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Kommentierung zu
Art. 12 CCC (Übereinkommen über die Cyberkriminalität [Cybercrime Convention])

Eine Kommentierung von Ugur Gürbüz

Herausgegeben von Damian K. Graf

defriten

I. Einleitung

1 Der aus dem römischen Recht stammende Grundsatz «societas delinquere non potest» galt in Kontinentaleuropa über Jahrzehnte hinweg als unveränderliche Regel, um das Strafrecht auf das Individuum zu fokussieren und Unternehmen von strafrechtlicher Verantwortlichkeit freizustellen. Diese Vorstellung einer Rechtsordnung ohne unmittelbare Unternehmensstrafbarkeit wurde überholt, als die Wirtschaft vermehrt von komplexeren Betriebsstrukturen und globalen Arbeitsteilungen geprägt wurde und dadurch die Möglichkeiten von Missbrauch sowie die Gefahr und Schädlichkeit von allfälligen Fehlverhalten von Unternehmen grösser wurden. In Europa implementierten im Jahr 1976 die Niederlanden,

im Jahr 1994 Frankreich
und im Jahr 1996 Dänemark
die Strafbarkeit von Unternehmen in ihren Strafgesetzbüchern. In der Schweiz besteht seit dem 1.10.2003 ein im Strafgesetzbuch geregeltes Unternehmensstrafrecht, dennoch gilt die Schweiz im internationalen Vergleich als eine der Vorreiterstaaten bei der Einführung der Strafbarkeit von juristischen Personen. Bereits vor der Einführung im Strafgesetzbuch konnten ab dem Jahr 1974 bei Widerhandlungen in Geschäftsbetrieben gemäss Art. 26 UWG (Bundesgesetz gegen unlauteren Wettbewerb) die Artikel 6 und 7 des Verwaltungsstrafrechtsgesetzes (VStrR) herangezogen werden. Diese Bestimmungen galten allerdings als Ausnahmen zum damals allgemein anerkannten Grundsatz, wonach juristische Personen nicht deliktsfähig sind, und wurden nicht dem Strafrecht zugerechnet.

2 Im Rahmen der mit der Einführung der Cybercrime-Konvention des Europarates beabsichtigten Effektuierung der Strafverfolgung

wurden – dem europäischen Trend folgend – den Vertragsparteien in Art. 12 CCC wie schon in den weitgehend gleichlautenden strafrechtlichen Bestimmungen des Strafrechtsübereinkommens über Korruption
identische Regelungen der Verantwortlichkeit juristischer Personen vorgegeben, nämlich für Zuwiderhandlungen ihrer Organe und sonstigen Mitarbeiter eine Verantwortlichkeit vorzusehen. Die Vertragsstaaten wurden auch mit Art. 12 CCC verpflichtet, sicherzustellen, dass juristischen Personen angemessene Sanktionen oder Massnahmen, darunter Geldsanktionen, aufzuerlegen sind. Der Grundsatz, wonach sich Unternehmen nicht strafbar machen können, wurde auch durch die Cybercrime-Konvention weiterhin geschützt.

II. Anwendungsbereich und Ziele

3 Die Verantwortlichkeit von juristischen Personen gemäss Artikel 12 zielt zum einen darauf ab, Unternehmen für strafbare Handlungen von Personen in leitender Stellung haftbar zu machen, sofern diese Handlungen zum Nutzen der juristischen Person vorgenommen werden (Absatz 1). Zum anderen sieht die Bestimmung eine Verantwortlichkeit für Personen in leitender Stellung vor, welche das Beaufsichtigen oder Kontrollieren von Angestellten oder Beauftragten versäumt haben und dieses Versäumnis eine nach der Konvention umschriebene Straftat durch Angestellte oder Beauftragte erleichtert (Absatz 2). Die Konvention überlässt den Vertragsparteien die Wahl, ob sie die Verantwortlichkeit der juristischen Person zivil-, verwaltungs- oder strafrechtlicher Natur regeln wollen (Absatz 3). Weiter hält es fest, dass die Verantwortlichkeit einer juristischen Person der allfälligen Strafbarkeit einer natürlichen Person, welche die Straftat begangen hat, nicht entgegenstehen soll (Absatz 4).

A. Absatz 1: Bei Handlungen von Personen mit Führungsposition

4 Art. 12 Abs. 1 CCC verpflichtet die Vertragsparteien, die Verantwortlichkeit der juristischen Person für Straftaten zu begründen, die von Personen mit einer Führungsposition innerhalb des Unternehmens begangen werden oder als Anstifter oder Gehilfen daran teilnehmen. Die Bestimmung statuiert eine Kausalhaftung und umfasst vier Tatbestandsmerkmale

:

5 a) Die Konvention verlangt eine Zuwiderhandlung gegen die in den Artikeln 2-10 der Konvention formulierten Strafnormen, namentlich der rechtswidrige Zugang (Art. 2), das rechtswidrige Abfangen (Art. 3), der Eingriff in Daten (Art. 4), der Eingriff in ein System (Art. 5), der Missbrauch von Vorrichtungen (Art. 6), die computerbezogene Fälschung (Art. 7), der computerbezogene Betrug (Art. 8), Straftaten mit Bezug zu Kinderpornographie (Art. 9) sowie die Verletzung des Urheberrechts und verwandter Schutzrechte (Art. 10).

6 b) Die strafrechtliche Haftung gemäss Konventionstext beschränkt sich auf Straftaten, die zu Gunsten der juristischen Person begangen werden. Mit dem Kriterium «zu Gunsten der juristischen Person» wird eine Verknüpfung zwischen der Straftat und der juristischen Person vorgenommen.

Der Anwendungsbereich ist auf Straftaten begrenzt, die zum Vorteil einer juristischen Person begangen werden. Dieser Vorteil kann finanziell oder anderweitig sein. Unmittelbar finanzielle Vorteile sind u.a. Erträge, die aus Straftaten erlangt werden und sich die juristische Person entweder bereichert oder einen Aufwand erspart. Ein Vorteil anderer Art liegt vor, wenn der Nutzen der juristischen Person nicht (primär) finanziell ist, beispielsweise wenn infolge von Bestechungen Aufträge bei der juristischen Person eingehen. Eine Legaldefinition für den Begriff der juristischen Person enthält die Konvention keine. Herangezogen wurden bei der Festlegung von Artikel 12 die historische und europäische Interpretation des Begriffs der „juristischen Person“, wonach jedes Rechtssubjekt darunterfällt, das den Status der juristischen Person nach dem anwendbaren Recht besitzt, mit Ausnahme von Staaten oder anderen Körperschaften des öffentlichen Rechts in der Ausübung hoheitlicher Rechte und von öffentlich-rechtlichen internationalen Organisationen.

7 c) Den privatrechtlichen Grundsätzen entsprechend, dass juristische Personen nur durch ihre Organe handeln können, die Handlungen der Organe unmittelbar Handlungen der juristischen Person sind und die juristische Person für die Handlungen der Organe gegenüber geschädigten Dritten haftet, setzt die Konvention die Begehung der Straftat durch eine natürliche Person voraus, die eine Führungsposition innerhalb der juristischen Person innehat. Darunter fallen gemäss Aufzählung in den lit. a bis c jene natürlichen Personen, die ihre Führungs- und Leitungsfunktion aus einer Vertretungs-, Entscheidungs- oder Kontrollbefugnis ableiten. Der Konventionstext verlangt somit die Ausgestaltung der Verantwortlichkeit juristischer Personen als Sonderdelikt, ohne dabei eine formelle Organfunktion beim Täter vorauszusetzen.

8 d) Von den Vertragsstaaten verlangt die Konvention des Weiteren, dass die natürliche Person im Rahmen der ihr zustehenden Befugnis in Ausübung einer geschäftlich befugten Verrichtung agiert, d.h. im Rahmen der ihr bei der juristischen Person zustehenden Vertretungs-, Entscheidungs- oder Kontrollbefugnis handelt, um die Verantwortlichkeit der juristischen Person gemäss Art. 12 Abs. 1 CCC auszulösen.

B. Absatz 2: Verletzung der Aufsichtspflicht

9 Art. 12 Abs. 2 CCC verpflichtet die Vertragsstaaten, Unternehmen zur Verantwortung zu ziehen,

a) wenn die in Abs. 1 lit. a bis c genannten natürlichen Personen durch mangelnde Überwachung und Kontrolle ihre Aufsichtspflicht über unterstellte Mitarbeiter verletzen,

b) die dann als kausale Folge dieser Verletzung im Sinne von Art. 2-10 CCC eine Straftat

c) zum Vorteil der juristischen Person begehen.

10 Der Absatz 2 erweitert somit die Verantwortlichkeit der juristischen Person auf Handlungen von Personen, die eine Straftat als Mitarbeiter ohne Führungsposition der juristischen Person begehen und die Straftat dadurch ermöglicht wurde, dass die leitende Person den untergestellten Mitarbeiter nicht ausreichend beaufsichtigt hat.

11 Von einer unterlassenen Beaufsichtigung ist dann auszugehen, wenn versäumt wurde, geeignete und angemessene Massnahmen zur Hinderung krimineller Handlungen zu Gunsten der juristischen Person durch Angestellte oder Beauftragte zu ergreifen.

Dabei sind die Art und Intensität der Aufsichtspflicht von der Unternehmensform, seiner Grösse, den Sicherheitsstandards sowie den Geschäftspraktiken abhängig. Aus der Aufsichtspflicht ist keine generelle Überwachungspflicht zu begründen.

C. Absatz 3: Art der Verantwortlichkeit

12 Art. 12 Abs. 3 CCC wurde in die Konvention aufgenommen, um die nationalen Rechtsgrundsätze der Vertragsstaaten so weit wie möglich zu berücksichtigen. Gemäss dieser Konventionsbestimmung kann die Verantwortlichkeit der juristischen Personen straf-, zivil- oder verwaltungsrechtlich sein. Die Vertragsstaaten haben bei entsprechender Regelung sicherzustellen, dass ihre strafrechtlichen oder nichtstrafrechtlichen Sanktionen oder Massnahmen gegen juristische Personen die Kriterien von Art. 13 Abs. 2 CCC erfüllen, wonach sie wirksam, verhältnismässig und abschreckend sein und Geldsanktionen umfassen müssen.

D. Absatz 4: Individuelle Haftung

13 Art. 12 Abs. 4 CCC stellt klar, dass die Haftung von juristischen Personen die individuelle Haftung einer natürlichen Person nicht ausschliesst. Die Vertragsstaaten werden mit dieser Regelung nicht dazu verpflichtet, eine parallele strafrechtliche Haftung einzuführen.

III. Vergleichbare strafrechtliche Normen in der Schweiz

A. Strafrechtliche Sanktionen und Massnahmen gemäss StGB

14 Die strafrechtliche Unternehmenshaftung wurde am 1.10.2003 in das Schweizerische Strafgesetzbuch eingefügt. Motive hierfür waren die Angst vor der organisierten Kriminalität, die Furcht vor menschengeschaffenen Grossgefahren sowie die Unterzeichnung des «Übereinkommens über die Bekämpfung der Bestechung ausländischer Amtsträger im internationalen Geschäftsverkehr».

Mit der Ratifizierung dieser OECD-Konvention verpflichtete sich die Schweiz nach Art. 2, in Übereinstimmung mit ihren Rechtsgrundsätzen, die erforderlichen Massnahmen zu treffen, um die Verantwortlichkeit juristischer Personen für die Bestechung eines ausländischen Amtsträgers zu begründen.

B. Art. 102 Abs. 1 StGB: Subsidiäre Haftung

15 Gemäss Art. 102 Abs. 1 StGB werden Verbrechen oder Vergehen – nicht aber Übertretungen

– einem Unternehmen dann zugerechnet, wenn im «Unternehmen in Ausübung geschäftlicher Verrichtung im Rahmen des Unternehmenszwecks ein Verbrechen oder Vergehen begangen» wird und «diese Tat wegen mangelhafter Organisation des Unternehmens keiner bestimmten natürlichen Person zugerechnet werden» kann. Das Unternehmen macht sich demzufolge bei mangelhafter Organisation subsidiär strafbar.

16 Der sich gegen das Unternehmen richtende Vorwurf besteht darin, dass

a) ein Verbrechen oder Vergehen gemäss schweizerischer Rechtsordnung im Sinne von Art. 10 StGB als Anlasstat begangen wurde

b) die Anlasstat in einem Unternehmen begangen wurde und der Anlasstäter hierarchisch oder organisatorisch in das Unternehmen eingebunden sein muss,



c) die Anlasstat «in Ausübung geschäftlicher Verrichtung» begangen wurde, wodurch ein funktionaler Zusammenhang zwischen der Anlasstat und der geschäftlichen Betätigung verlangt wird, d.h. eine minimale wirtschaftliche Tätigkeit, die mit den Aktivitäten des Unternehmens in Bezug steht
und somit das in Art. 12 CCC vorausgesetzte Handeln mit Vertretungs-, Entscheidungs- oder Kontrollbefugnis miteinschliesst,

d) die Anlasstat im Rahmen des Unternehmenszwecks begangen wurde, womit gemäss h.M. eine Einschränkung auf betriebstypische Gefahren begründet wird,


e) und das Unternehmen die Verantwortung dafür trägt, dass die Strafverfolgungsbehörden wegen mangelhafter Organisation keine verantwortliche natürliche Person ausfindig machen können.

17 Solange die Verantwortlichkeit von juristischen Personen

  • einerseits gemäss Art. 12 Abs. 1 der Konvention darauf abzielt, Unternehmen für strafbare Handlungen von Personen in leitender Stellung haftbar zu machen, sofern diese Handlungen zum Nutzen der juristischen Person vorgenommen werden,

  • und andererseits gemäss Art. 12 Abs. 2 CCC darauf, dass Personen in leitender Stellung, welche das Beaufsichtigen oder Kontrollieren von Angestellten oder Beauftragten versäumt haben und dieses Versäumnis eine nach der Konvention umschriebenen Straftaten durch Angestellte oder Beauftragte erleichtert,

finden beide Tatvarianten eine weitgehende Entsprechung in der strafrechtlich subsidiären Unternehmenshaftung gemäss Art. 102 Abs. 1 StGB. Die Bestimmung deckt alle Delikte gemäss Cyberkonvention ab, ohne diese explizit aufzuzählen.

18 Die Konvention beschränkt sich auf Straftaten gemäss Art. 2-10 CCC, die zum Vorteil der juristischen Person und durch deren Vertreter begangen werden. Die Haftung gemäss StGB hingegen greift bei jedem Verbrechen oder Vergehen, die im Rahmen des Unternehmungszwecks durch eine Person in Ausübung einer geschäftlichen Verrichtung begangen werden.

Im Vergleich zum Konventionstext reicht die Haftung gemäss StGB somit weiter, weil die StGB keine zu Gunsten der juristischen Person begangene Straftat als Kriterium für die Unternehmenshaftung voraussetzt.

19 Art. 102 Abs. 1 StGB, wonach die Bestrafung der juristischen Person nur dann möglich ist, wenn die Handlung keiner natürlichen Person zugerechnet werden kann, und Art. 12 Abs. 4 CCC, wonach die Strafbarkeit der juristischen Person nicht die Verantwortlichkeit des Täters berühren soll, stehen nicht im Widerspruch zueinander, weil eine strafrechtliche Haftung der handelnden natürlichen Personen durch die subsidiäre Unternehmenshaftung nicht ausgeschlossen ist.

In der Schweiz ist sogar eine Bestrafung der natürlichen als auch der juristischen Person möglich, wenn die mangelhafte Organisation des Unternehmens von einer natürlichen Person verschuldet ist und diese Person erst nach der Verurteilung des Unternehmens ermittelt werden kann.

20 Als Strafe sieht Art. 102 Abs. 1 StGB eine Busse bis zu fünf Millionen Franken vor, was dem Konventionstext von Art. 13 Abs. 2 entspricht, wonach Vertragsstaaten Geldsanktionen auferlegen müssen.

C. Art. 102 Abs. 2 StGB: Primäre Haftung

21 Unabhängig von der Strafbarkeit natürlicher Personen wird seit dem 1.10.2003 ein Unternehmen primär zu Verantwortung gezogen, wenn es sich um eine Straftat nach den Artikeln 260ter StGB (Kriminelle Organisation), 260quinquies StGB (Finanzierung des Terrorismus), 305bis StGB (Geldwäscherei), 322ter StGB (Bestechung schweizerischer Amtsträger), 322quinquies StGB (Vorteilsgewährung), 322septies Absatz 1 StGB (Bestechung fremder Amtsträger) oder 322octies StGB (Bestechen) handelt und das Unternehmen nicht alle erforderlichen und zumutbaren organisatorischen Vorkehrungen getroffen hat, um eine solche Straftat zu verhindern. Die Pflichtverletzung liegt in der Missachtung von Organisationspflichten, welche die abschliessend aufgezählten Anlasstaten begünstigen.

Die Bestrafung erfolgt gemäss Art. 102 Abs. 2 StGB neben einer eventuellen Bestrafung einer natürlichen Person.

22 Keiner der Delikte gemäss Art. 2-10 CCC ist im Deliktskatalog von Art. 102 Abs. 2 StGB enthalten, weswegen die Verantwortlichkeit juristischer Personen gemäss Art. 12 CCC in Bezug zur primären strafrechtlichen Unternehmenshaftung bedeutungslos bleibt. Daraus folgt, dass den bestehenden gesetzlichen Bestimmungen entsprechend in Zusammenhang mit den in den Art. 2-10 CCC formulierten Strafnormen in der Schweiz keine direkte Zurechnung fremden Verschuldens an ein Unternehmen möglich ist.

D. Bestimmungen im Verwaltungsstrafrecht

23 Vor Einführung der strafrechtlichen Unternehmenshaftung und der Zurechnungsregelung (Art. 29 StGB) im Kernstrafrecht und auch vor Ratifizierung der Cybercrime-Konvention wurden in der Schweiz natürliche und juristische Personen für Widerhandlungen in Geschäftsbetrieben mit dem Bundesgesetz über das Verwaltungsstrafrecht in die Pflicht genommen. Entsprechende Bestimmungen im Verwaltungsstrafrecht gelten weiterhin: Art. 6 VStrR ahndet natürliche Personen, die zum Geschäftsbetrieb in einer besonderen Beziehung stehen. Art. 7 VStrR befasst sich mit der Strafbarkeit von juristischen Personen. Überschneidungen bezüglich der Bestimmungen im StGB und im VStrR sind möglich. Anwendbar sind Art. 6 und 7 VStrR, solange Gesetze entweder explizit auf einer der Bestimmungen oder auf das Verwaltungsstrafrecht insgesamt verweisen.

1. Art. 6 VStrR: Geschäftsherrenhaftung

24 Gegenstand der strafrechtlichen Verantwortlichkeit gemäss Art. 6 VStrR ist stets eine individuelle Person. Werden beim Besorgen von Angelegenheiten einer juristischen Person, Kollektiv- oder Kommanditgesellschaft, Einzelfirma oder Personengesamtheit ohne Rechtspersönlichkeit oder sonst in Ausübung geschäftlicher oder dienstlicher Verrichtungen Widerhandlungen begangen, so ist gemäss Absatz 1 die Strafbestimmung auf diejenigen natürliche Person anwendbar, welche die Tat verübt hat. Absatz 2 und 3 konkretisieren, dass der Geschäftsherr, Arbeit- und Auftraggeber, Vertretene oder sogar das Organ und Organmitglied, der geschäftsführende Gesellschafter, Liquidator und die tatsächlich leitende Person zur Verantwortung zu ziehen sind, solange sie vorsätzlich oder fahrlässig es in Verletzung einer Rechtspflicht unterlassen haben, eine Widerhandlung des Untergebenen, Beauftragten oder Vertreters abzuwenden oder in ihren Wirkungen aufzuheben. Artikel 6 ist ein Unterlassungsdelikt in Verletzung einer Rechtspflicht. Die sich aus Artikel 6 ergebende verwaltungsstrafrechtliche Verantwortung des Geschäftsherrn schränkt den Anwendungsbereich der subsidiären Strafbarkeit der Unternehmung gemäss Art. 102 Abs. 1 StGB erheblich ein und führt zur Entlastung des Unternehmens, weil sie die Zurechnung zu einer natürlichen Person ermöglicht.

2. Art. 7 VStrR: Unternehmenshaftung

25 Eine subsidiäre Strafbarkeit der juristischen Person im Verwaltungsstrafrecht sieht Art. 7 VStrR vor. Die Bestimmung zielt darauf ab, dem gemässigten Opportunitätsprinzip entsprechend den Ermittlungsaufwand der Strafverfolgungsbehörden bei geringfügigen Delikten zu vermindern. Gleichzeitig widerspricht sie dem Prinzip der Ermittlung der materiellen Wahrheit und dem Legalitätsprinzip. So kann nach Art. 7 VStrR von der Verfolgung einer natürlichen Personen Umgang genommen und an ihrer Stelle die juristische Person, die Kollektiv- oder Kommanditgesellschaft oder die Einzelfirma zur Bezahlung einer Busse verurteilt werden, wenn folgende Voraussetzungen gegeben sind:

a) Die Widerhandlung erfolgt im Geschäftsbetrieb

b) es kommt eine Busse von maximal CHF 5'000.00 in Frage und

c) die Ermittlung des Einzeltäters würde einen unverhältnismässigen Untersuchungsaufwand nach sich ziehen.

Wird eine natürliche Person als Täter ermittelt, so ist die Anwendung von Art. 7 VStrR ausgeschlossen.

Die Bestimmung ersetzt im Verwaltungsstrafrecht auch nicht Art. 102 Abs. 1 StGB. Wegen ihres unterschiedlichen Regelungsgehalts können beide Normen angewendet werden.

IV. Umsetzung des strafrechtlichen Aspekts in der Schweiz

26 Aufgrund der weitgehenden Abdeckung des Konventionsinhalts durch Art. 102 Abs. 1 StGB hat der Gesetzgeber von einer primären strafrechtlichen Unternehmenshaftung in Zusammenhang mit Art. 12 CCC und einer damit verbundenen Ausweitung des Anwendungsbereichs zurecht abgesehen.

Zwar verankert die Konvention eine parallele Verantwortung des Unternehmens, welche in der Schweiz auf strafrechtlicher Ebene nur durch die primäre strafrechtliche Unternehmenshaftung gemäss Art. 102 Abs. 2 StGB sichergestellt werden kann, doch verlangt sie von den Vertragsstaaten keine Regelung einer strafrechtlichen Verantwortlichkeit von Unternehmen. Artikel 12 der Konvention erfordert nicht die Schaffung einer Strafnorm im engeren Sinne, vielmehr überlässt sie in Abs. 3 den Vertragsstaaten, die Verantwortlichkeit der juristischen Person auch alternativ zivil- oder verwaltungsrechtlich zu regeln. Nachdem die subsidiäre Haftung nach Art. 102 Abs. 1 StGB alle Straftaten gemäss Artikel 2-10 CCC abdeckt, zumal sie sicherstellt, dass zugunsten einer Unternehmung begangene Verbrechen und Vergehen nicht unbestraft bleiben, ging der Gesetzgeber korrekterweise davon aus,
dass eine umfassendere Primärhaftung über das mindesterforderliche Mass in der Konvention hinausgehen würde.
Aufgrund von Art. 2 VStrR, wonach die Regelung des Unternehmensstrafrechts des StGB auch auf das Verwaltungsstrafrecht Anwendung findet, soweit das VStrR selber oder das einzelne Verwaltungsgesetz nichts anderes bestimmt aber auch aufgrund von Art. 7 VStrR, wonach Personalverbänden anstelle von schwer ermittelbaren Individualtätern bestraft werden können, ist die Verantwortlichkeit von juristischen Personen auch bei Straftaten wegen Widerhandlungen gegen Bundesgesetze wie beispielsweise gegen das Urheberrechtsgesetz sichergestellt.

27 Abweichend vom Wortlaut und Zweck von Art. 12 Abs. 1 CCC hat der schweizerische Gesetzgeber Art. 102 StGB nicht als eine Kausalhaftung ausgestattet.

Während nach Art. 12 Abs. 1 CCC eine juristische Person unabhängig von einem Verschulden das Risiko für die Haftung bei einer Deliktsausübung im Unternehmen tragen soll, setzt Art. 102 StGB für die strafrechtliche Verantwortlichkeit der juristischen Person ein Organisationsverschulden voraus. Trotz dieses Unterschiedes kommt die Schweiz den Anforderungen von Art. 12 CCC dennoch nach, weil eine «Verantwortlichkeit» im Sinne der Konvention nicht zwingend eine Strafbarkeit der juristischen Person bedeutet (vgl. Art. 12 Abs. 3 CCC).

V. Vergleichbare zivil- und verwaltungsrechtliche Normen in der Schweiz

28 Die Schweizer Rechtsordnung kennt in zivil- und verwaltungsrechtlicher Hinsicht verschiedene Instrumente der Schadenshaftung sowie Verhütung zukünftiger Schädigungen. Nebst den haftungsrechtlichen Regelungen und organisatorischen Massnahmen im Zivilrecht ist auch auf die Aufsichtsinstrumente von Behörden hinzuweisen.

29 Im Einzelnen handelt es sich bei diesen Instrumenten unter anderem um die Folgenden (nicht abschliessend):

  • Auflösung des Vereins durch das Gericht gemäss Art. 78 ZGB, wenn der Zweck des Vereins widerrechtlich oder unsittlich ist;

  • Aufhebung der Stiftung durch die zuständige Bundes- oder Kantonsbehörde gemäss Art. 88 ZGB, deren Zweck widerrechtlich oder unsittlich geworden ist;

  • Haftung der Gesellschaft aus Geschäftsherrenhaftung gemäss Art. 55 OR;

  • Haftung der Gesellschaft für Hilfepersonen gemäss Art. 101 OR;

  • Haftung der Gesellschaft für den Schaden aus unerlaubter Handlung, den ein Gesellschafter oder eine Gesellschafterin in Ausübung der geschäftlichen Verrichtung begangen hat gemäss Art. 567 Abs. 3 OR;

  • Haftung der Gesellschaft für Schaden aus unerlaubten Handlungen, die ein Liquidator oder eine Liquidatorin in Ausübung der geschäftlichen Verrichtungen begeht gemäss Art. 586 OR und Art. 743 OR;

  • Haftung der Gesellschaft für Schaden aus unerlaubten Handlungen, die eine zur Geschäftsführung oder zur Vertretung befugte Person in Ausübung ihrer geschäftlichen Verrichtungen begeht gemäss Art. 722 OR und Art. 817 OR;

  • Auflösung der Gesellschaft bei bestehenden Mängeln in der Organisation gemäss Art. 731b OR;

  • Haftung der Genossenschaft für Schaden aus unerlaubten Handlungen, die eine zur Geschäftsführung oder zur Vertretung befugte Person in Ausübung ihrer geschäftlichen Verrichtungen begeht gemäss Art. 899 OR;

  • Verwaltungsrechtliche Sanktionen der Eidgenössische Finanzmarktaufsicht gemäss Finanzmarktaufsichtsgesetz.

VI. Umsetzung des zivil- und verwaltungsrechtlichen Aspekts in der Schweiz

30 Das schweizerische Zivil- und Verwaltungsrecht sieht eine Vielzahl von Sanktionen und Massnahmen gegen Gesellschaften bei unerlaubten Handlungen in Ausübung einer geschäftlichen Verrichtung vor. Solange Gesellschaften zum Betrieb eines Gewerbes und nicht ausschliesslich zur Begehung von Straftaten geführt werden, reichen die zivil- und verwaltungsrechtlichen Sanktionen und Massnahmen grundsätzlich aus, um die in Art. 13 Abs. 2 CCC geforderte wirksame und abschreckende Sanktionierung sicherzustellen.

Literaturverzeichnis

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Niggli Marcel Alexander/Wiprächtiger Hans (Hrsg.), Basler Kommentar zum Strafrecht I, Art. 1-136 StGB, 4. Aufl., Basel 2019 (zit. BSK-Bearbeiter/in, Art. … StGB N …).

Riklin Franz, Schweizerisches Strafrecht – Allgemeiner Teil I – Verbrechenslehre, 3. Aufl., Zürich/Basel/Genf 2007.

Materialienverzeichnis

Botschaft über die Genehmigung und die Umsetzung des Übereinkommens des Europarates über die Cyberkriminalität vom 18.6.2010, BBl 2010 4697 ff., abrufbar unter https://www.fedlex.admin.ch/eli/fga/2010/813/de, besucht am 30.4.2024.

Botschaft zur Änderung des Schweizerischen Strafgesetzbuches (Allgemeine Bestimmungen, Einführung und Anwendung des Gesetzes) und des Militärstrafgesetzes sowie zu einem Bundesgesetz über das Jugendstrafrecht vom 21.9.1998, BBl 1999 II1979 ff., abrufbar unter https://www.fedlex.admin.ch/eli/fga/1999/1_1979_1787_1669/de, besucht am 30.4.2024.

Bundesamt für Justiz, Vernehmlassungsentwurf, Genehmigung und Umsetzung des Übereinkommens des Europarates über die Cyberkriminalität, Vorentwurf und Erläuternder Bericht, Bern, März 2009, abrufbar unter https://www.bj.admin.ch/bj/de/home/sicherheit/gesetzgebung/archiv/cybercrime-europarat.html, besucht am 30.4.2024.

Dänischen Strafgesetzbuch, abrufbar unter https://www.retsinformation.dk/eli/lta/2022/1360, besucht am 30.4.2024.

Erläuternder Bericht zu dem Zweiten Protokoll zum Übereinkommen über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften (vom Rat angenommen am 12.3.1999), abrufbar unter https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=CELEX%3A51999XG0331, besucht am 30.4.2024.

Französisches Strafgesetzbuch, abrufbar unter https://www.legifrance.gouv.fr/codes/texte_lc/LEGITEXT000006070719/2024-01-19, besucht am 30.4.2024.

Niederländischen Strafgesetzbuch, abrufbar unter https://wetten.overheid.nl/BWBR0001854, besucht am 30.4.2024.

Richtlinie 2013/40/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12.8.2013 über Angriffe auf Informationssysteme und zur Ersetzung des Rahmenbeschlusses 2005/222/JI des Rates, abrufbar unter https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/HTML/?uri=CELEX:32013L0040, besucht am 30.4.2024.

Fussnoten

  • Art. 51 des niederländischen Strafgesetzbuches, abrufbar unter https://wetten.overheid.nl/BWBR0001854, besucht am 30.4.2024.
  • Art. 121 des französischen Strafgesetzbuches, abrufbar unter https://www.legifrance.gouv.fr/codes/section_lc/LEGITEXT000006070719/LEGISCTA000006149817, besucht am 30.4.2024.
  • § 25 ff. des dänischen Strafgesetzbuches, abrufbar unter https://www.retsinformation.dk/eli/lta/2022/1360, besucht am 30.4.2024.
  • Riklin, § 12 N. 14 ff.
  • Präambel des Übereinkommens über die Cyberkriminalität.
  • Art. 18 und Art. 19 Ziff. 2 des Strafrechtsübereinkommens über Korruption, SR 0.311.43.
  • Vgl. Ziff. 2.2.11 des Vernehmlassungsentwurfs; vgl. Art. 13 CCC.
  • Explanatory Report, Rz. 124.
  • Erläuternder Bericht zum Zweiten Protokoll zum Übereinkommen über den Schutz der finanziellen Interessen der der Europäischen Gemeinschaften, Ziff. 3.2.
  • Vgl. Art. 2 lit. c) der Richtlinie 2013/40/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12.8.2013 über Angriffe auf Informationssysteme und zur Ersetzung des Rahmenbeschlusses 2005/222/JI des Rates, abrufbar unter https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/HTML/?uri=CELEX:32013L0040, besucht am 30.4.2024.
  • Explanatory Report, Rz. 124.
  • Explanatory Report, Rz. 124.
  • Explanatory Report, Rz. 125.
  • Explanatory Report, Rz. 126.
  • BBl 2010 4697 (zu Art. 12 CCC).
  • Vgl. BSK-Niggli/Gfeller, Art. 102 StGB N. 13 f.
  • Vgl. BGer 6B_256/2007 vom 15.10.2007 E. 2.2.
  • Vgl. BGer 6B_442/2013 vom 26.8.2013 E. 4.
  • Vgl. Ackermann, Niggli/Maeder, § 8 N. 65 ff.
  • Vgl. Ackermann, Niggli/Maeder, § 8 N. 70.
  • Vgl. Ziff. 2.2.11 des Vernehmlassungsentwurfs.
  • BBl 2010 4715.
  • Vgl. BSK-Niggli/Gfeller, Art. 102 StGB N. 119.
  • Vgl. StGB/JStG Kommentar, Art. 102 StGB N. 14.
  • BGE 142 IV 333 E. 3.1.
  • BSK-Schwob, Art. 6 VStrR N. 2 ff.
  • Vgl. Ackermann, Niggli/Maeder, § 8 N. 16 f.
  • Vgl. BBl 2010 4716 (zu Art. 12 CCC).
  • Vgl. BBl 2010 4716.
  • Eine andere Meinung hat Jean-Richard-dit-Bressel, S. 575 f.
  • Vgl. BGE 142 IV 333.

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