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Kommentierung zu
Art. 118 BV

Eine Kommentierung von Ralph Trümpler / Gregori Werder

Herausgegeben von Stefan Schlegel / Odile Ammann

defriten

I. Entstehungsgeschichte

1 Art. 118 BV wird als Gesundheitsartikel der Bundesverfassung bezeichnet und überführte die Art. 69, 69bis und 24quinquies Abs. 2 aBV in den neuen Verfassungstext.

Mit Ausnahme einiger redaktioneller Anpassungen – konkret werden Menschen und Tiere nicht mehr im Absatz 1, sondern im Absatz 2 lit. b der Bestimmung erwähnt
– entspricht er in weiten Teilen dem E-Art. 109 BV gemäss bundesrätlichem Entwurf zu einer nachgeführten Bundesverfassung.
Minderheitsanträge in der Verfassungskommission des Nationalrats auf Ergänzung um eine Bestimmung zur Förderung der Selbsthilfe und Förderung zur «primären» Prävention sowie auf Schaffung einer Kompetenz zum Erlass von Vorschriften über die Aus- und Weiterbildung «in den wissenschaftlichen Medizinalberufen» wurden im Nationalrat knapp abgelehnt.

II. Kommentar i.e.S.

A. Massnahmen zum Schutz der Gesundheit (Abs. 1)

2 In Art. 118 Abs. 1 BV wird ein sehr allgemein gehaltener, programmatischer Auftrag an den Bund formuliert, Massnahmen zum Schutz der Gesundheit von Mensch und Tier

zu treffen.
Der Zusatz «im Rahmen seiner Zuständigkeiten» stellt klar, dass der programmatische Auftrag als solcher keine neuen Bundeskompetenzen begründet.
Ausgehend von dieser Konzeption verbleibt das Gesundheitswesen grundsätzlich im Zuständigkeitsbereich der Kantone.
Dass sodann aber in Art. 118 Abs. 2 BV diverse Themenbereiche aufgeführt sind, mit denen dem Bund in mancherlei Hinsicht eben doch eine verpflichtende (fragmentarische) Gesetzgebungskompetenz mit nachträglicher derogatorischer Wirkung im Hinblick auf einen zu gewährleistenden Gesundheitsschutz der Bevölkerung eingeräumt wird, relativiert dies indessen.
Die vom Bund in verschiedenen Bereichen erlassenen «Strategien» testen die staatliche Kompetenzordnung insofern, als der Bund damit bis zu einem gewissen Grade eben doch eine umfassende(re) und nicht krankheitsspezifische Gesundheitsförderung betreibt – dazu gehört nicht nur die gesundheitspolitische Strategie des Bundesrates 2020-2030, sondern auch die zahlreichen themenorientierten nationalen Gesundheitsstrategien (z.B. in den Bereichen Demenz, eHealth, Krebs, nichtübertragbare Krankheiten, Palliative Care etc.).

3 Zum Verständnis von Art. 118 Abs. 1 BV ist der Begriff der Gesundheit zentral. Gleichwohl sucht man nicht nur in der Bestimmung selbst, sondern auch in den Materialien vergebens nach einer Definition dieses «hochgradig unbestimmten, konkretisierungsbedürftigen»

Begriffs.
Auch in den Materialien zu weiteren Bestimmungen der Bundesverfassung, wie z.B. Art. 41 Abs. 1 lit. b BV, wie auch im übrigen Bundesrecht, ist auf eine definitorische Umschreibung des Gesundheitsbegriffs verzichtet worden.
Dies ist wohl auch darauf zurückzuführen, dass eine prägnante und universelle Definition aufgrund seines vom jeweiligen Kontext abhängigen Bezugsrahmen kaum zu erreichen ist.
Demgegenüber sind die zahlreichen Definitionsversuche der Lehre kaum noch zu überblicken,
wobei ein Teil der Lehre grundsätzlich dafür plädiert, dass der Gesundheitsbegriff anhand der jeweils geltenden zeitgeschichtlichen Ansichten umschrieben werden sollte,
während andere Lehrmeinungen dafürhalten, diesen anhand seines Zwecks im Kontext des jeweiligen Regelungsumfelds zu konkretisieren.

4 Mit Blick auf das internationale Recht, macht es durchaus Sinn, den Gesundheitsbegriff weit zu verstehen, so wie es etwa die WHO in der Erklärung von Alma-Ata von 1978 oder in den Umschreibungen der Ottawa-Charta zur Gesundheitsförderung von 1986 tut. In Ziff. I der Erklärung von Alma-Ata wird die Gesundheit dabei als «Zustand völligen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens» umschrieben und wird sie explizit nicht als blosser Zustand des «Freiseins von Krankheit oder Gebrechen» verstanden.

Unabhängig davon, ob Gesundheit begrifflich und als Konzept jemals korrekt und abschliessend umschrieben werden kann, dürfte ein weit gefasstes Begriffsverständnis einem Konsens darüber entsprechen, dass der Gesundheitsbegriff wandelbar ist und nicht auf «Abwesenheit von Krankheit» reduziert werden darf.

5 Gegenstand von Art. 118 Abs. 1 BV sind in erster Linie polizeiliche Massnahmen der Gefahrenabwehr, mit welchen im Allgemeinen unmittelbare Gesundheitsbeeinträchtigungen verhindert werden sollen – es geht mithin um konkrete und direkte Gefahren für die öffentliche Gesundheit und damit um die Gesundheit von Mensch und Tier im Allgemeinen.

Mittelbare Beeinträchtigungen etwa durch Luft, Lärm, Wasser oder weitere Umwelteinflüsse fallen nicht darunter, sondern sind Gegenstand des sog. Umweltschutzartikels (Art. 74 BV).
Was den spezifischeren Tierschutz betrifft, ist ausserdem Art. 80 BV einschlägig.
Schliesslich fallen auch auf den individuellen Gesundheitszustand gerichtete und gesundheitsfördernde Massnahmen nicht in den Geltungsbereich dieser Bestimmung.
Für eine umfassende und krankheitsunspezifische Gesundheitsförderung im Sinne einer «Förderung der Selbsthilfe» und Förderung zur «primären Prävention» fehlt es demnach grundsätzlich an einer Verfassungsgrundlage, u.a. weil die Verfassungskommission des Nationalrats und hernach auch der Nationalrat selbst eine entsprechende Fassung von Art. 118 Abs. 1 BV ablehnten (vgl. aber N 2 in fine).
Dass dies den allgemein postulierten weiten Gesundheitsbegriff kontrastiert, ist offensichtlich. Indessen liegen Aspekte von krankheitsunspezifischer Gesundheitsförderung verschiedenen vereinbarten internationalen Garantien und (sozialen) Menschenrechten zugrunde – insbesondere dem «Recht auf Gesundheit» gemäss Art. 12 UNO-Pakt I .
Aus solchen Normen werden indes keine individualrechtlichen Ansprüche etwa auf krankheitsunspezifische Gesundheitsförderung abgeleitet, doch sind entsprechende Garantien als programmatische Vorgabe für die Gesundheitsvorsorge der unterzeichnenden Staaten zu sehen
, womit sie wiederum als Rechtfertigung für den Bund dienen können, die umfassende und krankheitsunspezifische Gesundheitsförderung dort ins Auge zu fassen, wo es nationale Stossrichtungen braucht (vgl. diesbezüglich die oben genannten themenorientierten nationalen Gesundheitsstrategien).

B. Gesetzgebungsaufträge (Abs. 2)

1. Umfassende Gesetzgebungskompetenz mit nachträglich derogatorischer Wirkung

6 In Abs. 2 von Art. 118 BV wird dem Bund die Berechtigung und Verpflichtung erteilt, in den abschliessend genannten gesundheitsrelevanten Teilbereichen gemäss lit. a bis c Vorschriften zu erlassen.

Die Bundeskompetenz ist eine nachträgliche und umfassende Kompetenz mit derogatorischer Wirkung.

2. Umgang mit Lebensmitteln, Heilmitteln, Betäubungsmitteln, Organismen, Chemikalien und gesundheitsgefährdenden Gegenständen (lit. a)

7 Gemäss Art. 118 Abs. 2 lit. a BV hat der Bund Vorschriften zum Umgang mit gesundheitsgefährdenden Lebensmitteln, Gebrauchs- und Verbrauchsgegenständen zu erlassen.

Die Bestimmung entspricht Art. 69bis a BV.
Obschon die Regelungskompetenz im Grundsatz eine abschliessende ist,
ist es nicht möglich, eine abschliessende Liste an konkreten Waren und Gegenständen mit gesundheitsgefährdendem Charakter innerhalb dieser Kategorien zu erlassen, bezüglich derer dem Bund eine Gesetzgebungskompetenz im oben umschriebenen Sinne zukommt. Stattdessen ist davon auszugehen, dass der Bund regulatorisch tätig zu werden hat, sobald sich ein Gegenstand einer der in Art. 118 Abs. 1 lit. a BV genannten Kategorien zuordnen lässt und potenziell gesundheitsgefährdend scheint.
Geschützt werden sollen hierbei Verbraucherinnen und Verbraucher und nicht Spezialistinnen und Spezialisten.
Poledna weist zurecht darauf hin, dass Art. 118 Abs. 1 lit. a BV letzten Endes auch den Charakter einer Konsumentenschutzbestimmung aufweist.

8 Die vom Verfassungsgeber gewählte Formulierung «Umgang mit» deutet darauf hin, dass nicht nur die primären Handlungen – wie etwa der Verzehr oder Konsum bei Lebens-, Heil- oder Betäubungsmitteln – von der Bestimmung erfasst sind. Vielmehr ist gemäss den Materialen auch davon auszugehen, dass mit der Umschreibung verschiedenste Vorgänge und Handlungen erfasst sind, d.h. insbesondere Herstellung, Verarbeitung, Handel (Einfuhr, Aufbewahrung, Abgabe, Bezug) und Verwendung. Nicht in den Geltungsbereich soll hingegen die Herstellung zum Eigenbedarf fallen.

9 Im Lebensmittelbereich hat der Bund seine Kompetenz durch den Erlass des Bundesgesetzes über Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände (LMG; SR 817.0) wahrgenommen. Gestützt darauf wurden zahlreiche departementale und einige bundesrätliche Verordnungen wie etwa die Lebensmittel- und Gegenständeverordnung (LGV; SR 817.02) oder die Tabakverordnung (TabV; SR 817.06) erlassen. In Art. 4 Abs. 1 LMG findet sich sodann auch eine allgemein gehaltene Definition von Lebensmitteln als «alle Stoffe oder Erzeugnisse, die dazu bestimmt sind oder von denen sich vernünftigerweise vorhersehen lässt, dass sie in verarbeitetem, teilweise verarbeitetem oder unverarbeitetem Zustand von Menschen aufgenommen werden». Diese Definition wird in Art. 4 Abs. 2 LMG um eine Positiv- und in Art. 4 Abs. 3 LMG um eine Negativliste ergänzt. Auf eine generell-abstrakte Definition von Gebrauchsgegenständen hat der Bundesgesetzgeber verzichtet und stattdessen in Art. 5 LMG acht Produktkategorien definiert, in die ein Gegenstand fallen kann, um als Gebrauchsgegenstand im Sinne des LMG zu gelten.

10 Seiner Verpflichtung und Kompetenz zur Regulierung des Umgangs mit Heilmitteln und Betäubungsmitteln ist der Bund mit Erlass des Bundesgesetzes über Arzneimittel und Medizinprodukte (HMG, Heilmittelgesetz; SR 812.21) nachgekommen. Dieses gilt im Übrigen auch für Betäubungsmittel, soweit sie als Heilmittel verwendet werden (Art. 2 Abs. 2 lit. b HMG). Den Umgang mit Betäubungsmitteln regelt der Bund überdies im Bundesgesetz über die Betäubungsmittel und psychotropen Stoffe (BetmG; SR 812.121). Gemäss Art. 2 lit. a BetmG sind Betäubungsmittel abhängigkeitserzeugende Stoffe und Präparate der Wirkungstypen Morphin, Kokain oder Cannabis, sowie Stoffe und Präparate, die auf deren Grundlage hergestellt werden oder eine ähnliche Wirkung wie diese haben. Bei Cannabis ist eine langsam fortschreitende Liberalisierung festzustellen. So wurde der Einsatz von Cannabis zu medizinischen Zwecken per 1. August 2022 legalisiert und erlaubt Art. 8a BetmG seit dem 15. Mai 2021 Pilotversuche mit kontrollierter Abgabe dieses Stoffes zu «Genusszwecken».

11 Die Begriffe «Organismen» und «Chemikalien» weisen die Gemeinsamkeit auf, dass sie eng ausgelegt werden müssen, da im Endeffekt auch Tiere und Menschen Organismen und deren «Bauteile» Chemikalien sind und die Kompetenz bei einem weiten Begriffsverständnis eine allumfassende wäre.

Es ist deshalb davon auszugehen, dass die Bestimmung lediglich chemische Stoffe und ihre Zubereitungen als solche («Chemikalien») und Mikroorganismen («Organismen») erfasst.
Bestimmungen zum Umgang mit Mikroorganismen finden sich in verschiedenen Bundesgesetzen, wie z.B. dem Umweltschutzgesetz (USG; SR 814.01) und dem Bundesgesetz über Gentechnik im Ausserhumanbereich (GTG; SR 814.91). Überdies wird der Term «Organismen» in Art. 7 Abs. 5bis USG und Art. 5 Abs. 1 GTG definiert: «Organismen sind zelluläre und nichtzelluläre biologische Einheiten, die zur Vermehrung oder zur Weitergabe von Erbmaterial fähig sind. Ihnen gleichgestellt sind Gemische und Gegenstände, die solche Einheiten enthalten».

12 Bei «Gegenständen, welche die Gesundheit gefährden können», handelt es sich im Wesentlichen um einen Auffangtatbestand.

Neben dem oben erwähnten LMG, welcher auch eine Aufzählung von Gebrauchsgegenständen enthält (vgl. Art. 5 LMG), ist diesbezüglich vor allem auf das Produktesicherheitsgesetz (PrsG; SR 930.11) und das Sprengstoffgesetz (SprstG; SR 941.41) zu verweisen. Gegenstände, die sich aufgrund ihrer Beschaffenheit zur Bedrohung oder Verletzung von Menschen eignen, sind zudem dem Waffengesetz (WG; SR 514.54) unterstellt. Dieses nennt in Art. 4 Abs. 6 WG beispielhaft Gegenstände wie «Werkzeuge, Haushalt- und Sportgeräte» und nimmt Taschenmesser, «wie etwa das Schweizer Armeetaschenmesser», davon aus.

3. Krankheitsbekämpfung (lit. b)

13 Art. 118 Abs. 2 lit. b BV verpflichtet den Bund zum Erlass von Vorschriften über die Bekämpfung übertragbarer, stark verbreiteter oder bösartiger Krankheiten von Menschen und Tieren. Die Bestimmung entspricht Art. 69 aBV.

Ermöglicht werden dem Bund hierbei nicht nur gesundheitspolizeiliche, sondern auch sozialpädagogische und finanzielle Massnahmen, wobei der Bund in der Vergangenheit jeweils dann zum Eingreifen berechtigt war, wenn infolge der Ausbreitung einer Krankheit die Arbeitsleistung breiter Bevölkerungsteile und dadurch mittelbar auch die Wirtschaft beeinträchtigt wurden.

14 Damit eine Bundeskompetenz begründet wird, muss eine Krankheit gemäss Art. 118 Abs. 2 lit. b BV folgende, alternative («eine der drei Eigenschaften»

) Voraussetzungen aufweisen. Vielfach dürfte eine Krankheit aber alle der genannten Kriterien erfüllen. Sie muss bösartig sein, was gegeben ist, wenn sie das Leben bedroht oder schwere und dauernde Beeinträchtigungen der Gesundheit nach sich zieht.
Neben den individuellen Auswirkungen sind auch die Auswirkungen und sozialen sowie wirtschaftlichen Schäden einer Krankheit für die Gesellschaft zu berücksichtigen.
Als weitere alternative Voraussetzung ist die starke Verbreitung einer Krankheit zu nennen. Eine solche liegt vor, wenn sie nicht nur rein lokal auftritt, sondern sich so weit verbreitet hat, dass Massnahmen auf nationaler Ebene angezeigt scheinen.
Als drittes alternatives Kriterium nennt Art. 118 Abs. 2 lit. b BV die Übertragbarkeit einer Krankheit. Diese ist gegeben, wenn die Krankheit durch einen Erreger verursacht wird, der weitergegeben werden kann, womit die Krankheit unmittelbar oder mittelbar ansteckend ist.

15 Der Erlass von Vorschriften, die der «Bekämpfung» entsprechender Krankheiten von Menschen und Tieren dienen, meint nicht nur das Spektrum an gesundheitspolizeilichen Instrumenten wie Verboten, Verhaltens- und Bewilligungspflichten. Möglich sind durchaus auch zielgerichtete Massnahmen mit Präventionscharakter zur Abwehr von Krankheiten, solange der Fokus nicht rein generalpräventiv ist.

16 Gestützt auf Art. 118 Abs. 2 lit. b BV hat der Bund u.a. das Bundesgesetz über die Bekämpfung übertragbarer Krankheiten des Menschen (Epidemiengesetz, EpG; SR 818.101) erlassen. Dieses definiert etwa, was als «übertragbare Krankheit» zu sehen ist («Krankheit, die durch Krankheitserreger oder deren toxische Produkte auf den Menschen übertragbar ist»

). In diesem Kontext ist sodann auch das Bundesgesetz über die gesetzlichen Grundlagen für Verordnungen des Bundesrates zur Bewältigung der Covid-19 Epidemie (Covid-19-Gesetz; SR 181.102) zu nennen. Dieses wurde vom Bund im Zuge der Covid-19 Epidemie erlassen und regelt besondere Befugnisse des Bundesrates zur Bekämpfung der Covid-19-Epidemie und zur Bewältigung der Auswirkungen der Bekämpfungsmassnahmen auf Gesellschaft, Wirtschaft und Behörden (Art. 1 Abs. 1 Covid-19-Gesetz). Des Weiteren sind das Bundesgesetz über die Registrierung von Krebserkrankungen (KRG; SR 818.33) wie auch das Bundesgesetz über den Schutz vor Gefährdungen durch nichtionisierende Strahlung und Schall (NISSG; SR 814.71) und das Tierseuchengesetz (TSG; SR 916.40) u.a. auf Grundlage von Art. 118 Abs. 2 lit. b BV erlassen worden. Erwähnenswert ist sodann, dass sich auch der Erlass von Massnahmen des Bundes zum Schutz vor dem Passivrauchen respektive das im Jahr 2008 erlassene Bundesgesetz zum Schutz vor Passivrauchen (SR 818.31) und das schon länger vorgesehene Bundesgesetz über Tabakprodukte
ebenfalls auf diese Verfassungsgrundlage stützen (sollen). Ob sich im Zuge dessen auch weitere (Präventions-)Massnahmen – etwa solche der Suizidprävention
– auf diese Bundeskompetenz abstützen lassen, ist fraglich.

17 Mit der Annahme der Volksinitiative «Ja zum Schutz der Kinder und Jugendlichen vor Tabakwerbung (Kinder und Jugendliche ohne Tabakwerbung)» am 13. Februar 2022 ist dem Bund ausserdem der Auftrag erteilt worden, jede Art von Werbung für Tabakprodukte zu verbieten, die Kinder und Jugendliche erreicht. Damit wird nicht nur diejenige Tabakwerbung verboten, die sich explizit an Kinder und Jugendliche richtet, sondern auch diejenige, welche von diesen wahrgenommen werden kann bzw. für diese zugänglich ist. Betroffen sind somit im Resultat Printmedien, das Internet, Plakate, Kinos und Verkaufsstellen wie auch Veranstaltungen.

Sie geht damit weit über den indirekten Gegenvorschlag hinaus, den der Bundesrat und das Parlament der Initiative entgegengestellt hatten.
Das revidierte Tabakproduktegesetz in der Version des indirekten Gegenvorschlags wird nach Ablauf der Referendumsfrist am 20. Januar 2022 alsbald in Kraft treten, ist aber aufgrund der Annahme der Volksinitiative sogleich wieder zu überarbeiten. Gemäss Ziff. 14 der Übergangsbestimmungen nach Annahme der Bundesverfassung vom 18. April 1999 hat diese Revision innert drei Jahren nach Annahme der Volksinitiative zum Abschluss zu gelangen.

4. Schutz vor ionisierender Strahlung (lit. c)

18 Art. 118 Abs. 2 lit. c BV statuiert einen Gesetzgebungsauftrag betreffend den Schutz vor ionisierender Strahlung, während die nichtionisierende Strahlung vom Umweltschutzartikel von Art. 74 BV erfasst ist. Art. 118 Abs. 2 lit. c BV entspricht dem Art. 24quinquies Abs. 2 aBV.

Die diesbezüglich zu erlassenden polizeilichen Vorschriften finden sich vornehmlich im Strahlenschutzgesetz (StSG; SR 814.50). Sie sind weitgehend präventiver Natur; wirtschaftspolitische Eingriffe vermögen sich nicht auf die Verfassungsgrundlage zu stützen.

Empfohlene weiterführende Lektüre

Burch Stephanie, Staatliche Gesundheitsförderung und Prävention, Diss. Zürich, Basel 2014.

Eichenberger Thomas/Jaisli Urs/Richli, Paul (Hrsg.), Basler Kommentar, Heilmittelgesetz, 2. Aufl., Basel 2022.

Fingerhuth Thomas/Schlegel Stephan/Jucker Oliver (Hrsg.), Kommentar zum Betäubungsmittelgesetz, 3. Aufl., Zürich 2016.

Gutzwiller Felix/Jeanneret Olivier (Hrsg.), Sozial- und Präventivmedizin Public Health, 2. Aufl., Bern 1999.

Hug-Beeli Gustav, Kommentar zum Betäubungsmittelgesetz (BetmG), Basel 2015.

Landolt Hardy, Öffentliches Gesundheitsrecht, Public Health Law, Zürich/St. Gallen 2009.

Müller Markus, Zwangsmassnahmen als Instrument der Krankheitsbekämpfung, Basel 1992.

Poledna Tomas/Berger Brigitte, Öffentliches Gesundheitsrecht, Bern 2002.

Poledna Tomas/Kieser Ueli (Hrsg.), Gesundheitsrecht, in: Band VIII – Schweizerisches Bundesverwaltungsrecht (SBVR) von Koller Heinrich/Müller Georg/Rhinow René/Zimmerli Ulrich (Hrsg.), Basel 2005.

Poledna Tomas/Arter Oliver/Gattiker Monika (Hrsg.), Lebensmittelrecht, Bern 2006.

Schwendener Myriam, Krankheit und Recht, Diss. Zürich, Basel 2008.

Streuli Christoph, Leitfaden zum Chemikalienrecht, 2. Aufl., Bern 2013.

Weber Rolf H., Lebensmittelrecht EU-Schweiz, 2. Aufl., Zürich 2012.

Wolf Salome /Mona Martino/Hürzeler Marc (Hrsg.), Prävention im Recht, Basel 2008.

Zu den Autoren

Rechtsanwalt Prof. Dr. iur. Ralph Trümpler studierte an den Universitäten Freiburg i.Ü., Zürich und Luzern. Nach Abschluss seiner Doktorarbeit im Bereich des Staatsrechts war er als Gerichtsschreiber an verschiedenen Verwaltungsgerichten tätig und spezialisierte sich als Rechtsanwalt auf öffentliches Recht. Seit 2018 ist er Dozent, und seit 2023 Professor für Verwaltungsrecht an der Kalaidos Law School. Bei Rudin Cantieni Rechtsanwälte AG betreut er Mandate im Bereich des Staats- und Verwaltungsrechts sowie im öffentlichen Wirtschaftsrecht.

Rechtsanwalt Dr. iur. Gregori Werder ist in der Anwaltskanzlei Werder Viganò AG beratend und prozessierend in sämtlichen Bereichen des öffentlichen Rechts tätig, mit Fokus auf dem öffentlichen Gesundheitsrecht, Krankenversicherungsrecht und Personalrecht. Darüber hinaus gibt er regelmässig Schulungen zu öffentlich-rechtlichen Themen und führt verschiedentlich Lehraufträge aus.

Die Autoren freuen sich über Anregungen und Hinweise per E-Mail auf truempler@rudincantieni.ch und/oder g.werder@wvlaw.ch.

Materialien

Amtl. Bull. NR, Separatdruck Verfassungsreform (abrufbar unter: https://www.parlament.ch/centers/documents/de/bundesverfassung-reform-amtliches-bulletin-nr-d.pdf besucht am 7. März 2022).

Botschaft über eine neue Bundesverfassung vom 20. November 1996, BBl 1997 I, S. 1 ff.

Botschaft zum Bundesgesetz über Prävention und Gesundheitsförderung (Präventionsgesetz, PrävG) vom 30. September 2009, BBl 2009 S. 7071 ff.

Botschaft zum Bundesgesetz über Tabakprodukte (TabPG), BBl 2015 S. 9379 ff. (bezüglich den ersten Entwurf des Gesetzes) und BBl 2019 919 ff. (bezüglich den zweiten Entwurf des Gesetzes).

Entwurf des Bundesgesetzes über Tabakprodukte (TabPG), BBl 2015 S. 9471 ff. (bezüglich den ersten Entwurf des Gesetzes) und BBl 2019 999 ff. (bezüglich den zweiten Entwurf des Gesetzes); ferner BBl 2021 2327 ff. (Ablauf der Referendumsfrist).

Botschaft zur Volksinitiative «Ja zum Schutz der Kinder und Jugendlichen vor Tabakwerbung (Kinder und Jugendliche ohne Tabakwerbung)», BBl 2020 7049 ff.

Literaturverzeichnis

Biaggini Giovanni, Kommentar zur Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, 2. Aufl., Zürich 2017.

Bognuda Cristina, Die Verletzung des Rechts auf Gesundheit, Zürich 2011.

Ehrenzeller Bernhard/Mastronardi Philippe/Schweizer Rainer J./Vallender Klaus A., Die schweizerische Bundesverfassung, Kommentar, Zürich 2002 (zit. St. Galler Kommentar BV).

Gächter Thomas/Rütsche Bernhard, Gesundheitsrecht – Ein Grundriss für Studium und Praxis, 4. Aufl., Basel 2018.

Gächter Thomas/Renold-Burch Stephanie, in: Waldmann Bernhard/Belser Eva Maria/Epiney Astrid (Hrsg.), Basler Kommentar, Bundesverfassung, Basel 2015.

Kahil-Wolff Hummer Bettina/Manon Joseph, in: Martenet Vincent/Dubey Jacques, Constitution fédérale, Art. 81 Cst. – dispositions finales, Basel 2021.

Mahon Pascal, in: Aubert Jean-François/Mahon Pascal, Petit commentaire de la Constitution fédérale de la Confédération suisse di 18 avril 1999, Zürich/Basel/Genf 2003.

Fussnoten

  • BBl 1997 I 1, 332; BGE 138 I 435, E. 3.4.
  • Siehe dazu auch Fn. 5 und Rz. 12 ff.
  • Vgl. BBl 1997 I 1, 614.
  • Amtl. Bull. NR, Separatdruck Verfassungsreform, S. 339 ff.
  • In E-Art. 109 Abs. 1 BV hielt die Bestimmung noch ausdrücklich fest, dass es um den Gesundheitsschutz von «Mensch und Tier» gehe, was im Rahmen der parlamentarischen Beratungen aber gestrichen und in den Absatz 2 lit. b von Art. 118 BV verschoben wurde. Gleichwohl ist davon auszugehen, dass nach wie vor nicht nur die Gesundheit des Menschen, sondern auch die von Tieren geschützt werden soll (statt vieler BSK BV-Gächter/Renold-Burch, N 5 zur Art. 118 BV); siehe aber SG Komm. BV-Poledna, N 2 zur Art. 118 BV, der zwar im Grundsatz dieselbe Meinung vertritt. Es wird grundsätzlich darauf hingewiesen, dass der Gesundheitsschutz der Menschen im Vordergrund stehe.
  • SG Komm. BV-Poledna, N 5 zur Art. 118 BV
  • So auch BSK BV-Gächter/Renold-Burch, N 3 zur Art. 118 BV.
  • BBl 1997 I 1, 332; BGE 139 I 242, E. 3.1.
  • Vgl. BGE 133 I 110 E. 4.2 oder BGE 138 I 435 E. 3.4.1; auch Biaggini, N 6 zu Art. 118 BV.
  • Burch, S. 5.
  • So BSK BV-Gächter/Renold-Burch, N 6 zur Art. 118 BV.
  • Burch S. 10.
  • Burch, S. 5.
  • Siehe die Kategorisierung der Definitionsansätze bei Burch, S. 10 ff.
  • SG Komm. BV-Poledna, N 4 zu Art. 118 BV.
  • Z.B. Gächter/Rütsche, Rz. 19; BSK BV-Gächter/Renold-Burch, N 6 zu Art. 118 BV; zum Ganzen auch BSK BV-Gächter/Werder, N 33 zu Art. 41 BV und SG Komm. BV-Poledna, N 4 zur Art. 118 BV.
  • Beide Chartas sind abrufbar unter https://www.euro.who.int/de/publications/policy-documents (zuletzt besucht am 24.05.2022); auf die Begriffsumschreibungen der Ottawa-Charta bezugnehmend auch BBl 2009 7071, 7081.
  • Vgl. Biaggini, N 5 zu Art. 118 BV.
  • Auch zum Folgenden BBl 1997 I 1, 248 und 332; BSK BV-Gächter/Renold-Burch, N 4 zur Art. 118 BV; vgl. auch Biaggini, N 4 zu Art. 118 BV.
  • Dies wurde auch so in den parlamentarischen Beratungen gesehen, vgl. das Votum von Bundesrat Arnold Koller, Amtl. Bull. NR, Separatdruck Verfassungsreform, S. 340.
  • SG Komm. BV-Poledna, N 3 zur Art. 118 BV.
  • Gl.M. BSK BV-Gächter/Renold-Burch, N 4 zur Art. 118 BV.
  • Amtl. Bull. NR, Separatdruck Verfassungsreform, S. 339 ff.; vgl. auch Biaggini, N 3 zu Art. 118 BV m.w.H.
  • Daneben können etwa Art. 24 UN­ Kinderrechtskonvention (SR.0.107), Art. 12 UN-Frauenrechtskonvention (SR 0.108), Art. 5 lit. e iv UN-Rassendiskriminierungskonvention (SR 0.104) und Art. 25 UN-Behindertenkonvention (SR 0.109) als für die Schweiz relevante Beispiele genannt werden. Sodann wurde in Art. 25 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (Resolution der UN-Generalversammlung vom 10. Dezember 1948) von einem «Recht auf einen Lebensstandard, der seine und seiner Familie Gesundheit und Wohl gewährleistet, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Versorgung und notwendige soziale Leistungen» ausgegangen; vgl. zum Ganzen Bognuda, passim.
  • Vgl. Gächter/Rütsche, Rz. 89.
  • BBl 1997 I 1, 332; auch zum Folgenden BSK BV-Gächter/Renold-Burch, N 10 f. zu Art. 118 BV; SG Komm. BV-Poledna, N 7 zur Art. 118 BV.
  • BGE 139 I 242, E. 3.1 (Fumoirverbot); BGE 138 I 435, E. 3.4.1 (Betäubungsmittel); zum Ganzen auch CR Cst.-Kahil-Wolff Hummer/Manon, N 8 zu Art. 118 BV.
  • BBl 1997 I 1, 332.
  • BBl 1997 I 1, 332.
  • A.M. SG Komm. BV-Poledna, N 9 zur Art. 118 BV, der von einer nicht abschliessenden Aufzählung ausgeht und dabei die Formulierung verwendet, dass von Art. 118 Abs. 2 BV «grundsätzlich alle namentlich genannten Waren oder Gegenstände, welche die Gesundheit gefährden können» erfasst sind, wobei nur «die im Alltag wichtigsten genannt» seien. Diese Auffassung hat gemäss Poledna zur Folge, dass alle Gegenstände «des täglichen Bedarfs, die bestimmungsgemäss mit dem menschlichen Körper in Kontakt kommen», mitumfasst sind, obschon einzelne Warenkategorien namentlich genannt werden und sodann auch nur Gegenstände angesprochen sind, «welche die Gesundheit gefährden können». Das weite Verständnis von Poledna trifft zumindest gemäss dem Wortlaut der Bestimmung nicht zu.
  • BSK BV-Gächter/Renold-Burch, N 12 zu Art. 118 BV.
  • BBl 1997 I 1, 332 f.; BSK BV-Gächter/Renold-Burch, N 12 zu Art. 118 BV; SG Komm. BV-Poledna, N 10 zur Art. 118 BV.
  • SG Komm. BV-Poledna, N 10 zur Art. 118 BV.
  • BBl 1997 I 1, 333; vgl. auch Biaggini, N 8 zu Art. 118 BV.
  • BSK BV-Gächter/Renold-Burch, N 18 und 19 zu Art. 118 BV.
  • Siehe die dazu eingehend BSK BV-Gächter/Renold-Burch, N 18 zu Art. 118 BV.
  • BSK BV-Gächter/Renold-Burch, N 20 zu Art. 118 BV.
  • BBl 1997 I 1, 333.
  • BBl 1997 I 1, 333.
  • BBl 1997 I 1, 333.
  • BBl 1997 I 1, 333.
  • BSK BV-Gächter/Renold-Burch, N 26 zu Art. 118 BV.
  • BSK BV-Gächter/Renold-Burch, N 25 zu Art. 118 BV.
  • BSK BV-Gächter/Renold-Burch, N 24 zu Art. 118 BV.
  • Biaggini, N 16a zu Art. 118 BV, steht den seines Erachtens «ausufernden generalpräventiven Aktivitäten» aufgrund von Art. 118 Abs. 2 lit. a BV kritisch gegenüber und sieht in gewissen Fällen «die (Kompetenz-)Begrenzungsfunktion der Verfassung etwas gar arg strapaziert».
  • Art. 3 lit. a EpG.
  • Vgl. dazu BBl 2015 9379, 9465 (Botschaft) und BBl 2015 9471 (Entwurf); hierzu auch die Hinweise von Biaggini, N 16 zu Art. 118 BV.
  • Vgl. dazu Biaggini, N 16 zu Art. 118 BV m.w.H.
  • BBl 2020 7049, 7060.
  • Siehe den tabellarischen Vergleich unter Bundesamt für Gesundheit BAG > Strategie & Politik > Politische Aufträge & Aktionspläne > Politische Aufträge zur Tabakprävention > Tabakpolitik der Schweiz > Volksinitiative Kinder und Jugendliche ohne Tabakwerbung, letztmals besucht am 23. Mai 2022.
  • Auch zum Folgenden BBl 1997 I 1, 334.
  • BSK BV-Gächter/Renold-Burch, N 31 zu Art. 118 BV.

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