Eine Kommentierung von Luka Markić
Herausgegeben von Andreas Glaser / Nadja Braun Binder / Corsin Bisaz / Bénédicte Tornay Schaller
Art. 20 Losentscheid
Muss das Los gezogen werden, so geschieht dies im Kanton durch Anordnung der Kantonsregierung, im Bund durch Anordnung des Bundesrats.
I. Entstehungsgeschichte
1 Bereits das Bundesgesetz betreffend die Wahl des Nationalrates vom 14. Februar 1919
2 Bei der Schaffung des BPR schlug der Bundesrat eine modifizierte Übernahme von Art. 28 NWG vor. Statt wie in Art. 28 NWG direkt anzugeben, wer für die Losziehung zuständig ist, schreibt Art. 20 BPR nur vor, welche Behörde jeweils für die Anordnung des Losentscheids zuständig ist. Der neue Art. 20 BPR wurde in der Botschaft des Bundesrates lediglich mit einem Satz begründet: «Dieser Artikel regelt ganz allgemein das Vorgehen bei Entscheidungen durch Losziehung.»
II. Bedeutung der Vorschrift
A. Allgemeines
3 Art. 20 BPR ist eine klassische Kompetenznorm. Die Bestimmung regelt, welche Behörde für die Anordnung einer Losziehung zuständig ist, sollte es in den gesetzlich vorgesehenen Fällen zur Losziehung kommen. In welchen Fällen das Los zu ziehen ist, ergibt sich jedoch nicht aus Art. 20 BPR. Fälle in denen die Losziehung zur Anwendung kommt sind in Art. 17 lit. c, Art. 41 Abs. 1 lit. f, Art. 43 Abs. 3 und Art. 47 Abs. 1 Satz 3 BPR zu finden.
B. Rechtsvergleich
4 Sämtliche Kantone sehen für die nach kantonalem Recht zu organisierenden Wahlen eine Kompetenznorm in ihren kantonalen Erlassen betreffend die politischen Rechte vor, welche jeweils eine oder mehrere Behörden für die Losziehung bestimmt.
5 Die kantonalen Kompetenznormen zur Losziehung sehen für gewöhnlich vor, dass Losziehungen unter Anwesenheit der betreffenden Kandidierenden bzw. deren Vertretungen
6 Als Kuriosität ist eine Bestimmung aus dem Kanton Schaffhausen betreffend die Zuständigkeit der Losziehung bei einer sogenannten «Überwahl» hervorzuheben: Haben bei einer Majorzwahl mehr Personen das absolute Mehr erreicht, als Stellen zu besetzen sind, und herrscht zwischen den Personen Stimmengleichheit, so entscheidet das von den Kandidaten gezogene Los.
III. Kommentierung des Normtextes
A. Norminhalt
7 Art. 20 BPR regelt ganz allgemein, welche Behörde für die Anordnung eines Losentscheids zuständig ist. Ist ein Losentscheid auf kantonaler Ebene notwendig, so wird diese durch die Kantonsregierung angeordnet. Losentscheide auf kantonaler Ebene sind in folgenden gesetzlich geregelten Fällen vorgesehen:
Art. 41 Abs. 1 lit. f BPR: bei gleicher Stimmenzahl bei den weiteren Verteilungen der Mandate auf die Listen (Verhältniswahl)
Art. 43 Abs. 3 BPR: bei Stimmengleichheit bei der Ermittlung der Gewählten und der Ersatzleute bei Stimmengleichheit (Verhältniswahl)
Art. 47 Abs. 1 BPR: bei Stimmengleichheit (Mehrheitswahl)
8 Muss das Los auf Bundesebene gezogen werden, so erfolgt dies auf Anordnung des Bundesrates. Das BPR sieht lediglich einen Fall vor, in dem der Bundesrat einen Losentscheid anordnen könnte, bei der sog. Restverteilung der 200 Sitze des Nationalrates auf die Kantone (Art. 17 lit. c BPR).
B. Präzisierungen der Norm durch BGE 138 II 13
9 Das Bundesgericht hat sich im Urteil vom 23. November 2011 betreffend die Nationalratswahl im Kanton Tessin näher mit der Losziehung gemäss Art. 43 Abs. 3 BPR i.V.m. Art. 20 BPR auseinandergesetzt. Bei den Nationalratswahlen vom 23. Oktober 2011 im Kanton Tessin erreichten auf der Liste «Partito Popolare Democratico + Generazione Giovani (PPD + GG)» sowohl Marco Romano als auch Monica Duca Widmer genau 23 979 Stimmen.
10 In seinem Urteil betreffend diese Auslosung hielt das Bundesgericht verschiedene Anforderungen an einen Losentscheid fest und präzisierte damit u.a. auch Art. 20 BPR: Es hielt fest, dass die Losziehung zwingend durch die Kantonsregierung selbst oder durch eine von der Kantonsregierung beauftragte Behörde durchzuführen ist.
11 Die Losziehung im Tessiner Fall musste auf Anweisung des Bundesgerichts wiederholt werden, wobei es für den konkreten Einzelfall anordnete, dass die Wiederholung des manuell durchzuführenden Losentscheids öffentlich durch ein Mitglied der Kantonsregierung oder einer Delegation, welches bzw. welche nicht dem Partito Popolare Democratico angehört, stattzufinden habe. Zur Losziehung mussten die Vertreterinnen und Vertreter der politischen Parteien und die beiden betreffenden Kandidierenden eingeladen werden.
Ich danke Benjamin Böhler, Hilfsassistent am Zentrum für Demokratie Aarau, für die Mithilfe bei der Materialrecherche und die wertvollen Anmerkungen bei der Durchsicht des Textes.
Literaturverzeichnis
Biaggini Giovanni, «…, so entscheidet das Los», ZBl 113 (2012), S. 389–390.
Hangartner Yvo/Kley Andreas/Braun Binder Nadja/Glaser Andreas, Die demokratischen Rechte in Bund und Kantonen der Schweizerischen Eidgenossenschaft, 2. Aufl., Zürich 2023.
Glaser Andreas, Die Rechtsprechung des Bundesgerichts zu den politischen Rechten auf Bundesebene, ZBl 118 (2017), S. 415–436.
Tornay Schaller Bénédicte, Le recours au Tribunal fédéral en matière d’élections fédérales, AJP 2017, S. 351–362.
Weber Anina, Schweizerisches Wahlrecht und die Garantie der politischen Rechte, Eine Untersuchung ausgewählter praktischer Probleme mit Schwerpunkt Proporzwahlen und ihre Vereinbarkeit mit der Bundesverfassung, Zürich 2016.
Fussnoten
- Bundesgesetz betreffend die Wahl des Nationalrates vom 14.2.1919 (BS I 180; AS 1975 601); nachfolgend: NWG.
- Bis zu den Nationalratswahlen vom 27.10.1935 war es einem Kandidaten erlaubt, sich gleichzeitig in mehreren Kantonen zur Wahl zu stellen (Mehrfachkandidaturen). Bekanntes Beispiel für solche Mehrfachkandidaturen ist der Gründer des Migros-Genossenschaftsbundes und des Landesrings der Unabhängigen (LdU), Gottlieb Duttweiler, welcher bspw. bei den Nationalratswahlen vom 27.10.1935 gleichzeitig in den Kantonen Zürich, Bern und St. Gallen kandidierte und überall gewählt wurde. Mit der sog. «Lex Duttweiler» verbot der Gesetzgeber daraufhin Mehrfachkandidaturen (vgl. Bundesgesetz über die Änderung des Bundesgesetzes betreffend die Wahl des Nationalrates [Verbot der Mehrfachkandidatur] vom 22.6.1939, BBl 1939 II S. 82 f.; siehe auch Hangartner/Kley/Braun Binder/Glaser, Rz. 627 m.w.Verw.).
- Botschaft an die Bundesversammlung zu einem Bundesgesetz über die politischen Rechte vom 9.4.1975, BBl 1975 I S. 1317 ff., hier S. 1336.
- AB 1976 NR S. 22 ff., hier S. 30; AB 1976 SR S. 514 ff., hier S. 524.
- Siehe hierzu N. 7 ff. hiernach.
- Statt vieler siehe § 79 des Gesetzes des Kantons Zürich vom 1.9.2003 über die politischen Rechte (GPR/ZH; LS 161); Art. 92 des Gesetzes des Kantons Bern vom 5.6.2012 über die politischen Rechte (PRG/BE; BSG 141.1) und Art. 99, 106 Abs. 3, 161 Abs. 2, 163 Abs. 2 und 176 Abs. 2 der Loi du Canton de Genève du 15.10.1982 sur l’exercice des droits politiques (LEDP/GE; RSG A 5 05).
- Siehe bspw. § 79 Abs. 1 GPR/ZH; Art. 38 Abs. 1 der Verordnung des Kantons Glarus vom 21.11.2017 über die politischen Rechte (VPR/GL; GS I D/22/3); § 48 Abs. 1 der Verordnung des Kantons Solothurn vom 28.10.1996 über die politischen Rechte (VpR/SO; BGS 113.112); Art. 41 der Loi du Canton de Neuchâtel du 17.10.1984 sur les droits politiques (LDP/NE; RSN 141).
- Siehe bspw. § 88 Abs. 3 des Stimmrechtsgesetzes des Kantons Luzern vom 25.10.1988 (StRG/LU; SRL 10).
- Siehe bspw. § 79 Abs. 1 GPR/ZH; Art. 51 Abs. 2 und 3 des Gesetzes des Kantons Uri vom 21.10.1979 über die geheimen Wahlen, Abstimmungen und die Volksrechte (WAVG/UR; RB 2.1201); Art. 93 Abs. 4 lit. a und b des Gesetzes des Kantons St. Gallen vom 5.12.2018 über Wahlen und Abstimmungen (WAG/SG; sGS 125.3); Art. 51 Abs. 1 der Loi du Canton de Vaud du 5.10.2021 sur l’exercice des droits politiques (LEDP/VD; RSV 160.01).
- Siehe bspw. § 44 Abs. 2 lit. a und b des Wahl- und Abstimmungsgesetzes des Kantons Schwyz vom 15.10.1970 (WAG/SZ; SRSZ 120.100); § 28 Abs. 5 des Gesetzes des Kantons Basel-Landschaft vom 7.9.1981 über die politischen Rechte (GpR/BL; SGS 120).
- Siehe bspw. § 51 Abs. 1 und 2 der Verordnung des Kantons Zug vom 29.4.2008 zum Wahl- und Abstimmungsgesetze (WAV/ZG; BGS 131.2).
- Siehe bspw. § 88 Abs. 2 StRG/LU.
- Art. 28 der Loi du Canton de Jura du 26.10.1978 sur les droits politiques (LEDP/JU; RSJU 161.1).
- Art. 86 Abs. 1 i.V.m. Art. 37 Abs. 1 der Legge del Cantone Ticino del 19.11.2018 sull’esercizio dei diritti politici (LEDP/TI; RL 150.100).
- Siehe bspw. die Sitzung des Ufficio cantonale di accertamento vom 4.4.2023 zur Losziehung betreffend die Wahlen des Grossen Rates des Kantons Tessin vom 2.4.2023 aufgrund von mehreren Fällen von Stimmengleichheit zwischen Kandidatinnen und Kandidaten, https://www.youtube.com/watch?v=3hHJWwB4nKE, besucht am 4.4.2023.
- Siehe bspw. § 92 Abs. 2 PRG/BE; Art. 76 Abs. 3 des Gesetzes des Kantons Freiburg vom 6.4.2001 über die Ausübung der politischen Rechte (PRG/FR; SGF 115.1); § 28 Abs. 5 GpR/BL.
- Siehe bspw. § 34 Abs. 4 des Gesetzes des Kantons Thurgau vom 12.2.2014 über das Stimm- und Wahlrecht (StWG/TG; RB 161.1).
- Siehe bspw. Art. 51 Abs. 2 und 3 WAVG/UR; § 44 Abs. 2 WAG/SZ; Art. 38 Abs. 1 VPR/GL; Art. 93 Abs. 4 lit. a und b WAG/SG; Art. 51 Abs. 1 LEDP/VD.
- Siehe bspw. § 44 Abs. 3 WAG/SZ; § 48 Abs. 2 VpR/SO.
- Art. 63 des Gesetzes des Kantons Schaffhausen vom 15.3.1904 über die vom Volke vorzunehmenden Abstimmungen und Wahlen sowie über die Ausübung der Volksrechte (Wahlgesetz/SH; SHR 160.100).
- Bundeskanzlei, Wahlergebnis der Liste 7 bei den Nationalratswahlen 2011 im Kanton Tessin, https://www.bk.admin.ch/ch/d/nrw/nrw11/list/cand/ti_7_cand.html, besucht am 26.3.2023.
- Vgl. BGE 138 II 13.
- BGE 138 II 13 E. 5.2, E. 5.2.2 und E. 7.1.
- BGE 138 II 13 E. 5.2.2.
- BGE 138 II 13 E. 6.2.
- BGE 138 II 13 E. 5.2.1 und 5.2.2.
- BGer 1C_15/2012 vom 18.1.2012 E. 2.2. Zum Ganzen siehe Biaggini, S. 389 f.; Glaser, S. 430 f.; Hangartner/Kley/Braun Binder/Glaser, Rz. 666; Tornay Schaller, S. 360; Weber, Rz. 168.
- BGE 138 II 13 E. 7.1.
- Bericht an den Nationalrat für die Nationalratswahlen für die 49. Legislaturperiode vom 9.11.2011, Nachtrag, BBl 2011 S. 8791.
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