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Kommentierung zu
Art. 329 StGB

Eine Kommentierung von Jan Imhof

Herausgegeben von Marianne Johanna Lehmkuhl / Jan Wenk

defriten

I. Allgemeines

1 Art. 329 StGB schützt das Rechtsgut der Landesverteidigung und gemäss Marginalie militärische Geheimnisse im Speziellen. Trotz identisch lautender Marginalie ist der Tatbestand aber nicht mit Art. 106 MStG gleichzusetzen, denn Letzterer schützt einzig materielle Geheimnisse. Im Unterschied dazu stellt Art. 329 StGB bereits die Beeinträchtigung formeller Geheimnisse, d.h. Dokumente usw., welche ungeachtet ihrer tatsächlichen Geheimniswürdigkeit nach den besonderen Bestimmungen des Verwaltungsrechts als vertraulich oder geheim klassifiziert sind, und damit das Vorfeld militärischer Geheimnisse unter Strafe.

Es handelt sich somit um ein abstraktes Gefährdungsdelikt.
Das Bundesgericht bestätigte die herrschende Lehre und führte aus, dass Art. 329 StGB schon dann erfüllt sei, wenn durch das verpönte Verhalten keine im Interesse der Landesverteidigung zu wahrenden militärischen Geheimnisse beeinträchtigt wurden.

2 Gleichzeitig schützt Absatz 1 das Hausrecht der Militärbehörden

als Offizialdelikt.

3 Gemäss Art. 23 Abs. 1 lit. k StPO besteht für Art. 329 StGB Bundesgerichtsbarkeit.

II. Objektiver Tatbestand

A. Tathandlungen

1. Eindringen

4 Den Tatbestand erfüllt, wer in eine Einrichtung unrechtmässig eindringt. Absatz 1 nennt hierzu Anstalten und andere Örtlichkeiten. Er schützt damit umfriedete Anlagen, wie bspw. ein Kasernengelände, aber auch offenes Übungsgelände oder Autoparks

(sog. «Kasernen­friedensbruch»
).

2. Abbilden, Vervielfältigen oder Veröffentlichen

5 Den Tatbestand erfüllt, wer eine Abbildung erstellt oder eine (nachgelagerte) Handlung wie das Vervielfältigen oder Veröffentlichen vornimmt. Zu denken ist hier an Publikationen in Zeitschriften,

an Posts in den sozialen Medien oder an das Erstellen von Printscreens oder Kopien. Es ist nicht notwendig, dass die Abbildung bereits Dritten bekannt gegeben wurde.

6 Inhalt der Abbildung können als vertraulich oder geheim klassifizierte militärische Anstalten oder Gegenstände wie Dokumente, Pläne, Funkgeräte, Teile von Waffensystemen usw. sein.

B. Unrechtmässigkeit

7 Der Tatbestand verlangt, dass die Tathandlung unrechtmässig, d.h. generell ohne Recht oder ohne konkrete Bewilligung, erfolgt.

Die Unrechtmässigkeit muss daher positiv bejaht werden.

1. Grundlage der Einschränkungen und Verbote (Klassifizierung)

8 Bei Einrichtungen nach dem Bundesgesetz über den Schutz militärischer Anlagen ist jedes unbefugte Betreten, Abbilden usw. verboten (Art. 4 Bundesgesetz über den Schutz militärischer Anlagen, SR 510.518). Vorbehalten bleibt eine Bewilligung nach den Bestimmungen der Verordnung über den Schutz militärischer Anlagen. Diese erlaubt generell, das ohne besondere Hilfsmittel oder spezielle Vorkehren wahrnehmbare Äussere einer Anlage abzubilden. Eine Veröffentlichung darf jedoch keine Rückschlüsse auf den Standort oder die Zweckbestimmung der Anlage erlauben (Art. 4 Abs. 5 Anlagenschutzverordnung, SR 510.518.1). Unter diesen Voraussetzungen sind auch Luftaufnahmen von militärischen Anlagen erlaubt (Art. 80 Verordnung über die Luftfahrt, SR 748.01).

9 Weitere Einschränkungen und Verbote finden sich in der Bundesgesetzgebung zur Informationssicherheit (E-ISG

), welche die Bearbeitung von als «vertraulich» oder «geheim» klassifizierten Dokumenten usw. regelt. Die Klassifizierung muss für die Täterschaft erkennbar sein, bspw. durch einen entsprechenden Aufdruck oder Stempel.

10 Ein Verbot, eine militärische Anlage zu betreten, kann sich auch auf das allgemeine Hausrecht der Militärbehörden stützen, wie sich aus dem Gesetzeswortlaut ableiten lässt.

In Frage kommen (Haus-)Verbote der Militärbehörden des Bundes (die Gruppe Verteidigung, das Bundesamt für Rüstung und das Oberauditorat) inkl. der Armee, der Militärbehörden der Kantone sowie von mit militärischen Aufgaben beliehenen Dritten. Ein solches Verbot muss für die Täterschaft erkennbar sein, bspw. durch eine entsprechende Beschilderung.

2. Aktualität der Einschränkungen und Verbote (Klassifizierung)

11 Da Art. 329 StGB bereits formelle Geheimnisse schützt, ist nach hier vertretener Ansicht unbeachtlich, ob zum Tatzeitpunkt die spezialgesetzlichen Voraussetzungen (etwa gemäss E-ISG) für die Klassifizierung (noch) erfüllt waren. Ebenso ist eine Entklassifizierung unbeachtlich, sofern sie im Tatzeitpunkt noch nicht bekannt war. Solange eine Klassifizierung für die Täterschaft erkennbar war, greift Art. 329 StGB. Ausgenommen davon sind nichtige Klassifizierungen oder solche, welche offensichtlich keinen Geheimhaltungszweck (mehr) verfolgen können, bspw. ein Lageplan der Kaserne Bern. Dasselbe muss gelten, wenn die Täterschaft mit Sicherheit wusste, dass die Klassifizierung zum Tatzeitunkt aufgehoben war. Eine nachträgliche Entklassifizierung entlastet die Täterschaft nicht von ihrer strafrechtlichen Verantwortung.

III. Subjektiver Tatbestand

12 Der Tatbestand verlangt Vorsatz, wobei Eventualvorsatz genügt. Die subjektive Seite setzt insbesondere voraus, dass die Täterschaft um die Unrechtmässigkeit wusste.

Gemäss Bundesgericht ist die sichtbare Klassifizierung «vertraulich» oder «geheim» ein bedeutendes Indiz für ein materielles Geheimnis.
Dies muss erst recht für formelle Geheimnisse gelten. Das Wissen über die Unrechtmässigkeit kann auch anderweitig, bspw. aufgrund von Sonderwissen der Täterschaft oder anhand der Gesamtumstände, als gegeben betrachtet werden.

13 Eine verräterische Absicht ist nicht erforderlich.

IV. Versuch und Gehilfenschaft

14 Der Versuch und die Gehilfenschaft sind nach Ziffer 2 unter Strafe gestellt, so bspw. das Anbieten von klassifizierten Dokumenten an Medienschaffende zwecks Veröffentlichung. Das In-Aussicht-Stellen, klassifizierte Dokumente an die Medien zu übergeben, mit dem Ziel, die militärischen Behörden zu einem Tun, Dulden oder Unterlassen zu bewegen, stellt zudem ein rechtswidriges Nötigungsmittel dar.

V. Konkurrenzen

15 Art. 329 StGB ist subsidiär zu Art. 267 StGB (diplomatischer Landesverrat), Art. 274 StGB (militärischer Nachrichtendienst), Art. 86 MStG (Spionage und landesverräterische Verletzung militärischer Geheimnisse), Art. 106 MStG (Verletzung militärischer Geheimnisse) und Art. 7 Bundesgesetz über den Schutz militärischer Anlagen.

Es handelt sich jeweils um eine mitbestrafte Vortat.

16 Generell gilt zu beachten, dass Art. 86 und 106 MStG auch auf Zivilpersonen anwendbar sind (Art. 3 Abs. 1 Ziff. 7 MStG). Dasselbe gilt für Widerhandlungen gegen das Bundesgesetz über den Schutz militärischer Anlagen (Art. 9 Bundesgesetz über den Schutz militärischer Anlagen).

17 Für Handlungen von Armeeangehörigen im Militärdienst, welche die Schwelle zu Art. 86 und 106 MStG noch nicht erreichen, gehen die Bestimmungen des MStG Art. 329 StGB vor (Art. 9 Abs. 1 StGB).

Zu denken ist dabei an Art. 61 MStG (Ungehorsam) oder Art. 72 MStG (Nichtbefolgen von Dienstvorschriften) i.V.m. dem Veröffentlichungsverbot von Bildern, Film- und Videosequenzen oder den Regeln über Zutritts-, Aufnahme- und Mitnahmebewilligungen für militärische Anlagen (Ziff. 309 ff. Organisation der Ausbildungsdienste, ODA).

18 Ob Art. 329 Abs. 1 StGB das Hausrecht i.S.v. Art. 186 StGB mitschützt, ist umstritten.

Nach hier vertretener Auffassung trifft dies zu, da sowohl der Hausrechtsinhaber als auch der Inhaber eines formellen Geheimnisses ein vergleichbares Interesse haben, über den Zugang zum privaten bzw. nicht öffentlichen oder halb-öffentlichen Raum zu verfügen. Folglich besteht Alternativität zwischen den beiden Straftatbeständen. Der Vergehenstatbestand von Art. 186 StGB geht bei einem entsprechenden Strafantrag dem Übertretungstatbestand von Art. 329 StGB vor.

19 Aufgrund der zahlreichen, konkurrierenden Strafnormen, die Art. 329 StGB grundsätzlich vorgehen, ist der praktische Anwendungsbereich dieser Bestimmung klein, weswegen die Streichung in Erwägung gezogen wurde.

Die Existenz rechtfertigt sich aber insbesondere durch den strafrechtlichen Schutz formeller Geheimnisse.

Literaturverzeichnis

Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung zu einem Gesetzesentwurf enthaltend das schweizerische Strafgesetzbuch vom 23.7.1918, BBl 1918 IV 1 ff., abrufbar unter https://www.fedlex.admin.ch/eli/fga/1918/4_1_1_1/de, zuletzt besucht am 28.11.2022.

Corboz Bernard, Les infractions en droit suisse, Volume II, 3. Aufl., Bern 2010.

Délèze Julien, in: Macaluso Alain/Moreillon Laurent/Queloz Nicolas (Hrsg.), Commentaire romand Code pénal II, Basel 2017.

Donatsch Andreas/Thommen Marc/Wohlers Wolfgang, Strafrecht IV, Delikte gegen die Allgemeinheit, 5. Aufl., Zürich 2017.

Dupuis Michel, et al. (Hrsg.), Petit commentaire Code pénal, 2. Aufl., Basel 2017.

Erläuternder Bericht zum Bundesgesetz über die Harmonisierung der Strafrahmen im Strafgesetzbuch, im Militärstrafgesetz und im Nebenstrafrecht, aufrufbar unter https://www.bj.admin.ch/dam/bj/de/data/sicherheit/gesetzgebung/strafrahmenharmonisierung/vn-ber-d.pdf.download.pdf/vn-ber-d.pdf, zuletzt besucht am 28.11.2022.

Hauri Kurt, Kommentar Militärstrafgesetz, Bern 1983.

Omlin Esther, in: Niggli Marcel Alexander/Wiprächtiger Hans (Hrsg.), Basler Kommentar, Strafrecht II, 4. Aufl., Basel 2018.

Stratenwerth Günter/Bommer Felix, Schweizerisches Strafrecht, Besonderer Teil II: Straftaten gegen Gemeininteressen, 7. Aufl., Bern 2013.

Thormann Philipp/von Overbeck Alfred, Das Schweizerische Strafgesetzbuch, Zweiter Band, Besonderer Teil, Zürich 1941.

Trechsel Stefan/Ogg Marcel, in: Trechsel Stefan/Pieth Mark (Hrsg.), Praxiskommentar Schweizerisches Strafgesetzbuch, 4. Aufl., Zürich/St. Gallen 2021.

Fussnoten

  • Botschaft 1918, S. 74. Ebenso Corboz, Art. 329 StGB N. 1; CR-Délèze, Art. 329 StGB N. 1 und 7; Donatsch/Thommen/Wohlers, S. 688 als auch PC-Dupuis et al., Art. 329 StGB N. 1. Kritisch BSK-Omlin, Art. 329 StGB N. 3 ff.
  • Stratenwerth/Bommer, § 45, N. 44.
  • BGE 112 IV 85, S. 87 mit Hinweisen.
  • Strittig. Vgl. die nachfolgenden Ausführungen II.B.2 «Kasernenfriedensbruch» sowie V. Konkurrenzen.
  • Thormann/von Overbeck, S. 484.
  • Begriff gemäss PK-Trechsel/Ogg, Art. 329 StGB N. 1.
  • BGE 112 IV 85 S. 86.
  • CR-Délèze, Art. 329 StGB N. 10. Ebenfalls Donatsch/Thommen/Wohlers, S. 689.
  • AS 2022 232.
  • So wohl auch Stratenwerth/Bommer, § 45 N. 45.
  • BSK-Omlin, Art. 329 StGB N. 18. So auch CR-Délèze, Art. 329 StGB N. 13; Donatsch/Thommen/ Wohlers, S. 689 und PC-Dupuis et al., Art. 329 StGB N.9.
  • So würdigte das Bundesgericht in BGE 97 IV 111 E. 2. S. 117 die Klassifizierung als wichtiges Indiz für die Beurteilung eines materiellen Geheimnisses.
  • Botschaft 1918, S. 74.
  • Urteil PEN 21 172 vom 24.11.2022 des Regionalgerichts Bern-Mittelland.
  • BGE 112 IV 85 S. 86 mit Hinweisen. Einhellig die Lehre: BSK-Omlin, Art. 329 StGB N. 22; Corboz, Art. 329 StGB N. 7; CR-Délèze, Art. 329 StGB N 14; Donatsch/Thommen/Wohlers, S. 689; Hauri, Art. 86 MStG N. 49 und Art. 106 MStG N. 13 f.; PC-Dupuis et al., Art. 329 StGB N. 11 sowie PK-Trechsel/Ogg, Art. 329 StGB N. 1. Ebenso im erläuternden Bericht zum Bundesgesetz über die Harmonisierung der Strafrahmen im Strafgesetzbuch, im Militärstrafgesetz und im Nebenstrafrecht, S. 48.
  • BSK-Omlin, Art. 329 StGB N. 2.
  • A.M. BSK-Omlin, Art. 329 StGB N. 15.
  • Stratenwerth/Bommer, § 45 N. 45, sprechen sich für die Subsidiarität von Art. 329 gegenüber Art. 186 StGB aus. Wohl auch PK-Trechsel/Ogg, Art. 329 StGB N. 1, welche vom quasi «Kasernenfriedensbruch» als Offizialdelikt sprechen. Echte Konkurrenz erblicken BSK-Omlin, Art. 329 StGB N. 22, Corboz, Art. 329 StGB N. 8 sowie CR-Délèze, Art. 329 StGB N. 15.
  • Erläuternder Bericht zum Bundesgesetz über die Harmonisierung der Strafrahmen im Strafgesetzbuch, im Militärstrafgesetz und im Nebenstrafrecht, S. 49.

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10.17176/20231208-133440-0

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