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Kommentierung zu
Art. 701 OR

Eine Kommentierung von Daniel Brugger

Herausgegeben von

defriten

I. Einleitung

A. Begriff der Universalversammlung

1 Grundsätzlich müssen die Aktionäre für die Generalversammlung einer Aktiengesellschaft förmlich, unter Einhaltung einer Frist und unter verbindlicher Angabe der Verhandlungs­gegenstände, eingeladen werden (dazu Art. 700 OR). Diese Einberufungsformalitäten dienen dem Aktionärsschutz und sorgen dafür, dass die Aktionäre die Möglichkeit haben, ihre Mitwirkungsrechte an der Generalversammlung auszuüben.

Unter anderem wird damit sichergestellt, dass die Aktionäre an der Versammlung nicht durch unerwartete Verhandlungsgegenstände überrumpelt und zu unbedachten Entscheiden verleitet werden.

2 Das Gesetz sieht in Art. 701 OR eine Ausnahme vor, nach der eine Generalversammlung ohne Einhaltung der für die Einberufung vorgeschriebenen Vorschriften abgehalten werden kann. Die Marginale bezeichnet diese Generalversammlung als "Universalversammlung". Universal ist die Versammlung insoweit, als die Aktionäre der Gesellschafter oder deren Vertreter an der Versammlung umfassend anwesend sind.

Es handelt sich also um eine Vollversammlung der Aktionäre (bzw. deren Vertreter). In der französisch- und italienisch­sprachigen Marginalie wird die Universalversammlung entsprechend als "réunion de tous les actionnaires" und "riunione di tutti gli azionisti" bezeichnet. Dass alle Aktien der Gesellschaft anwesend oder vertreten sind, genügt aber noch nicht, damit die Versammlung "universal" im Sinne von Art. 701 OR ist. Verlangt wird in Art. 701 OR darüber hinaus, dass die Aktionäre oder deren Vertreter widerspruchsfrei anwesend sind (zu den Voraussetzungen im Einzelnen unten N 11 ff.). Eine Universalversammlung ist somit eine Generalversammlung, an der sämtliche Aktionäre der Gesellschaft (oder deren Vertreter) widerspruchsfrei anwesend sind.

3 Ist dies der Fall, kann die Generalversammlung ohne die für ihre Einberufung vorge­schriebenen Vorschriften abgehalten werden (Art. 701 Abs. 1 OR; dazu unten N 28). In der Universal­versammlung kann über alle in den Geschäftskreis der Generalversammlung fallenden Gegenstände gültig verhandelt und Beschluss gefasst werden (Art. 701 Abs. 2 OR). Der Universalversammlung stehen somit sämtliche Befugnisse einer General­versammlung zu (Art. 698 Abs. 2 Ziff. 1 – 6 OR).

Sowohl die ordentliche als auch die ausserordentliche Generalversammlung kann als Universalversammlung durchgeführt werden.

B. Zweck der Universalversammlung

4 Der Zweck der Universalversammlung ist "praktischer Art"

: Mit der Universal­versammlung soll den Aktionären ermöglicht werden, eine Generalversammlung kurzfristig und ohne grössere organisatorische Umtriebe bezüglich der Einberufung abzuhalten. Damit wird die Einberufung der Generalversammlung vereinfacht und die Durchführung von Generalversammlungen erleichtert.

5 Sind alle Aktionäre (oder deren Vertreter) widerspruchsfrei anwesend, also mit der Durchführung der Generalversammlung ohne Beachtung der Einberufungsformalitäten einverstanden, ist ein Beharren auf die Einberufungsvorschriften auch nicht sinnvoll.

Im Gegenteil: Es wäre stossend und ein Widerspruch gegen das Gebot des Handelns nach Treu und Glauben (Art. 2 Abs. 1 ZGB), wenn ein rügelos anwesender Aktionär (oder Vertreter) in der Lage wäre, nachträglich die Gültigkeit der Generalversammlungsbeschlüsse wegen Einberufungsfehlern in Frage zu stellen.

6 An der Universalversammlung wird der Aktionärsschutz vielmehr anderweitig sicher­gestellt: Der Aktionär oder sein Vertreter hat sich selbst vor einer möglichen Über­rumpelung zu schützen (dazu oben N 1). Ist er mit der Durchführung der General­versammlung nicht einverstanden oder benötigt er mehr Zeit für die Vorbereitung eines Verhandlungsgegenstandes, kann er an der Versammlung nicht teilnehmen, sie jederzeit verlassen oder Widerspruch gegen die Behandlung einzelner Traktanden erheben (dazu unten N 15 ff. und N 20 ff.).

Jedem Aktionär steht damit ein Vetorecht gegen die Durchführung der Generalversammlung als Universalversammlung zu.

7 Aufgrund dieses Vetorechts ist die Durchführung einer Universalversammlung nicht zu empfehlen, wenn darin Beschlüsse über Themen gefällt werden sollen, die bei einzelnen Aktionären auf fundamentalen Widerspruch stossen. Ebensowenig ist eine Universal­versammlung empfehlenswert, wenn das Aktionariat zerstritten oder wenn mit Stör- oder Verzögerungsmanövern zu rechnen ist.

C. Praktische Bedeutung der Universalversammlung

8 In der Praxis halten Einpersonengesellschaften, Gesellschaften mit kleinem Aktionariat sowie Konzernuntergesellschaften mit hundertprozentiger Beteiligung ihre General­versammlungen in der Regel als Universalversammlungen ab.

9 Bei Gesellschaften mit breit gestreutem Aktionärskreis ist es demgegenüber in aller Regel nicht möglich, alle Aktien in einer Versammlung zu versammeln. Entsprechend ist es praktisch ausgeschlossen, für solche Gesellschaften eine Universalversammlung durch­zuführen.

10 Ebenso ist die Durchführung einer Universalversammlung aufgrund der gesetzlichen Schutzvorschriften zugunsten der Partizipanten in aller Regel nicht möglich, wenn die Gesellschaft Partizipationskapital ausgegeben hat.

II. Voraussetzungen einer Universalversammlung

11 Für eine gültige Universalversammlung ist nach Art. 701 Abs. 1 OR zweierlei notwendig:

  • Alle Aktionäre der Gesellschaft sind fortlaufend anwesend bzw. rechtsgültig vertreten.

  • Kein Aktionär bzw. kein Vertreter erhebt Widerspruch gegen die Durchführung der Universalversammlung.

A. Anwesenheit oder Vertretung aller Aktien

1. Fortlaufende Anwesenheit aller Aktien

12 Für eine rechtsgültige Universalversammlung wird erstens verlangt, dass alle Aktionäre fortlaufend anwesend oder rechtsgültig vertreten sind.

Die Universalversammlung ist mithin nur gültig, wenn sämtliche Aktien vertreten sind.
Eine Ausnahme davon gilt für eigene Aktien, da das Stimmrecht bei diesen Aktien ruht (Art. 659a Abs. 1 OR).

13 Sind alle Aktien in der Hand eines Aktionärs vertreten, genügt es für eine Universal­versammlung damit im Extremfall, dass nur ein Aktionär bzw. nur ein Vertreter anwesend ist und die Versammlung durchführt.

14 Verlangt wird nur Präsenz des Aktionärs oder seines Vertreters. Aktive Mitwirkung an der Versammlung, etwa durch Stimmausübung, wird für eine gültige Universalversammlung nicht vorausgesetzt.

Mit anderen Worten ist Stimmenthaltung an der Universal­ver­sammlung zulässig.

2. Verlassen der Versammlung

15 Die Anwesenheit sämtlicher Aktien ist für die ganze Dauer der Universalversammlung erforderlich.

Verlässt ein Aktionär oder sein Vertreter die Versammlung, wird die Universalversammlung sofort beendet.
Ein Weggang eines Aktionärs wirkt hingegen nicht zurück auf bereits gefasste Beschlüsse. Vorher gefasste Beschlüsse bleiben grundsätzlich rechtsgültig.
Ausnahmsweise können sie ungültig sein, wenn offensichtlich ist, dass sie ohne die später vorgesehenen Beschlüsse nie gefasst worden oder sinnlos wären.

16 Nach dem Weggang kann zwar an der Zusammenkunft der verbleibenden Aktionäre weiterhin unverbindlich verhandelt werden. Generalversammlungsbeschlüsse können aber nicht mehr gültig gefasst werden (zu den Folgen unten N 33 ff.).

17 Sind zu Beginn der Versammlung nicht alle Aktien vertreten (oder verlässt ein Aktionär die Versammlung), kann nach der Ankunft oder Rückkehr des letzten Aktionärs die Versammlung (wieder) als Universalversammlung geführt werden.

Durch den Umstand, dass die Aktien an der Versammlung (wieder) vollständig vertreten sind, können die nachfolgenden Beschlüsse als Universalversammlung gefasst werden.
Die vorher, bei nicht vollzähligem Aktionariat gefällten Beschlüsse werden demgegenüber nicht geheilt. Bei Vollzähligkeit der Aktionäre (bzw. deren Vertreter) kann die Beschlussfassung über die bereits gefällte Traktanden hingegen wiederholt werden.

3. Schriftliche Zustimmung?

18 Ein abwesender Aktionär kann nicht im Voraus oder im Nachhinein den Beschlüssen einer Universalversammlung schriftlich zustimmen, obschon das in der Praxis immer wieder versucht wird.

Eine solche Zustimmung ist unwirksam, ausser sie könnte als Vollmacht zur Vertretung der Aktien ausgelegt werden.
Will der Aktionär nicht an der Versammlung teilnehmen, aber dennoch die Universalversammlung nicht verhindern, bestimmt er sinnvollerweise vorgängig einen Vertreter, der seine Aktien an der Versammlung vertreten kann.

4. Anwesenheit des Verwaltungsrats?

19 Für die Gültigkeit der Universalversammlung ist nur die Präsenz aller Aktionäre (oder deren Vertreter) notwendig, nicht hingegen die Anwesenheit der Mitglieder des Verwaltungsrates, auch wenn sie nach Art. 702a OR berechtigt sind, an der Versammlung teilzunehmen und Anträge zu stellen.

Verwaltungsräte können die Universalversammlung auch nicht durch ihren Widerspruch verhindern.
Im revidierten Aktienrecht wird durch eine Straffung des Wortlautes von Art. 702a OR klargestellt, dass weder Verwaltungsräte noch die Mitglieder der Geschäftsleitung ein rechtlich durchsetzbares Teilnahmerecht haben.

B. Kein Widerspruch

20 Bei der Universalversammlung verzichten die Aktionäre auf die Beachtung von Einberufungsformalitäten.

Kein Aktionär muss sich aber gefallen lassen, dass eine Generalversammlung als Universalversammlung durchgeführt wird (sog. Vetorecht des Aktionärs; dazu oben N 6). Als Zweites wird für eine gültige Universalversammlung somit vorausgesetzt, dass alle Aktionäre (oder deren Vertreter) mit der Durchführung der Generalversammlung als Universalversammlung ausdrücklich oder stillschweigend einverstanden sind.
Umgekehrt ausgedrückt wird verlangt, dass kein Aktionär (oder sein Vertreter) Widerspruch gegen die Universalversammlung erhebt.

1. Form des Widerspruchs

21 Der Widerspruch des Aktionärs oder dessen Vertreters ist an keine Form gebunden. Der Aktionär (oder Vertreter) hat den Widerspruch jedoch klar und eindeutig zum Ausdruck zu bringen.

Der Widerspruch hat sich insbesondere von der blossen, an der Universalversammlung zulässigen Stimmenthaltung zu unterscheiden (dazu oben N 14).

2. Inhalt des Widerspruchs

22 Der Widerspruch des Aktionärs (oder dessen Vertreters) kann sich gegen die Durchführung der Universalversammlung oder gegen die Beschlussfassung über ein bestimmtes Traktandum richten.

Letzteres schon aus dem Grund, dass sich ein Aktionär (bzw. dessen Vertreter) in legitimer Weise auf den Standpunkt stellen kann, dass verschiedene Geschäfte in unterschiedlicher Weise beschlussreif sind.
Zudem könnten die Aktionäre eine erste Universalversammlung abbrechen und unmittelbar danach zu einer neuen Universal­versammlung ohne das strittige Traktandum zusammenkommen.
Es ist daher nicht sinnvoll, die Universalversammlung abzubrechen, nur weil ein Aktionär (oder dessen Vertreter) zu einem Traktandum Widerspruch erhebt. Vielmehr wird die Universal­versammlung ohne das strittige Traktandum durchgeführt.

23 Unzulässig ist hingegen ein Widerspruch gegen einzelne Anträge zu einem Traktandum.

Ein solcher Widerspruch ist im Zweifel als Widerspruch gegen das ganze Traktandum zu interpretieren (dazu unten N 40).

24 Ebensowenig ist es zulässig, den Widerspruch bedingt zu erklären. So kann ein Aktionär beispielsweise den Verzicht auf den Widerspruch zu einem Traktandum nicht vom Ergebnis der Abstimmung abhängig machen.

3. Zeitpunkt des Widerspruchs

25 Der Widerspruch des Aktionärs (oder Vertreters) kann vor oder während der Versammlung erfolgen.

26 Wurde der Widerspruch vor der Versammlung erhoben, nimmt der Aktionär oder dessen Vertreter aber an der Versammlung teil, hat er seinen Widerspruch zu wiederholen. Ansonsten ist durch die rügelose Teilnahme des Aktionärs grundsätzlich ein Verzicht auf Widerspruch anzunehmen.

27 Während der Versammlung kann der Aktionär oder sein Vertreter seinen Widerspruch zu Protokoll geben.

Erhebt der Aktionär (oder sein Vertreter) erst nach Beginn der Versammlung Widerspruch, kann sich dieser aber nur noch auf zu Beschliessendes beziehen. Ein Widerspruch gegen bereits Beschlossenes ist nicht möglich und die bis dahin getroffenen Beschlüsse bleiben gültig (dazu oben N 15).
Der Widerspruch wirkt damit nicht rückwirkend, sondern nur für die Zukunft.

III. Folgen

A. Verzicht auf Einberufungsformalitäten

28 Wenn die obgenannten beiden Voraussetzungen für die Durchführung der Universal­versammlung gegeben sind, kann die Generalversammlung ohne die für ihre Einberufung vorgeschriebenen Vorschriften abgehalten werden (Art. 701 Abs. 1 OR). Die formellen Erleichterungen der Universalversammlung beschränken sich aber nur auf die gesetzlichen und statutarischen Einberufungsvorschriften.

So ist bei einer Universalversammlung beispielsweise keine eigentliche Einberufung notwendig
und die Traktanden können beliebig geändert werden
.

29 Im Übrigen sind die gesetzlichen und statutarischen Vorschriften, die auf die General­versammlung anwendbar sind, auch für die Universalversammlung ohne Einschränkungen einzuhalten.

Insbesondere sind die gesetzlichen und statutarischen Quoren (Art. 703 ff. OR) zu beachten. Dementsprechend wird an der Universal­versammlung auch keine Einstimmigkeit verlangt, sondern in der Regel entscheidet die Mehrheit der Aktienstimmen (Art. 703 OR). Auch die Bestimmung über die Protokollierung der Versammlung (Art. 702 Abs. 2 OR) gilt für die Universalversammlung uneingeschränkt (dazu unten N 38 ff.).

30 Liegen die gesetzlichen Voraussetzungen von Art. 701 Abs. 1 OR vor, kann irgendeine Zusammenkunft der Aktionäre (bzw. deren Vertreter) grundsätzlich zu einer General­versammlung erklärt werden.

So kann beispielsweise eine gemeinsame Sitzung aller Aktionäre zu einer Universalversammlung ausgebaut und an dieser Versammlung die der Generalversammlung vorbehaltenen Beschlüsse getroffen werden.

31 Aber nicht jede informelle Zusammenkunft aller Aktionäre der Gesellschaft stellt ohne Weiteres eine Universalversammlung dar.

So ist beispielsweise ein informelles gemeinsames Essen am Mittagtisch bei einer Familiengesellschaft in aller Regel keine Generalversammlung, obschon alle Aktionäre an der Versammlung vertreten wären. Die Aktionäre müssen sich für eine gültige Universalversammlung bewusst sein, dass sie eine beschlussfähige Generalversammlung bilden und sie müssen dies auch wollen.
Darüber hinaus ist daran zu erinnern, dass (abgesehen von den Einladungsformalitäten) die übrigen Anforderungen an eine Generalversammlung einzuhalten sind, insbesondere ist ein Protokoll zu führen (dazu oben N 29).

B. Heilung von Einberufungsmängel

32 Wurde eine "gewöhnliche" Generalversammlung einberufen, war aber die Einberufung fehlerhaft, weil etwa die Einberufungsfrist nicht eingehalten oder die Traktanden nicht rechtsgenüglich genannt wurden, werden mit der Durchführung einer Universal­versammlung die Einberufungsfehler geheilt.

IV. Voraussetzungen nicht gegeben

A. Nichtigkeit

33 Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung leiden Beschlüsse, die an einer "Universal­versammlung" gefasst wurden, obschon nicht alle Aktien an der Versammlung anwesend oder vertreten waren, unter einem schweren formellen Mangel und sind nichtig (Art. 706b Ziff. 1 OR).

Dabei ist es irrelevant, ob der nicht anwesende Aktionär mit seiner Stimm­kraft den Beschluss hätte verhindern können.

34 Die Nichtigkeit eines Beschlusses ist vom Gericht jederzeit von Amtes wegen festzu­stellen.

Das bedeutet auch, dass jedermann (also auch Nichtaktionäre, wie etwa Gläubiger) sich grundsätzlich jederzeit auf einen nichtigen Generalversammlungs­beschluss berufen kann.
Immerhin wird verlangt, dass ein schutzwürdiges Interesse an der Feststellung der Nichtigkeit Generalversammlungsbeschlusses besteht (Art. 59 Abs. 2 lit. a ZPO).

35 Die Nichtigkeit kann auch im Rechtsmittelverfahren festgestellt werden, namentlich auch vom Bundesgericht. Das Bundesgericht beurteilt aber die Nichtigkeit eines Generalversammlungsbeschlusses als privatrechtliches Rechtsgeschäft nur insoweit, als sich die Nichtigkeit auf den vorinstanzlich festgestellten Sachverhalt stützen lässt oder eine rechtsgenügliche Sachverhaltsergänzung verlangt wird.

B. Konversion in eine gewöhnliche Generalversammlung

36 Verlässt ein Aktionär oder dessen Vertreter die Versammlung, kann diese in eine "gewöhnliche" Generalversammlung konvertiert werden.

Eine solche Konversion wird aber in der Regel daran scheitern, dass die Einberufungsvorschriften nicht eingehalten wurden.
Wurden die Einberufungsvorschriften hingegen beachtet, kann die Versammlung nach dem Verlassen eines Aktionärs als "gewöhnliche" Generalversammlung weitergeführt werden.

37 Der Wechsel von einer Universalversammlung zu einer "gewöhnlichen" General­versammlung ist im Protokoll der Versammlung festzuhalten. Wird die Versammlung als "gewöhnliche" Generalversammlung weitergeführt, gelten die gewöhnlichen Einberufungsschriften. Insbesondere beschränkt sich der Kreis der Geschäfte, über welche die Generalversammlung beschliessen kann, auf die in der Einladung erwähnten Verhandlungsgegenstände.

V. Protokoll und Verhandlungsleitung

38 Die Tatsache, dass alle Aktionäre bzw. deren Vertreter anwesend sind und niemand Widerspruch erhebt, ist im Protokoll der Universalversammlung festzuhalten.

Unter Umständen kann es auch zweckmässig sein, zu protokollieren, dass sämtliche Aktionäre oder deren Vertreter bis am Ende der Versammlung anwesend waren, und das Protokoll durch alle Anwesenden unterschreiben zu lassen.

39 Wurde Widerspruch gegen die Universalversammlung als Ganzes oder gegen einzelne Traktanden erhoben, ist dies zu protokollieren. Dem Vorsitzenden der Universal­versammlung ist zu empfehlen, allfällige Unklarheiten bezüglich des Widerspruches zu klären und für Rechtsklarheit zu sorgen. Ist die Aussage des Aktionärs nicht eindeutig, sollte der Vorsitzende beim Aktionär oder dessen Vertreter nachfragen, ob er Widerspruch erhebt und wenn ja, gegen was genau (gegen die Universalversammlung als Ganzes oder gegen welches konkrete Traktandum).

40 Erhebt ein Aktionär unzulässigerweise Widerspruch gegen einen Antrag (dazu oben N 23), ist es auch am Verhandlungsleiter, den Aktionär aufzuklären und nachzufragen, ob sich der Widerspruch gegen das ganze Traktandum richte. Sollte dies der Fall sein, ist die Verhandlung ohne das strittige Traktandum abzuhalten (dazu oben N. 22). Zieht der Aktionär seinen Widerspruch zurück, ist die Universalversammlung ohne Weiteres fortzuführen. Hält der Aktionär oder Vertreter demgegenüber (unzulässigerweise) an seinem Widerspruch gegen einen einzelnen Antrag fest, ist die Erklärung als Widerspruch gegen das gesamte Traktandum zu interpretieren.

Entsprechend ist die Verhandlung ohne diesen Gegenstand durchzuführen. In solchen Situation ist zu empfehlen, die einzelnen Aussagen (wörtlich) zu Protokoll zu nehmen.

VI. Ausblick auf das revidierte Aktienrecht

41 Das revidierte Aktienrecht 2020 ändert an der bisherigen Norm von Art. 701 Abs. 1 und 2 OR nichts Inhaltliches. Im Absatz 1 des revidierten Art. 701 OR findet einzig eine begriffliche Klärung statt, indem der Begriff der "Formvorschriften" durch "Vorschriften" ersetzt wird. Das vor der Hintergrund, dass mit der Universalversammlung nicht nur von Formvorschriften abgewichen werden kann, sondern auch von anderen Vorschriften, etwa bezüglich Einberufungsfristen.

Art. 701 Abs. 2 OR wird an die neu vorgesehene Möglichkeit der Verwendung elektronischer Mittel angepasst. "Anwesend sein" wird deshalb durch den Begriff "teilnehmen" ersetzt. Damit wird zum Ausdruck gebracht, dass eine physische Präsenz des Aktionärs oder seines Vertreters nicht zwingend erforderlich ist.

42 Neu ist hingegen der Absatz 3 von Art. 701 OR. Unter dem geltenden Recht gibt es keine Möglichkeit, eine Generalversammlung unter Abwesenden durchzuführen, Zirkular­beschlüsse sind unzulässig.

Im neuen Aktienrecht wird mehr Gestaltungsspielraum gewährt. In Art. 701 Abs. 3 revOR ist vorgesehen, dass die Beschlüsse der Generalversammlung auch auf schriftlichem Weg (auf Papier) oder elektronisch erfolgen können. Für diese Art der Beschlussfassung müssen sämtliche Aktionäre oder Vertreter ihre Zustimmung erteilen.

Literaturverzeichnis

Botschaft zur Änderung des Obligationenrechts (Aktienrecht) vom 23. November 2016, BBl 2017 S. 399 ff., abrufbar unter https://www.admin.ch/opc/de/federal-gazette/2017/399.pdf.

Böckli Peter, Schweizer Aktienrecht, 4. Aufl., Zürich / Basel / Genf 2009.

Bürgi F. Wolfhart, Zürcher Kommentar, Band V/5b/2, Zürich 1969.

Dubs Dieter / Truffer Roland, in: Honsell Heinrich / Vogt Nedim Peter / Watter Rolf (Hrsg.), Basler Kommentar, Obligationenrecht II, 5. Aufl., Basel 2016.

Forstmoser Peter / Meier-Hayoz Arthur / Nobel Peter, Schweizerisches Aktienrecht, Bern 1996.

Frick Bruno / Stäheli Thomas, in: Wibmer Jeannette K. (Hrsg.), Aktienrecht – Kommentar, Zürich 2016.

Meier-Hayoz Arthur / Forstmoser Peter / Sethe Rolf, Schweizerisches Gesellschafts­recht, 12. Aufl., Bern 2018.

Peter Henry / Cavadini Francesca, in: Tercier Pierre / Amstutz Marc / Trigo Trindade Rita (Hrsg.), Commentaire Romand, Code des Obligations II, 2. Aufl., Basel 2017.

Studer Christoph D., Die Einberufung der Generalversammlung der Aktiengesellschaft, Diss., Bern 1995.

Tanner Brigitte, in: Handschin Lukas (Hrsg.), Zürcher Kommentar, Art. 698 – 726 und Art. 731b OR, 3. Aufl., Zürich / Basel / Genf 2018 (zitiert: ZK-Tanner).

dieselbe, in: Roberto Vito / Trüeb Hans Rudolf, Handkommentar zum Schweizerischen Privatrecht, Personengesellschaften und Aktiengesellschaft / Vergütungsverordnung, 3. Aufl., Zürich / Basel / Genf 2016 (zitiert: CHK-Tanner).

Von der Crone Hans Caspar, Aktienrecht, 2. Aufl., Bern 2020, ebenfalls abrufbar unter: https://www.aktienrechtweb.ch.

Von Steiger Fritz, Die sog. Universalversammlung der Aktionäre, SAG 12 (1939/1940), S. 193 ff.

Fussnoten

  • Von der Crone, Aktienrecht, Rz. 1018.
  • ZK-Tanner, N. 1 zu Art. 701 OR.
  • Duden, Stichwort "universal", abrufbar unter: https://www.duden.de/rechtschreibung/universal
  • ZK-Tanner, N. 43 zu Art. 701 OR.
  • Von der Crone, Aktienrecht, Rz. 1017.
  • ZK-Bürgi, N. 3 zu Art. 701 OR.
  • BSK-Dubs/Truffer, N. 1 zu Art. 701 OR.
  • ZK-Tanner, N. 1 zu Art. 701 OR.
  • Vgl. Von Steiger, Universalversammlung der Aktionäre, S. 193.
  • Studer, S. 142.
  • Forstmoser/Meier-Hayoz/Nobel, § 23 N. 6.
  • ZK-Tanner, N. 3 zu Art. 701 OR.
  • CR-Peter/Cavadini, N. 1 zu Art. 701 OR.
  • Dazu: BSK-Dubs/Truffer, N. 3b zu Art. 701 OR; Böckli, Aktienrecht, § 12 N. 57.
  • BSK-Dubs/Truffer, N. 3a zu Art. 701 OR.
  • BGE 120 IV 199 E. 1.
  • CR-Peter/Cavadini, N. 3a zu Art. 701 OR.
  • Böckli, Aktienrecht, § 12 N. 55.
  • ZK-Tanner, N. 46 zu Art. 701 OR.
  • BSK-Dubs/Truffer, N. 3 zu Art. 701 OR.
  • BSK-Dubs/Truffer, N. 3a zu Art. 701 OR.
  • Böckli, Aktienrecht, § 12 N. 54.
  • BSK-Dubs/Truffer, N. 3a zu Art. 701 OR; Böckli, Aktienrecht, § 12 N. 54.
  • ZK-Tanner, N. 40 zu Art. 701 OR; Böckli, § 12 N. 54.
  • ZK-Bürgi, N. 6 zu Art. 701 OR.
  • ZK-Tanner, N. 8 zu Art. 701 OR.
  • CHK-Tanner, N. 2 zu Art. 701 OR.
  • ZK-Tanner, N. 10 zu Art. 701 OR; BSK-Dubs/Truffer, N. 5 zu Art. 701 OR.
  • BSK-Dubs/Truffer, N. 5 zu Art. 701 OR.
  • ZK-Tanner, N. 10a zu Art. 701 OR; BSK-Dubs/Truffer, N. 1 zu Art. 701 OR.
  • Böckli, Aktienrecht, § 12 N. 54a.
  • Botschaft 2016, S. 562 f.
  • CHK-Tanner, N. 3 zu Art. 701 OR.
  • BSK-Dubs/Truffer, N. 3 zu Art. 701 OR.
  • ZK-Tanner, N. 27 zu Art. 701 OR.
  • ZK-Tanner, N. 21 ff. zu Art. 701 OR; BSK-Dubs/Truffer, N. 3 zu Art. 701 OR; Forstmoser/Meier-Hayoz/Nobel, § 23 N. 6. Anderer Meinung: Böckli, Aktienrecht, § 12 N. 53.
  • Von der Crone, Aktienrecht, Rz. 1021.
  • ZK-Tanner, N. 24 zu Art. 701 OR.
  • ZK-Tanner, N. 22 zu Art. 701 OR; BSK-Dubs/Truffer, N. 3 zu Art. 701 OR.
  • Von der Crone, Aktienrecht, Rz. 1022.
  • Von der Crone, Aktienrecht, Rz. 1022.
  • ZK-Tanner, N. 32 zu Art. 701 OR; BSK-Dubs/Truffer, N. 3 zu Art. 701 OR.
  • ZK-Bürgi, N. 11 zu Art. 701 OR.
  • CHK-Tanner, N. 4 zu Art. 701 OR.
  • Von der Crone, Aktienrecht, Rz. 1022.
  • Von der Crone, Aktienrecht, Rz. 1023.
  • ZK-Bürgi, N. 4 zu Art. 701 OR.
  • CR-Peter/Cavadini, N. 6 zu Art. 701 OR. Zu neuen Traktanden bei Vertretung vgl. ZK-Tanner, N. 48 ff. zu Art. 701 OR.
  • Urteil 2C_115/2007 vom 11. Februar 2008 E. 5.2; Böckli, Aktienrecht, § 12 N. 53.
  • BGE 120 IV 199 E. 1; Urteil 6B_300/2016 vom 7. November 2016 E. 4.4.2; Forstmoser/Meier-Hayoz/Nobel, § 23 N. 5.
  • BSK-Dubs/Truffer, N. 1 zu Art. 701 OR.
  • Meier-Hayoz/Forstmoser/Sethe, § 16 N. 484.
  • ZK-Tanner, N. 6 zu Art. 701 OR; Studer, S. 142 f.
  • Von der Crone, Aktienrecht, Rz. 1019; ZK-Tanner, N. 3 und N. 13 zu Art. 701 OR.
  • BGE 137 III 460 E. 3.3.2. Gl.M. ZK-Tanner, N. 7 und N. 68 ff. zu Art. 701 OR; Böckli, Aktienrecht, § 12 N. 54; Forstmoser/Meier-Hayoz/Nobel, § 23 N. 6. Differenzierend: BSK-Dubs/Truffer, N. 3a zu Art. 701 OR.
  • BGE 137 III 460 E. 3.3.2; ZK-Tanner, N. 7 zu Art. 701 OR.
  • Dazu: Urteil 4A_98/2020 vom 21. Januar 2021 E. 3.3.4.2, zur Publ. vorgesehen.
  • BGE 115 II 468 E. 3b; Urteil 4A_131/2007 vom 11. Januar 2008 E. 2.1.
  • Urteil 4A_282/2020 vom 5. August 2020 E. 2.1.
  • Dazu allgemein: Urteil 4A_20/2020 vom 26. Februar 2020 E. 5.3.1.
  • Vgl. BGE 137 III 460 E. 3.3.2 S. 466.
  • ZK-Tanner, N. 9 zu Art. 701 OR.
  • Von der Crone, Aktienrecht, Rz. 1019.
  • Von der Crone, Aktienrecht, Rz. 1019.
  • ZK-Tanner, N. 53 zu Art. 701 OR. Ein Musterprotokoll einer Generalversammlung kann etwa auf der Seite des Handelsregisters des Kantons Zürich abgerufen werden, vgl. https://www.zh.ch/de/wirtschaft-arbeit/handelsregister/eintrag.html
  • Von Steiger, Universalversammlung, S. 195.
  • OFK-Aktienrecht Frick/Stäheli, N. 3 zu Art. 701 OR.
  • Botschaft 2016, S. 555.
  • Botschaft 2016, S. 555.
  • BGE 128 III 142 E. 3b S. 145; Böckli, Aktienrecht, § 12 N. 52.
  • Botschaft 2016, S. 555.

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