihr Gegenentwurf 7 Kantone, 2 "Halbkantone" und 1'300'000 Stimmen erhält. Rechnet man diese Ergebnisse in Prozent um, so erhält die Initiative ca. 65,22 % der Stimmen der Kantone und 48 % der Stimmen des Volkes und der Gegenentwurf ca. 34,78 % der Stimmen der Kantone und 52 % der Stimmen des Volkes. Insgesamt erhält die Initiative somit 113,22 % der Volks- und Standestimmen und der Gegenentwurf 86,78 %. In diesem Fall ist es also die Initiative, die die Mehrheit erreicht, da sie mehr als 100 % der Stimmen erhalten hat (und logischerweise einen höheren Prozentsatz als der Gegenentwurf).
48 Das Kriterium der Summe der Prozentsätze ist neutral gegenüber der Initiative und dem Gegenentwurf. Es respektiert die Gleichheit zwischen diesen beiden Vorlagen und verhindert, dass der Status quo ungebührlich bevorzugt wird, obwohl sowohl die Initiative als auch der Gegenentwurf von einer doppelten Mehrheit des Volkes und der Kantone als Antwort auf die Hauptfragen angenommen wurden. Unserer Meinung nach stellt diese besondere Mehrheit jedoch eine ungerechtfertigte Beeinträchtigung der Stimmrechtsgleichheit dar. Es verleiht den (Bürgerinnen und Bürgern bestimmter) Kantone mehr Einfluss als den Wählerinnen und Wählern (anderer Kantone). Dieser unausgewogene Einfluss ist jedoch unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten im Stadium der subsidiären Frage nicht zu rechtfertigen. Bei der Abstimmung über die Stichfrage geht es nämlich nicht darum, ob ein Gegenstand angenommen (> 50 %) oder abgelehnt (< 50 %) wird, sondern darum, zwischen zwei Verfassungsänderungen zu entscheiden, die bereits nach den Modalitäten eines obligatorischen Referendums angenommen wurden. Es fällt somit nicht in den Anwendungsbereich der Regel der doppelten Mehrheit (Art. 140 Abs. 1 Bst. a BV). Das Kriterium der höchsten Summe der Stimmen von Volk und Ständen weicht zudem von der Bedeutung des doppelten Mehrs ab. Es geht nicht mehr darum, eine Mindestzahl von Körperschaften zusammenzubringen, die einem Gegenstand zustimmen (Art. 142 Abs. 2 BV), sondern darum, den Kantonen einen rechnerischen Einfluss auf die Beantwortung der subsidiären Frage zuzugestehen. Ein derartiger Einfluss der Kantone findet jedoch weder im Föderalismusprinzip noch in einem anderen allgemeinen Grundsatz eine Rechtfertigung.
49 Nach dem vorliegenden Kommentar sollte daher nur die Mehrheit des Volkes für das Ergebnis der Abstimmung über die Stichfrage ausschlaggebend sein, wie es die Behörden bei der Totalrevision der Verfassung auch beabsichtigt hatten. Ein solcher Paradigmenwechsel erfordert jedoch eine Revision von Art. 139b Abs. 3 BV und Art. 76 Abs. 3 Satz 2 BPR.
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