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Kommentierung zu
Art. 3 BPR
defriten

I. Entstehungsgeschichte

A. Politisch umstrittenes Gemeindebürgerrecht

1 Hintergrund der politischen Auseinandersetzungen um den politischen Wohnsitz und damit das Stimmrecht in einem Gemeinwesen bildet die Ausdifferenzierung der Bürgerrechte seit der Reformation,

denn historisch war das Stimmrecht mit den Bürgerrechten verbunden.
In dieser Zeit entwickelten sich das Gemeindebürgerrecht sowie das Landrecht, was dem heutigen Kantonsbürgerrecht entsprach. Da die beiden Rechte unterschiedliche Voraussetzungen kannten und unterschiedliche Gründe zu deren Verlust führen konnten, besassen die Bürger nicht notwendigerweise beide Rechte gleichzeitig.
Diese Ausdifferenzierung wurde seit dem 17. Jahrhundert verschärft, als die Gemeinden begannen, sich gegen die Aufnahme fremder Personen abzuschotten. Dies einerseits, weil das Bürgerrecht immer mehr als eigentumsähnlich verstanden wurde und da sich andererseits in der Armenfürsorge das Heimatprinzip etabliert hatte.
Auf diese Weise wohnten in einer Gemeinde Personen mit unterschiedlichen Aufenthaltstiteln und Rechten. Gerechtigkeitsgenossenschaften übten die politischen Rechte aus, Hintersassen oder Landsassen waren zwar am Gemeindegut nutzungsberechtigt, hatten aber keine politischen Rechte. Hintersassen waren in einer Gemeinde seit langem ansässig, hatten aber kein Bürgerrecht der Gemeinde. Landsassen besassen das Kantonsbürgerrecht aber kein Gemeindebürgerrecht und in den Städten wurde oft zwischen dem grossen und dem kleinen Bürgerrecht unterschieden, wobei das kleine nur eingeschränkte Rechte vermittelte.

B. Allmähliche Konvergenz von eidgenössischem und kantonalem Stimmrecht

2 Die BV 1848 führte entsprechend ihrer liberalen Ausrichtung die grundsätzliche Niederlassungsfreiheit für Schweizer Bürger christlicher Konfession ein.

Die BV 1848 verpflichtete die Kantone aber noch nicht, den niedergelassenen Schweizern auch die politischen Rechte in ihrer Wohnsitzgemeinde einzuräumen.
Die Niederlassungsfreiheit der Schweizer jüdischen Glaubens wurde erst durch eine Teilrevision der BV im Jahre 1866 verwirklicht.
Am gleichen Abstimmungstermin scheiterten hingegen zwei Verfassungsrevisionen, welche den Niedergelassenen die politischen Rechte auch auf kommunaler Ebene einräumen wollten.
Erst die BV 1874 verpflichtete die Kantone schliesslich, den niedergelassenen Schweizern auch die politischen Rechte auf Gemeindeebene einzuräumen,
was zur Ausdifferenzierung von politischer Gemeinde und Bürgergemeinde führte.
Die Bürgergemeinden verwalteten fortan das Bürgervermögen und konnten die Nichtbürger weiterhin unterschiedlich behandeln.

3 Art. 3 BPR hat seine erste Vorgängerbestimmung in Art. 4 des Bundesgesetzes betreffend die Wahl der Mitglieder des Nationalrates vom 21. Dezember 1850

. Nach jener Bestimmung sollten die Wähler ihr Stimmrecht jeweils da ausüben, wo sie wohnten, womit für die politischen Rechte auf Bundesebene seit Anbeginn des Bundesstaates das Wohnsitzprinzip galt. Als Wohnort galt der Ort, an welchem die Schweizer ihren ordentlichen Aufenthalt hatten.
Der Wohnsitz als zivilrechtliches Institut hatte sich in historischer Perspektive allmählich von der polizeilichen Niederlassung- oder Aufenthaltsbewilligung entkoppelt.
Das Bundesrecht stellte für den politischen Wohnsitz schon seit 1850 auf das zivilrechtliche Kriterium des ordentlichen Aufenthalts ab, obwohl sich zu dieser Zeit noch kein einheitlicher zivilrechtlicher Begriff des Wohnsitzes entwickelt hatte.
Der Bund hatte jedoch gestützt auf die Garantie des Gerichtsstands des Schuldners am Wohnort (Art. 59 BV 1874) seit 1874 gewohnheitsrechtliche Wohnsitzregeln nach dem Vorbild des französischen Code civil entwickelt, welche erstmals in Art. 3 des Bundesgesetzes betreffend die zivilrechtlichen Verhältnisse der Niedergelassenen und Aufenthalter vom 25. Juni 1891
gesetzlich verankert wurden.

4 Mit dem Bundesgesetz vom 19. Juli 1872 betreffend die eidgenössischen Wahlen und Abstimmungen

präzisierte der Bundesgesetzgeber den politischen Wohnsitz, wonach jeder Schweizerbürger sein Stimmrecht da ausübte, wo er «als Ortsbürger oder als Niedergelassener oder Aufenthalter wohnt».
Zum zivilrechtlichen Kriterium des Wohnens kam nun ein formelles Kriterium hinzu, nämlich jenes eines polizeilichen Aufenthaltstitels,
wobei weiterhin Fälle denkbar waren, in welchen Schweizerbürger politischen Wohnsitz begründen konnten, ohne über einen dieser Aufenthaltstitel zu verfügen.
Niederlassung- und Aufenthaltsbewilligung sind polizeiliche Erlaubnisse, auf die der Schweizerbürger zu jener Zeit jedoch grundsätzlich Anspruch hatte.
Dieser Aufenthaltstitel musste aber gleichwohl nachgewiesen werden. Zur Ausübung der kantonalen und kommunalen Stimmrechte konnten die Kantone zudem die Niederlassung erforderlich machen.

5 Da sich diese Bestimmungen nur auf die eidgenössischen Wahlen und Abstimmungen bezogen, erforderte die Totalrevision der BV im Jahre 1874 keine Anpassung der betreffenden Gesetzesbestimmung. Erst 1951 präzisierte der Bundesgesetzgeber die Modalitäten des politischen Wohnsitzes, wonach ein Stimmfähiger an seinem Aufenthaltsort politischen Wohnsitz in eidgenössischen Angelegenheiten erwirbt, sofern er nicht zu einem anderen Ort stärkere Beziehungen unterhält und wenn er seinen Heimatschein mindestens zehn Tage vor der Abstimmung hinterlegt hat.

Art. 3 BPR, welcher 1976 eingeführt und seither unverändert blieb, übernahm diese Bestimmung im Wesentlichen. Die Wartefrist ist heute (in der Form einer registertechnischen Frist) Gegenstand von Art. 4 BPR.

II. Bedeutung der Vorschrift

A. Allgemeines

6 Das Wohnsitzprinzip wird auch als demokratisches Territorialitätsprinzip bezeichnet,

welches sicherstellen soll, dass die politischen Willensäusserungen der Stimmberechtigten jener Gebietskörperschaft zugerechnet werden, der diese angehören und von deren Entscheiden sie am ehesten betroffen sind.

7 Der politische Wohnsitz ist ein bundesverfassungsrechtlicher Begriff (Art. 39 Abs. 2 BV), welcher durch Art. 3 BPR konkretisiert wird.

Die Kantone haben diesen Begriff übernommen, womit heute ein einheitlicher Begriff des politischen Wohnsitzes in der Eidgenossenschaft gilt.

8 Gleichzeitig bürgt der politische Wohnsitz dafür, dass das Staatsorgan Volk ordnungsgemäss zusammengesetzt ist.

Ein Anspruch, welcher Teil der Wahl- und Abstimmungsfreiheit von Art. 34 BV ist und etwa den «Stimmtourismus», also die kurzzeitige Verlegung des Wohnsitzes in ein anderes Gemeinwesen, um dort stimmberechtigt zu werden, verhindern soll.

9 Art. 3 BPR dient aber auch der Konkretisierung von Art. 39 Abs. 3 BV, indem er sicherstellt, dass eine Person nur einen politischen Wohnsitz hat und ihre politischen Rechte damit auch nur an einem Ort ausüben kann. Zum tatsächlichen zivilrechtlichen Kriterium des Wohnsitzes ist daher zur Begründung des politischen Wohnsitzes eine formelle Anmeldung notwendig, welche bisher in der Regel durch Hinterlegung des Heimatscheins geschah und worauf die Person ins Stimmregister eingetragen wird. Der Heimatschein wurde jedoch durch eine Revision des Personenstands- und Grundbuchrechts im Jahre 2019 überflüssig (vgl. unten N. 22).

10 In der Regel fällt der zivilrechtliche Wohnsitz einer stimmberechtigten Person mit ihrem politischen Wohnsitz zusammen, also dort, «wo sie sich mit der Absicht dauernden Verbleibens aufhält» (Art. 23 ZGB). Ausnahmen können gemäss Art. 1 VPR insbesondere für Bevormundete, Wochenaufenthalter und Ehegatten bestehen.

11 Darüber hinaus ist für das Stimmrecht der Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer eine Fiktion in Bezug auf deren Wohnsitz notwendig, denn dieser befindet sich im Aufenthaltsstaat. Diese Ausnahme stützt sich auf Art. 40 Abs. 2 BV und sieht vor, dass Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer ihr Stimmrecht in ihrer letzten Wohnsitzgemeinde bzw. ihrer Heimatgemeinde ausüben (Art. 18 ASG). Aufgrund des demokratischen Territorialitätsprinzips stellt das Stimmrecht der Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer keine Selbstverständlichkeit dar und wird in der Lehre kritisiert.

B. Rechtsvergleich

12 Das Wohnsitzerfordernis hat eine je unterschiedliche Bedeutung auf Bundesebene und kantonaler Ebene.

13 Das subjektive Stimmrecht hängt in Bezug auf die politischen Rechte im Bund nicht vom Wohnort ab. Sind die Voraussetzungen des Stimmrechts erfüllt (Art. 136 BV), so ist die Person ins Stimmregister der Wohngemeinde einzutragen (Art. 3 Abs. 1 BPR).

Die Bedeutung des politischen Wohnsitzes ist in dieser Hinsicht lediglich eine verfahrensrechtliche, wonach in der Schweiz niedergelassene Stimmberechtigten ihre politischen Rechte an diesem Ort «ausüben».
Für Auslandschweizerinnen und -schweizer sieht Art. 18 ASG Sonderbestimmungen vor.
Ebenso stimmen Fahrende gemäss Art. 3 Abs. 1 BPR in ihrer Heimatgemeinde (vgl. dazu unten N. 18 ff.). Die politischen Rechte werden nur an diesem Ort ausgeübt (Art. 39 Abs. 3 BV). Die Ausübung des Stimmrechts wird durch diesen Ort auch beeinflusst, indem etwa für die Teilnahme an Nationalratswahlen relevant ist, in welchem Kanton der politische Wohnsitz liegt (vgl. Art. 149 Abs. 2 BV).

14 Auf kantonaler Ebene hat der politische Wohnsitz neben der verfahrensrechtlichen Funktion noch eine zusätzliche Bedeutung, hängen doch die kantonalen und kommunalen politischen Rechte von einem Wohnsitz im Kanton und der entsprechenden Gemeinde ab. Der politische Wohnsitz stellt damit in der Regel eine subjektive Voraussetzung des Stimmrechts dar.

Die Kantone sind aber frei darin, ob sie Auslandschweizerinnen und -schweizern das Stimmrecht in kantonalen und kommunalen Angelegenheiten und damit eine entsprechende Ausnahme vom Erfordernis des Wohnsitzes einräumen wollen.
Art. 39 Abs. 3 BV untersagt es hingegen den Kantonen, Personen mit politischem Wohnsitz in anderen Kantonen die Ausübung der Stimmrechte im Kanton einzuräumen. Als Grundsatz der Einheit des politischen Wohnsitzes gilt dies auch auf Gemeindeebene sowie – zur Verhinderung der mehrfachen Ausübung des Stimmrechts in der gleichen Angelegenheit – auch auf Bundesebene.

15 Zwar wird in der Lehre vertreten, die Kantone könnten gestützt auf Art. 39 Abs. 1 BV einen kantonalrechtlichen Begriff des politischen Wohnsitzes schaffen, ein unterschiedlicher Begriff könnte in der Praxis aber Schwierigkeiten bereiten.

Für die Bestimmung des politischen Wohnsitzes verweisen die Kantone denn auch ausdrücklich auf das BPR oder übernehmen die entsprechende Terminologie.

III. Kommentierung des Normtextes

A. Definition des politischen Wohnsitzes (Abs. 1)

1. Politischer Wohnsitz

16 Das BPR definiert den für die Stimmabgabe relevanten Wohnsitz, welcher als politischer Wohnsitz bezeichnet wird. Der politische Wohnsitz knüpft dafür grundsätzlich an die Kriterien des zivilrechtlichen Wohnsitzes gemäss Art. 23 ZGB an, was das Gesetz mit dem Begriff «wo der Stimmberechtigte wohnt» andeutet. Die Botschaft nennt dazu die beiden zivilrechtlichen Kriterien tatsächlicher und alleiniger Aufenthalt (objektive Voraussetzung) sowie Absicht des dauernden Verbleibens (subjektive Voraussetzung).

Aufenthalt begründet eine Person, sobald sie faktisch ein einem Ort verweilt.
Um Wohnsitz zu begründen, muss sie zusätzlich auch die Absicht haben, an diesem Ort dauernd zu verbleiben.

17 Diese zivilrechtlichen Voraussetzungen werden nun um ein formelles und objektives Kriterium erweitert: die Anmeldung bei der zuständigen Behörde. Die Botschaft nennt als Grund dafür den Umstand, dass die zivilrechtlichen Wohnsitzdefinition für bestimmte Fälle wie getrennt lebende Ehefrauen, Wochenaufenthalter und Studierende nicht genüge.

Bei den genannten Fällen handelt es sich aus zivilrechtlicher Sicht um Fälle, bei welchen der Wohnsitz aus unterschiedlichen Gründen umstritten sein kann.
Diese Unsicherheit will der Gesetzgeber beim politischen Wohnsitz scheinbar nicht dulden und verlangt daher als zusätzliche Voraussetzung die Anmeldung bei der zuständigen Behörde durch Hinterlegung der Schriften. Im Widerspruch zu dieser Argumentation unterstreicht der Bundesrat in seiner Botschaft, dass die Hinterlegung des Heimatscheines allein aber ebenso wenig genügt und die zivilrechtlichen Voraussetzungen ebenfalls gegeben sein müssen.
In den erwähnten Fällen bleibt die Unsicherheit um den politischen Wohnsitz damit weiterbestehen.

2. Fahrende

18 Der Umgang der Schweiz mit den Fahrenden ist ein dunkles Kapitel der Geschichte des Bundesstaats.

Dabei bestand schon früh ein Zusammenhang zwischen Nicht-Sesshaftigkeit und fehlenden Bürgerrechten. Der frühe Bundesstaat ging daran, die Personen ohne Bürgerrecht (Heimatlose) einzubürgern und in diesem Zusammenhang Fahrende (damals als Vaganten bezeichnet) bereits im 19. Jhd. auch zu einer sesshaften Lebensweise zu zwingen,
indem er diesen mitunter auch die Kinder entzog.
Ein Vorgehen, das mit dem Programm «Hilfswerk Kinder der Landstrasse» bis 1973 fortgesetzt wurde.

19 Ein faktischer Druck hin zu einer sesshaften Lebensweise wurde noch bis 1994 auch im Hinblick auf das Stimmrecht aufrecht erhalten. Da das Stimmrecht schon immer an einen politischen Wohnsitz geknüpft war, stellten sich die Behörden lange auf den Standpunkt, dass die Fahrenden, soweit sie tatsächlich keinen politischen Wohnsitz hatten, auch kein Stimmrecht haben konnten.

Diese formalistische Sicht wich erst mit den politischen Bemühungen, das Unrecht wieder gutzumachen, welches den Fahrenden angetan wurde.
Und erst im Jahre 1994 trat schliesslich der revidierte Art. 3 Abs. 1 BPR in Kraft, welcher es Fahrenden, in Analogie zu den Auslandschweizerinnen und Auslandschweizern ermöglicht, ihr Stimmrecht in ihrer Heimatgemeinde ausüben zu können. Die Ungleichbehandlung gegenüber den Auslandschweizerinnen und Auslandschweizern, welche ihr Stimmrecht in eidgenössischen Angelegenheiten bereits seit 1975 ausüben konnten,
ohne über einen Wohnsitz in der Schweiz zu verfügen, erscheint dabei besonders stossend.

20 Der Begriff der Fahrenden wird vom Gesetz und der Botschaft nicht näher definiert. Aus dem systematischen Zusammenhang ergibt sich, dass Fahrende sich dadurch auszeichnen, dass sie über keinen dauernden Wohnsitz verfügen. Sie wohnen zwar zeitweise an einem Ort, ihnen fehlt aber die Absicht, dauernd an diesem Ort zu verbleiben.

Bei den Fahrenden im Sinne des Gesetzes handelt es sich um Schweizer Bürgerinnen und Bürger. Als solche verfügen sie über das Bürgerrecht einer Schweizer Gemeinde und üben ihr Stimmrecht nach Art. 3 Abs. 1 Satz 2 BPR auch in dieser Heimatgemeinde aus.

21 Bei Fahrenden, welche auch im Ausland unterwegs sind, scheint die Abgrenzung zum Status als Auslandschweizerinnen und Auslandschweizern nicht eindeutig, denn für einen Eintrag im Auslandschweizerregister genügt es, als Schweizerin oder Schweizer über keinen Wohnsitz in der Schweiz zu verfügen und blossen «Aufenthalt» an einem Ort im Ausland begründet zu haben.

Mit Aufenthalt wird in der Schweiz das objektive Erfordernis des sich Aufhaltens an einem Ort bezeichnet, ohne das subjektive Element des dauernden Verbleibens an diesem Ort.

B. Heimatschein und andere Ausweise (Abs. 2)

22 Der Heimatschein war bisher der Bürgerrechtsausweis der Schweizer Staatsangehörigen im Inland.

Dieser muss noch immer in den meisten Kantonen am Ort der Niederlassung hinterlegt werden. Zur Anmeldung an einem weiteren Wohnsitz stellt die Niederlassungsgemeinde sodann einen Heimatausweis bzw. einen Interimsschein aus.
Heimatausweis und Interimsschein sind kantonal unterschiedliche Bezeichnungen für Aufenthaltsausweise.
Einen solchen benötigen insbesondere Wochenaufenthalterinnen und -aufenthalter an ihrem Aufenthaltsort, während ihr politischer Wohnsitz am Ort verbleibt, an welchem sie den Heimatschein hinterlegt haben, womit sie auch weiterhin dort ihr Stimmrecht ausüben.

23 Bei Erlass des BPR begründete der Bundesrat Art. 3 Abs. 2 BPR als Sonderregelung für getrennt lebende Ehegatten, da die getrennt lebende Ehefrau bis zur Revision des Eherechts nicht über einen selbständigen Heimatschein verfügte, mit welchem sie sich am neuen Wohnort in das Stimmregister hätte eintragen lassen können.

Heute beurteilt sich der Wohnsitz von Ehegatten gesondert für jeden Ehegatten,
womit die Bestimmung ihre ursprüngliche Bedeutung verloren hat. Immerhin eröffnet Art. 3 Abs. 2 BPR einer Person die Möglichkeit, sich auch ohne Hinterlegung des Heimatscheins ins Stimmregister eintragen zu lassen, wenn sie nachweisen kann, dass sie an keinem anderen Ort im Stimmregister eingetragen ist.
Die praktische Bedeutung dieser Möglichkeit scheint aber sehr gering.

24 Kein Fall von Art. 3 Abs. 2 BPR stellt die Regelung von Art. 1 lit. c VPR dar, wonach der politische Wohnsitz eines Ehegatten unter gewissen Umständen vom zivilrechtlichen Wohnsitz abweichen kann. Bei dieser Regelung handelt es sich um einen der Ausnahmefälle, bei welchen zivilrechtlicher und politischer Wohnsitz voneinander abweichen können, wie dies auch bei Wochenaufenthaltern oder Bevormundeten der Fall sein kann.

25 Die Bedeutung der Heimatscheins wird zudem weiter abnehmen. Grundlage für den Heimatschein bildete seit 1980 das Familienregister.

Mit Erlass der Zivilstandsverordnung im Jahre 2004 wurde der Heimatschein als Zivilstandsdokument definiert.
Seit einer Revision des Personenstands- und Grundbuchrechts im Jahre 2019 erhielten die Gemeinden sodann Zugriff auf die Daten des Personenstandsregisters um ihre Einwohnerregister zu führen.
Der Heimatschein wird damit überflüssig werden und eine Reihe von Kantonen verlangen seither auch keinen Heimatschein mehr bei der Anmeldung zu Niederlassung oder Aufenthalt.
Welche Dokumente bei einer Anmeldung vorzulegen sind, bestimmt aber grundsätzlich noch immer das kantonale Recht und die Kantone müssen für die elektronische Abfrage des Personenstandsregisters zuerst einen technischen Zugang einrichten.

Der Autor dankt Beat Kuoni für die Durchsicht des Textes und wertvolle Hinweise.

Materialien

Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung zu einem Bundesgesetz über die politischen Rechte vom 9. April 1975, BBl 1975 I 1317 (zit. Botschaft BPR 1975).

Botschaft über eine Teiländerung der Bundesgesetzgebung über die politischen Rechte vom 1. September 1993, BBl 1993 III 445 (zit. Botschaft BPR 1993).

Literaturverzeichnis

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Stahel Arnold, Gemeindebürgerrecht und Landrecht im Kanton Zürich, Zürich 1941.

Tschannen Pierre, Kommentierung zu Art. 39 und Art. 40 BV, in: Waldmann Bernhard/Belser Eva Maria/Epiney Astrid (Hrsg.) Basler Kommentar, Bundesverfassung, Basel 2015 (zit. BSK-Tschannen).

Wolfensberger Rolf, «Heimatlose», Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 5.12.2007, https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/016093/2007-12-05/, besucht am 13.1.2023.

Fussnoten

  • Vgl. dazu ausführlich Seferovic, S. 85 ff. m.w.H.
  • Vgl. Hangartner, S. 139 ff.
  • Vgl. Rieser, S. 19 f.; Stahel, S. 139 f.
  • Hangartner/Kley/Braun Binder/Glaser, Rz. 91; Wolfensberger, S. 228 f.; vgl. auch Seferovic, S. 85.
  • Argast, S. 63; Meier/Wolfensberger, S. 33 ff. und 99; für eine Übersicht auch Seferovic, S. 86.
  • Art. 41 BV 1848. Die BV stellte einige Voraussetzungen dazu auf, etwa mussten die Schweizer über die nötigen Finanzmittel verfügen, um sich und die Familie zu ernähren (Ziff. 1 lit. c).
  • Art. 41 Ziff. 4 BV 1848.
  • Hintergrund war ein Niederlassungsvertrag mit Frankreich, welcher auch französischen Bürgern jüdischen Glaubens die Niederlassung gewährte, vgl. etwa Hangartner, S. 132.
  • Vgl. für eine Übersicht aller Revisionen, welche am 14.1.1866 zur Abstimmung kamen Botschaft des Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung, betreffend die Revision der Bundesverfassung vom 12. Februar 1866, BBl 1866 I 117.
  • Art. 43 Abs. 4 BV 1874. Viele Kantone hatten den Zuzügern schon zuvor das Stimmrecht auf Gemeindeebene gewährt, während andere dieses Recht nicht einmal den zugezogenen Kantonsbürgern gewährt hatten, vgl. Hangartner, S. 140.
  • Bisaz, Rz. 147.
  • Argast, S. 65 f.; Sieber, Bürgergemeinde. Vgl. zu den heutigen Vorgaben des Bundesrechts in dieser Hinsicht etwa BGE 132 I 68; vgl. auch Hangartner, S. 140 f.
  • AS II 210.
  • Art. 4 Abs. 1 und 2 Bundesgesetzes betreffend die Wahl der Mitglieder des Nationalrates vom 21.12.1850, AS II 210.
  • BK-Bucher, Vorb. zu Art. 23 ZGB N. 6.
  • Vgl. zum Wohnsitz in den kantonalen Privatrechtskodifikationen BK-Bucher, Vorb. zu Art. 23 ZGB N. 9 m.w.H.
  • AS 12 369.
  • Dieser Begriff floss schliesslich auch in Art. 23 ZGB ein, vgl. BK-Bucher, Vorb. zu Art. 23 ZGB N. 10 m.w.H.
  • AS X 915.
  • Art. 3 Bundesgesetze vom 19.7.1872 betreffend die eidgenössischen Wahlen und Abstimmungen AS X 915.
  • Zu dieser Unterscheidung Ergänzungsbotschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung zum Gesetzesentwurf über die Erleichterung der Stimmabgabe in eidgenössischen Angelegenheiten vom 28.5.1950, BBl 1950 I 1320 ff., 1321; Baumann-Bruckner, S. 42 f.
  • Fleiner/Giacometti, S. 438 m.w.H.
  • Fleiner/Giacometti, S. 255, 438.
  • Burckhardt, S. 370 f.; Hangartner/Kley/Braun Binder/Glaser, Rz. 157 m.w.H.
  • Neuer Art. 3bis Bundesgesetze vom 19.7.1872 betreffend die eidgenössischen Wahlen und Abstimmungen, eingefügt durch Bundesgesetz über die Ergänzung des Bundesgesetzes betreffend die eidgenössischen Wahlen und Abstimmungen vom 3.10.1951, AS 1952 69.
  • Vgl. BSK-Tschannen, Art. 39 BV N. 24.
  • BSK-Tschannen, Art. 39 BV N. 12. Vgl. in diesem Sinne auch Fleiner/Giacometti, S. 437.
  • Bisaz, Rz. 146; BSK-Tschannen, Art. 39 BV N. 12.
  • Biaggini, Art. 39 BV N. 6; Hangartner/Kley/Braun Binder/Glaser, Rz. 155; BSK-Tschannen, Art. 39 BV N. 13.
  • Hangartner/Kley/Braun Binder/Glaser, Rz. 155; BSK-Tschannen, Art. 39 N. 14.
  • Biaggini, Art. 39 BV N. 5.
  • Vgl. Hangartner/Kley/Braun Binder/Glaser, Rz. 2437; BSK-Tschannen, Art. 39 BV N. 12. Im Zusammenhang mit der umstrittenen Abstimmung über die Kantonszugehörigkeit Moutiers auch Glaser/Lehner, 453 f.
  • Biaggini, Art. 40 BV N. 6; SGK-Kley, Art. 39 BV N. 7; BSK-Tschannen, Art. 40 BV N. 15.
  • SGK-Kley, Art. 136 BV N. 10.
  • SGK-Kley, Art. 39 BV N. 7; Hangartner/Kley/Braun Binder/Glaser, Rz. 148.
  • Diese stimmen in ihrer letzten Wohnsitzgemeinde oder in einer ihrer Heimatgemeinden, vgl. Art. 18 Abs. 1 und 2 ASG.
  • SGK-Kley, Art. 39 BV N. 10.
  • Vgl. zu den Grundzügen SGK-Kley, Art. 39 BV N. 10 f.
  • Biaggini, Art. 39 BV N. 8; SGK-Kley, Art. 39 BV N. 12 f.; BSK-Tschannen, Art. 39 BV N. 22.
  • BSK-Tschannen, Art. 39 BV N. 14.
  • Vgl. für einen Verweis auf das BPR etwa der Kanton Zürich: § 3 Abs. 2 Gesetz über die politischen Rechte vom 1.9.2003 (GPR), LS 161. Die Terminologie des BPR übernimmt hingegen der Kanton Bern: Art. 7 Abs. 1–3 Gesetz über die politischen Rechte vom 5.6.2012 (PRG/BE; BSG 141.1).
  • Botschaft BPR 1975, S. 1328. Vgl. auch Fleiner/Giacometti, S. 437.
  • BK-Bucher, Art. 23 ZGB N. 15 ff.; BSK-Staehelin, Art. 23 ZGB N. 20 ff. Vgl. für die Unterscheidung zur Niederlassung SG Komm. BV-Egli, Art. 24 BV N. 5; Marti, S. 594; Spühler, S. 341.
  • BK-Bucher, Art. 23 ZGB N. 21 ff.; BSK-Staehelin, Art. 23 ZGB N. 5 ff.
  • Botschaft BPR 1975, S. 1328 f.
  • Der Fall der getrennt lebenden Ehefrau wurde mit der Revision des Eherechts 1988 und der Revision von Art. 25 ZGB geklärt, vgl. dazu BSK-Staehelin, Art. 23 ZGB N. 10.
  • Botschaft BPR 1975, S. 1328 f.
  • Vgl. zu den Wurzeln der Feindseligkeit gegenüber Fahrenden in der Schweiz im Mittelalter etwa Landolt, S. 49 ff.
  • Vgl. etwa Bericht des Bundesrates über das Bundesgesetz, die Heimatlosigkeit betreffend vom 3. Dezember 1850, BBl 1850 III 126 f. Zur Terminologie auch Meier/Wolfensberger, S. 9 ff.
  • Vgl. Dubler, Ziff. 4; Argast, S. 103 ff.; vgl. auch Seferovic, S. 87 ff.
  • Vgl. Leimgruber/Meier/Sablonier, S. 26 f.
  • Vgl. BPR 1993, S. 472.
  • Unter anderem mit der Stiftung «Zukunft Schweizer Fahrende», vgl. dazu im Allgemeinen Dubler, Ziff. IV.
  • Vgl. Art. 3 und Art. 5 Bundesgesetz über die politischen Rechte der Auslandschweizer vom 19.12.1975 (BPRS), AS 1976 1805 (aufgehoben).
  • So auch Botschaft BPR 1993, S. 472.
  • Vgl. Art. 37 Abs. 1 BV.
  • Art. 11 Abs. 1 ASG i.V.m. Art. 3 Abs. 2 V-ASG.
  • BK-Bucher, Art. 23 ZGB N. 15 ff.; BSK-Staehelin, Art. 23 ZGB N. 20 ff. Vgl. auch BGE 93 I 17 E. 4. sowie Art. 3 lit. c RHG.
  • Art. 1 Verordnung über den Heimatschein vom 22.12.1980, SR 143.12 (aufgehoben).
  • Fleiner/Giacometti, S. 255; Marti, S. 599; Spühler, S. 342.
  • Vgl. Spühler, S. 342 sowie für den Kanton Zürich z.B. § 2 Abs. 2 Gesetz über das Meldewesen und die Einwohnerregister (MERG/ZH; LS 100).
  • Botschaft BPR 1975, S. 1329.
  • BSK-Staehelin, Art. 23 ZGB N. 10.
  • Vgl. BGer 1C_580/2015 vom 25.2.2016 E. 4.3; VGer ZH VB.2017.00728 vom 20.9.2018 E. 4.5.
  • Zumindest im internationalen Verhältnis ist nicht ausgeschlossen, dass Art. 3 Abs. 2 BPR eine gewisse Bedeutung zukommen kann. Vgl. in diesem Zusammenhang VGer ZH VB.2016.00195 vom 24.8.2016 E. 4.
  • Bisaz, S. 83 Anm. 324; vgl. auch Botschaft BPR 1975, S. 1329.
  • Art. 4 Verordnung über den Heimatschein vom 22.12.1980, SR 143.12 (aufgehoben); vgl. auch Marti, S. 599.
  • Vgl. Art. 7 Abs. 2 lit. g ZStV. Vgl. dazu auch Marti, S. 599.
  • Vgl. Art. 39 Abs. 2 Ziff. 4 sowie Art. 43a Abs. 4 Ziff. 6 ZGB.
  • Marti, S. 599 m.w.H.
  • Informatisiertes Standesregister «Infostar», vgl. dazu Marti, S. 599; vgl. auch Ziff. 1 der Stellungnahme des Bundesrates zur Interpellation Caroni (18.3818) vom 25.9.2018.

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