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Kommentierung zu
Art. 58 KG

Eine Kommentierung von Anne Mirjam Schneuwly / Giulia Sonderegger

Herausgegeben von Patrick L. Krauskopf

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I. Überblick zum Normzweck

1 Art. 58 KG ist die Kompetenznorm für ein Tätigwerden von schweizerischen Behörden bei Wettbewerbsverstössen, die ihren Ursprung in der Schweiz haben und deren Unvereinbarkeit mit einem internationalen Abkommen durch eine Vertragspartei geltend gemacht wird.

Die Bestimmung legt die Behörden fest, die für solche Sachverhalte zuständig sind sowie für das Verfahren, das hierfür zur Anwendung kommt.

II. Zuständigkeit

2 Im Unterschied zum ordentlichen Verfahren des Kartellgesetzes bezeichnet Art. 58 KG nicht die WEKO als zuständig für die Feststellung des Sachverhalts, sondern das Departement für Wirtschaft, Bildung und Forschung (WBF).

Grund für diese Kompetenzverteilung ist, dass das WBF internationale Verträge – wie das Freihandelsabkommen – verhandelt und abschliesst und dadurch näher an den Vertragspartnern ist.
Diese Kompetenzverteilung ist insbesondere unter Berücksichtigung des diplomatischen Zwecks von Kapitel 6 KG sinnvoll.

3 In der Regel wird das WBF durch das Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) vertreten.

Gemäss Art. 58 Abs. 1 KG kann das WBF das Sekretariat der Wettbewerbskommission mit einer Vorabklärung beauftragen. Dadurch soll der Wissenstransfer von der Wettbewerbsbehörde bei Sachverhaltsabklärungen garantiert werden.
Die WEKO ist aber selbst nicht im Verfahren involviert.
Im Gegensatz zum ordentlichen Wettbewerbsverfahren gemäss Art. 23 KG ist das Sekretariat folglich nicht der WEKO, sondern dem WBF unterstellt und wird nur auf dessen Antrag tätig.
Zudem kann das WBF das Sekretariat lediglich mit einer Vorabklärung, nicht aber wie gemäss Art. 27 KG mit einer Untersuchung beauftragen. Das Sekretariat kann daher nicht wie gemäss Art. 27 KG eine Untersuchung eröffnen.

III. Verfahren

4 Art. 58 KG kann in folgende verfahrensrechtliche Schritte unterteilt werden:

A. Initiierung

5 Das Verfahren im Sinne von Kapitel 6 wird nicht durch Eigeninitiative des WBF ausgelöst, sondern die Wettbewerbsverletzung muss durch eine Vertragspartei eines internationalen Abkommens geltend gemacht werden.

M.a.W. wird das WBF erst tätig, wenn die eine Vertragspartei des Abkommens eine unvereinbare Wettbewerbsbeschränkung rügt.
Liegt eine offizielle Beschwerde vor, d.h. macht die Vertragspartei des internationalen Abkommens eine mit dem internationalen Abkommen unvereinbare Wettbewerbsbeschränkung geltend,
ist es im Ermessen des WBF zu beurteilen, ob es überhaupt eine Vorabklärung einleiten möchte. Dieses Ermessen steht dem WBF zu, da es sich bei Art. 58 Abs. 1 KG um eine «Kann-Vorschrift» handelt.
Sind die von der ausländischen Partei vorgebrachten Behauptungen aber nicht völlig unbegründet, dürfte das WBF das Sekretariat der WEKO in der Regel mit einer Vorabklärung beauftragen.
Generell steht es der Behörde jedoch offen, die Meinungsverschiedenheit auch durch diplomatische Verhandlungen zu beseitigen.
In dieser Hinsicht kommt dem WBF ein grosser Handlungsspielraum zu.

B. Vorabklärungen und Antragsstellung

6 Hat das Departement im Rahmen seines Ermessens entschieden, eine Vorabklärung einzuleiten, kann es das Sekretariat beauftragen, den Sachverhalt festzulegen. Die Vorabklärungen haben zum Zweck, die Vertreter der vom internationalen Abkommen ernannten zuständigen Gremien über die Sachlage in der Schweiz zu instruieren.

Konkret dienen sie dazu, den schweizerischen Vertretern im zuständigen Organ eine Entscheidungsgrundlage für das weitere Vorgehen zu geben.

7 Sind die Vorabklärungen abgeschlossen, stellt das Sekretariat einen Antrag an das WBF, über das weitere Vorgehen zu bestimmen (Art. 58 Abs. 2 KG). Dieser Antrag erfordert keine rechtliche Auseinandersetzung der Zulässigkeit des Wettbewerbsverhaltens mit dem internationalen Abkommen;

vielmehr liegt diese rechtliche Bewertung in der Kompetenz der im Abkommen genannten Gremien.
Grund dafür ist, dass nicht die Vereinbarkeit des Verhaltens mit dem KG, sondern mit den Wettbewerbsvorschriften des internationalen Abkommens geprüft wird.

C. Erlass von Massnahmen

8 Das Departement entscheidet schliesslich unter Berücksichtigung der Sachverhaltsabklärungen des Sekretariats, welche Massnahmen zu ergreifen sind, um die beanstandeten Praktiken zu beheben und möglichen Retorsionsmassnahmen zu entgehen. Generell steht es dem WBF offen, die Konfliktsituation entweder auf informellen Wegen zu beheben oder die in Art. 59 KG aufgeführten Massnahmen anzuwenden.

IV. Umstrittene Anwendbarkeit des VwVG auf das Verfahren

9 Nicht abschliessend geklärt ist, ob die Verfahrensvorschriften des VwVG auf das Vorabklärungsverfahren des Sekretariats und die Anhörung der Beteiligten durch das WBF anwendbar sind.

10 Ein Teil der Lehre spricht sich, unter Vorbehalt von Art. 39 KG, für die Anwendung des VwVG aus. Begründet wird dieser Ansatz durch den umfangreichen Schutz der Parteien und die Einhaltung deren Rechte, die durch die etablierten Verfahrensvorschriften garantiert werden.

Demgegenüber vertritt ein anderer Teil der Lehre den Standpunkt, dass Art. 58 KG dahin ausgelegt werden sollte, dass es ein Verfahrensrecht sui generis etabliert, die der Anwendung des VwVG vorgeht.
Gemäss dieser Lehrmeinung haben die speziellen Verfahrensvorschriften zu Art. 58 KG somit Vorrang vor der Anwendung der verfahrensrechtlichen Vorschriften nach dem KG und des VwVG.
Schliesslich dienen sie einem schnellen und gegebenenfalls informellen Verhandlungsmechanismus, der für die Durchsetzung internationaler Verpflichtungen notwendig ist. Entsprechend findet nach dieser Auffassung die Vorabklärung nicht im Sinne einer «ordentlichen Vorabklärung» gemäss Art. 26 KG statt.
Eine solche Auslegung des Verfahrens hat aber auch zur Folge, dass der Antrag des Sekretariats an das WBF keinen förmlichen Antrag, sondern eher eine Art Kommunikation darstellt, gegen welche keine Beschwerde eingereicht werden kann.
Demnach könnte nach dieser Auffassung erst eine Beschwerde erhoben werden, wenn nach Art. 59 Abs. 2 KG eine Verfügung bezüglich der Massnahmen, die die Unvereinbarkeit zu beseitigen vermögen, erlassen wurde. Das WBF kann eine solche Verfügung aber erst erlassen, wenn Bemühungen um eine einvernehmliche Regelung fehlgeschlagen sind.
Gegen den Vorrang spezieller Verfahrensvorschriften und für die Anwendbarkeit des VwVG spricht des Weiteren, dass – wenn im Endeffekt eine Verfügung nach VwVG erlassen wird – es grundsätzlich Sinn macht, das ganze Verfahren nach diesen Vorschriften zu richten.

11 Die Uneinigkeit bezüglich der anzuwendenden Verfahrensvorschriften erscheint angesichts des speziellen internationalen und ausserpolitischen Kontexts, in dem sich das Kapitel 6 bewegt, unvermeidbar und unterstreicht das Dilemma, welches das Kapitel 6 zu lösen versucht: Einerseits soll den schweizerischen Behörden ein flexibles Instrument zur Verfügung gestellt werden, das auch bei zeitlicher Dringlichkeit eingesetzt werden kann, um so den diplomatischen Zweck von Kapitel 6 zu schützen. Andererseits soll der gerichtliche Rechtsschutz der Parteien gewährleistet werden.

Eine gänzlich befriedigende Lösung, die sowohl die notwendige zeitliche Flexibilität sowie den umfangreichen Rechtsschutz der Parteien umfasst, ist aber aufgrund dieser zwei entgegenstehenden Ziele wohl nicht möglich.

Materialien

Botschaft zu einem Bundesgesetz über Kartelle und ähnliche Organisationen (KG) vom 13.5.1981, BBl 1981 S. 1293 (zit. Botschaft KG 1981).

Botschaft zu einem Bundesgesetz über Kartelle und andere Wettbewerbsbeschränkungen vom 23.11.1994, BBl 1995 I S. 468 (zit. Botschaft KG 1994).

Literaturverzeichnis

Baldi Marino, Die Wettbewerbsbestimmungen internationaler Abkommen der Schweiz und die Art. 42/43 des Kartellgesetzes (KG), in: Wirtschaft und Recht, Jg. 41, Heft 1, 1989, S. 54–69.

Borer Jürg, Orell Füssli Kommentar, Wettbewerbsrecht I: Schweizerisches Kartellgesetz (KG) mit den Ausführungserlassen sowie einschlägigen Bekanntmachungen und Meldeformularen der WEKO, 3. Aufl., Zürich 2011 (zit. OFK-Borer).

Drolshammer Jens Ivar, Wettbewerbsrecht: Vom alten (KG 85) zum neuen Recht (KG 95), Bern 1996.

Ducrey Patrik, Kommentierung zu Art. 58 KG, in: Homburger Eric/Schmidhauser Bruno/Hoffet Franz/Ducrey Patrik (Hrsg.), Kommentar zum schweizerischen Kartellgesetz vom 6. Oktober 1995 und zu den dazugehörenden Verordnungen, Zürich 1997 (zit. Kommentar zum KG-Ducrey).

Freund Benedikt, Vorbemerkungen zu Art. 58–59 KG und Kommentierung zu Art. 58 KG, in: Zäch Roger et al. (Hrsg.), KG Kommentar, Kartellgesetz, Zürich 2018 (zit. Dike Kommentar-Freund).

Mamane David/Amberg Karin, Kommentierung zu Art. 58 KG, in: Amstutz Marc/Reinert Mani (Hrsg.), Basler Kommentar, Kartellgesetz, 2. Aufl., Basel 2021 (zit. BSK-Mamane/Amberg).

Merkt Benoît/Metzger Philippe, Kommentierung zu Art. 58 KG, in: Martenet Vincent/Bovet Christian/Tercier Pierre (Hrsg.), Commentaire Romand, Droit de la concurrence, 2. Aufl., Basel 2013 (zit. CR-Merkt/Metzger).

Nüesch Sabina, Kommentierung zu Art. 58 KG, in: Amstutz Marc/Reinert Mani (Hrsg.), Basler Kommentar, Kartellgesetz, 1. Aufl., Basel 2010 (BSK-Nüesch).

Reinert Peter, Kommentierung zu Art. 58 KG, in: Baker & McKinzey (Hrsg.), Stämpflis Handkommentar, Kartellgesetz, Zürich 2007 (zit. SHK-Reinert).

Zurkinden Philipp/Trüeb Hans R., Das neue Kartellgesetz: Handkommentar, Zürich 2004.

Fussnoten

  • SHK-Reinert, Art. 58 KG N. 3; siehe auch OK-Schneuwly/Sonderegger, Vorb. zu Art. 58–59 KG N. 2 ff.
  • Dike Kommentar-Freund, Vorb. zu Art. 58–59 KG N. 8; SHK-Reinert, Art. 58 KG N. 4.
  • Dike Kommentar-Freund, Vorb. zu Art. 58–59 KG N. 8.
  • OK-Schneuwly/Sonderegger, Vorb. zu Art. 58–59 KG N. 11 ff.
  • BSK-Mamane/Amberg, Art. 58 KG N. 3.
  • CR-Merkt/Metzger, Art. 58 KG N. 17.
  • Dike Kommentar-Freund, Art. 58 KG N. 13; CR-Merkt/Metzger, Art. 58 KG N. 15.
  • CR-Merkt/Metzger, Art. 58 KG N. 16; Dike Kommentar-Freund, Art. 58 KG N. 4.
  • OFK-Borer, Art. 58 KG N. 3.
  • Vgl. Baldi, S. 63 f.; Drolshammer, S. 244; Botschaft KG 1994, S. 624.
  • BSK-Nüesch, Art. 58 KG N. 2.
  • BSK-Nüesch, Art. 58 KG N. 2.
  • Botschaft KG 1981, 1369; Kommentar KG-Ducrey, Art. 58 KG N. 2; CR-Merkt/Metzger, Art. 58 KG N. 21.
  • CR-Merkt/Metzger, Art. 58 KG N. 17.
  • Botschaft KG 1981, S. 1369; Kommentar KG-Ducrey, Art. 58 KG N. 2; vgl. auch BSK-Mamane/Amberg, Art. 58 KG N. 6.
  • OFK-Borer, Art. 58 KG N. 3; Kommentar KG-Ducrey, Art. 58 KG N. 3.
  • Botschaft KG 1981, S. 1368; BSK-Nüesch, Art. 58 KG N. 3.
  • CR-Merkt/Metzger, Art. 58 KG N. 29; OFK-Borer, Art. 58 KG N. 2; BSK-Mamane/Amberg, Art. 58 N. 5.
  • Botschaft KG 1994, S. 624 f.
  • OK-Schneuwly/Sonderegger, Art. 59 KG N. 2 ff.
  • OFK-Borer, Art. 58 KG N. 4.
  • Siehe. z.B. Kommentar KG-Ducrey, Art. 58 KG N. 2; SHK-Reinert, Art. 58 KG N. 3.
  • BSK-Mamane/Amberg, Art. 58 KG N. 9; Kommentar KG-Ducrey, Art. 58 KG N. 6; siehe auch Drolshammer, S. 245.
  • Vgl. dazu CR-Merkt/Metzger, Art. 58 KG N. 23, 30; Drolshammer, S. 244, 247; BSK-Nüesch, Art. 58 KG N. 4–5.
  • CR-Merkt/Metzger, Art. 58 KG N. 23, 30.
  • CR-Merkt/Metzger, Art. 58 KG N. 57 f.; BSK-Nüesch, Art. 58 KG N. 4.
  • CR-Merkt/Metzger, Art. 58 KG N. 29.
  • BSK-Mamane/Amberg, Art. 58 KG N. 8; BSK-Nüesch, Art. 58 KG N. 5; OK-Schneuwly/Sonderegger, Art. 59 KG N. 6 ff.
  • BSK-Nüesch, Art. 58 KG N. 5.

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