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Kommentierung zu
Art. 252 ZGB

Eine Kommentierung von Sandra Viertler

Herausgegeben von Christoph Hurni

defriten

I. Das Kindesverhältnis und dessen Entstehung im Allgemeinen

A. Das Kindesverhältnis als Rechtsverhältnis

1 Das Kindesverhältnis ist ein Rechtsverhältnis,

welches durch eine familienrechtliche Beziehung, namentlich die Eltern-Kind-Beziehung, verkörpert wird.
Nur aus dieser rechtlich anerkannten Eltern-Kind-Beziehung können rechtliche Wirkungen, mithin Rechte und Pflichten der Eltern bzw. der Kinder, abgeleitet werden;
hingegen nicht aus der Abstammung oder der geistig-sozialen Beziehung.
Das Kindesverhältnis als persönliches Verhältnis
erhält einen Eintrag in das Personenstandsregister (Art. 7 Abs. 2 lit. a ZStV), dem Beweiskraft zukommt.

B. Zweck des Kindesverhältnisses

2 Durch das Kindesverhältnis erfolgt die rechtliche Zuordnung eines Kindes zu einer Mutter (Mutterschaft) und zu einem anderen Elternteil. Damit begründet es die rechtliche Elternschaft des Kindes sowie gleichzeitig die rechtliche Verwandtschaft und die rechtliche Schwägerschaft.

3 Von der rechtlichen Elternschaft ist die genetische bzw. biologische und sozial-psychische bzw. intentionale Elternschaft zu unterscheiden. Zwar gehen die meisten Rechtsordnungen noch von einer Übereinstimmung der genetischen mit der sozial-psychischen Elternschaft aus

, jedoch muss für das Rechtsverhältnis nicht zwingend eine Übereinstimmung der beiden Elternschaftsformen gegeben sein.

C. Entstehungsgründe

4 Die im Gesetz normierten Entstehungsgründe für das Kindesverhältnis sind abschliessend und grundsätzlich zwingend.

Demnach besteht das Rechtsverhältnis in der Regel sowohl zwischen dem Kind und der Mutter als auch zwischen dem Kind und dem anderen Elternteil. Während ersteres jedoch absolut zwingend ist, muss zwischen dem Kind und dem anderen Elternteil nicht notwendigerweise ein Kindesverhältnis gegeben sein. Denn während das Kindesverhältnis zu der Mutter auf genetische Weise – in concreto mittels Geburt – entsteht, bedarf es für die Entstehung zum anderen Elternteil entweder einer Ehe zwischen der Mutter und dem Elternteil, einer Anerkennung oder einer gerichtlichen Feststellung. Im Wege der Adoption kann das Kindesverhältnis ohne biologische Abstammung erfolgen.

II. Das Kindesverhältnis zwischen dem Kind und der Mutter (Abs. 1)

A. Im Allgemeinen

5 Zwischen der gebärenden Frau als Mutter und dem Kind wird das sog. mütterliche Kindesverhältnis mit der Tatsache der Geburt begründet.

Insoweit gilt der althergebrachte Grundsatz mater semper certa est.
Es entsteht damit ex lege und bedarf keiner förmlichen Anerkennung, sodass der verpflichtenden Meldung der Mutterschaft an das Zivilstandsregisteramt innert drei Tagen gemäss Art. 40 ZGB i.V.m. Art. 34 ff. ZStV
rein deklarative Wirkung zukommt. Eine Anfechtung der Mutterschaft ist in der Schweiz de lege lata nicht zulässig, jedoch allenfalls für die Zukunft anzudenken
.

B. Sonderkonstellationen

1. Anonyme Geburt

6 Das Rechtsinstitut der anonymen Geburt, das einer werdenden Mutter im Spital ermöglicht ein Kind anonym zu gebären, ist dem Schweizer Recht fremd

und würde der Geburts-Meldepflicht widersprechen.
Somit ist lediglich eine anonyme Kindesabgabe aufgrund der bestehenden Möglichkeit der Abgabe des Kindes in ein Babyfenster
möglich. In diesem Fall entsteht, selbst bei Unbekanntheit der Mutter, das mütterliche Kindesverhältnis.
Das auf diese Weise anonym abgegebene Kind wird rechtlich als Findelkind behandelt,
das jenen Familien- und Vornamen erhält, den ihm die Behörde zuweist (vgl. Art. 38 Abs 2 ZStV).

2. Vertrauliche Geburt

7 Die vertrauliche Geburt hat den Schutz von Frauen in Notlagen, etwa weil sie Gewalt oder Bedrohung aufgrund der bestehenden Schwangerschaft ausgesetzt sind, zum Ziel. Die Identität der gebärenden Frau, die ihr Kind zur Adoption freigibt, wird in das Personenstandsregister eingetragen, allerdings nimmt nur ein kleiner Kreis von Behörden von der Geburt Kenntnis.

Durch diese weitgehende Geheimhaltung soll verhindert werden, dass nahe Angehörige oder dritte Personen von der Geburt Kenntnis erlangen und sich dadurch die bisherige Notlage noch verschlimmert.

3. Tot- und Fehlgeburt

8 Im Falle einer Tot- oder Fehlgeburt kann mangels Lebendgeburt kein Kindesverhältnis entstehen.

Totgeburten müssen, wie Lebendgeburten, beurkundet werden (Art. 9 Abs. 1 ZStV), eine Fehlgeburt kann dem Zivilstandsamt gemeldet werden.

4. Verwechseltes Kind

9 Kommt es im Krankenhaus zu einer Verwechslung von Kindern, hat dies keinen Einfluss auf die Entstehung des Rechtsverhältnisses: Das Kindsverhältnis besteht zwischen dem verwechselten Kind und seiner wahren, biologischen Mutter.

5. Mehrfache oder gespaltene Mutterschaft

10 Zu den Fällen der sog. „mehrfachen oder gespaltenen

Mutterschaft“ führen die Eizell
- und Embryonenspende sowie die Leihmutterschaft. Allesamt sind sie zwar nach geltendem Schweizer Recht untersagt (siehe Art. 119 Abs. 2 lit. d BV und Art. 4 FMedG)
, finden aber dennoch durch Vollziehung im Ausland Eingang in die Schweizer Rechtspraxis. Für die Bestimmung der Mutter bleibt nach Schweizer Recht selbst im Fall der gespaltenen Mutterschaft die Geburt entscheidend,
sodass etwaige davon abweichende vertragliche Vereinbarungen unwirksam und gerichtlich nicht durchsetzbar sind.
Demgegenüber wird in Ländern, in denen etwa die Leihmutterschaft rechtlich erlaubt ist, nur der genetische Vater als Vater registriert, währenddessen die gebärende Frau nicht Mutter des Kindes wird.

III. Das Kindesverhältnis zwischen dem Kind und dem anderen Elternteil (Abs. 2)

A. Dualismus

11 Das Kindesrecht ist in der Schweiz von Dualität geprägt.

Während die Dualität bis zur Öffnung der Ehe für alle nur aus Mutter- und Vaterschaft bestand, ist heute neben der Mutterschaft auch eine Co-Mutterschaft möglich.

12 Nach geltendem Recht bedarf es zwingend einer Mutter, sodass keine Vaterschaft und Co-Vaterschaft denkbar ist.

B. Verschiedengeschlechtliche Eltern

13 Im Fall der Verschiedengeschlechtlichkeit der Eltern wird das Kindesverhältnis zum Vater primär kraft Gesetzes, genauer durch gesetzliche Vermutung, aufgrund bestehender Ehe mit der Mutter begründet (vgl. Art. 255 ZGB). Ist die Mutter nicht verheiratet oder wurde die Vaterschaft des Ehemannes erfolgreich angefochten, kommt eine Begründung durch förmliche Anerkennung in Frage (vgl. Art. 260 ZGB). Liegen die vorgenannten Fälle nicht vor, bleibt nur noch die Möglichkeit, das Kindesverhältnis durch ein Gestaltungsurteil, die Vaterschaftsklage, zu begründen (Art. 261, 263 ZGB).

C. Gleichgeschlechtliche Eltern

14 Hat das Kind gleichgeschlechtliche Eltern, sieht Art. 255a ZGB unter bestimmten Voraussetzungen eine Möglichkeit der Entstehung des Kindesverhältnisses zur Co-Mutter kraft Gesetzes vor. Eine förmliche Anerkennung oder ein Gestaltungsurteil ist im Fall der Gleichgeschlechtlichkeit nicht vorgesehen.

IV. Das Kindesverhältnis durch Adoption (Abs. 3)

15 Neben der biologischen Erzeugung des Kindesverhältnisses besteht die Möglichkeit, das Rechtsverhältnis durch einen förmlichen Rechtsakt – die Adoption – herzustellen (vgl. Art. 264 ff. ZGB) und zwar sowohl für die Mutter als auch den anderen Elternteil. Die Adoption kann beide oder nur einen Elternteil betreffen.

16 Durch die Adoption entsteht ein neues Kindesverhältnis, was bedingt, dass das Rechtsverhältnis zu den genetischen Eltern endet.

Es ist daher weder eine Feststellung noch Begründung eines Kindesverhältnisses nach Art. 252 Abs. 1 und 2 ZGB möglich.

17 Art. 252 Abs. 3 ZGB ist lediglich ein Verweis auf die Art. 264 ff. ZGB, sodass der Bestimmung keine selbständige Bedeutung zukommt.

Materialien

Bessere Unterstützung für Frauen in Not und verletzliche Familien, Bericht des Bundesrates zum Postulat Maury Pasquier (13.4189) vom 12.10.2016.

Botschaft über die Volksinitiative «zum Schutz des Menschen vor Manipulationen in der Fortpflanzungstechnologie (Initiative für menschenwürdige Fortpflanzung, FMF)» und zu einem Bundesgesetz über die medizinisch unterstützte Fortpflanzung (Fortpflanzungsmedizingesetz, FMedG) vom 26.6.1996 (zit. Botschaft FMedG).

Literaturverzeichnis

Aebi-Müller Regina E., Anonyme Geburt und Babyfenster – Gedanken zu einer aktuellen Debatte, FamPra.ch 2007, S. 544 ff.

Biderbost Yvo, Findelkinder – Gedanken zum Thema aus juristischer Sicht, ZVW 1999, S. 49 ff.

Büchler Andrea, Sag mir, wer die Eltern sind … Konzeptionen rechtlicher Elternschaft im Spannungsfeld genetischer Gewissheit und sozialer Geborgenheit, AJP 2004, S. 1175 ff.

Büchler Andrea/Maranta Luca, Leihmutterschaft im internationalen Verhältnis: Der aktuelle Stand in der Schweiz, FamPra.ch 2015, S. 354 ff.

Guillod Olivier, Kommentierung zu Art. 252 ZGB, in: Pichonnaz Pascal/Foëx Bénédict (Hrsg.), Commentaire Romand, Code civil I, Basel 2010 (zit. CR-Guillod).

Hausheer Heinz/Aebi-Müller Regina E., Renaissance einer alten Idee: Das Einsiedler Babyfenster aus (zivil-)rechtlicher Sicht, recht 2002, S. 1 ff.

Hausheer Heinz/Geiser Thomas/Aebi-Müller Regina E., Das Familienrecht des Schweizerischen Zivilgesetzbuches, 7. Aufl., Bern 2022.

Reich Johannes, Kommentierung zu Art. 252 ZGB, in: Breitschmid Peter/Jungo Alexandra (Hrsg.), Handkommentar zum Schweizer Privatrecht, Personen- und Familienrecht, Partnerschaftsgesetz, 3. Aufl., Zürich 2016 (zit. CHK-Reich).

Rusch Martina/Götschi Antje, Vorbemerkung zu Art. 252–269c ZGB und Kommentierung zu Art. 252 ZGB, in: Büchler Andrea/Jakob Dominique (Hrsg.), Kurzkommentar, Schweizerisches Zivilgesetzbuch, 2. Aufl., Basel 2017 (zit. KUKO-Rusch/Götschi).

Schwenzer Ingeborg/Cottier Michelle, Kommentierung zu Art. 252 ZGB, in: Geiser Thomas/Fountoulakis Christiana (Hrsg.), Basler Kommentar, Zivilgesetzbuch I, 7. Aufl., Basel 2022 (zit. BSK-Schwenzer/Cottier).

Stehli Claudia, Kommentierung zu Art. 252 ZGB, in: Kren Kostkiewicz Jolanta/Wolf Stephan/Amstutz Marc/Fankhauser Roland (Hrsg.), Orell Füssli Kommentar, Schweizerisches Zivilgesetzbuch, 4. Aufl., Zürich 2021 (zit. OFK-Stehli).

Tuor Peter/Schnyder Bernhard/Schmid Jörg/Jungo Alexandra, Das Schweizerische Zivilgesetzbuch, 14. Aufl., Zürich 2015.

Wolf Stephan/Minnig Yannick, Familienrecht, Basel 2021.

Fussnoten

  • Vgl. BGE 108 II 347; CR-Guillod, Art. 252 ZGB N. 1; BSK-Schwenzer/Cottier, Art. 252 ZGB N. 2; KUKO-Rusch/Götschi, Vorb. zu Art. 252–269c ZGB N. 2; CHK-Reich, Art. 252 ZGB N. 4.
  • Wolf/Minnig, Rz. 987; OFK-Stehli, Art. 252 ZGB N. 1.
  • Siehe für eine Auswahl der Rechte und Pflichten CR-Guillod, Art. 252 ZGB N. 2.
  • Wolf/Minnig, Rz. 988; Hausheer/Geiser/Aebi-Müller, N. 15.10.
  • BSK-Schwenzer/Cottier, Art. 252 ZGB N. 4.
  • BSK-Schwenzer/Cottier, Art. 252 ZGB N. 5; CHK-Reich, Art. 252 ZGB N. 7.
  • KUKO-Rusch/Götschi, Vorb. zu Art. 252–269c ZGB N. 3; BSK-Schwenzer/Cottier, Art. 252 ZGB N. 3; CHK-Reich, Art. 252 ZGB N. 6.
  • OFK-Stehli, Art. 252 ZGB N. 1.
  • Wolf/Minnig, Rz. 987; Tuor/Schnyder/Jungo, § 39 Rz. 3; BSK-Schwenzer/Cottier, Art. 252 ZGB N. 2.
  • OFK-Stehli, Art. 252 ZGB N. 5.
  • KUKO-Rusch/Götschi, Art. 252 ZGB N. 1.
  • Vgl. BGE 141 III 328 E. 4.4; BGE 148 III 245 E. 6.4; BGE 148 III 384 E. 5.4; aus der Lehre etwa Büchler, S. 1178.
  • Siehe zur Meldepflicht etwa CR-Guillod, Art. 252 ZGB N. 7.
  • Offen gelassen bei BSK-Schwenzer/Cottier, Art. 252 ZGB N. 11. In Frankreich besteht die Möglichkeit einer Anfechtung der Mutterschaft, sofern Status und gelebte Mutter-Kind-Beziehung auseinander fallen, Art. 334 CC fr.
  • CR-Guillod, Art 252 ZGB N. 3; KUKO-Rusch/Götschi, Art. 252 ZGB N. 1 und 5.
  • Gegen eine Einführung de lege ferenda KUKO-Rusch/Götschi, Art. 252 ZGB N. 6, sowie BSK-Schwenzer/Cottier, Art. 252 ZGB N. 12c. Vgl. zu bisherigen Initiativen Bericht des Bundesrates zum Postulat Maury Pasquier, S. 4 ff. In Frankreich gibt es für die Mutter die Möglichkeit der anonymen Geburt, Art. 326 CC fr.
  • BSK-Schwenzer/Cottier, Art. 252 ZGB N. 12b; CHK-Reich, Art. 252 ZGB N. 11.
  • Vgl. dazu ausführlich Hausheer/Aebi-Müller, S. 2 ff.; Aebi-Müller, S. 546.
  • KUKO-Rusch/Götschi, Art. 252 ZGB N. 7.
  • CHK-Reich, Art. 252 ZGB N. 11.
  • KUKO-Rusch/Götschi, Art. 252 ZGB N. 7; BSK-Schwenzer/Cottier, Art. 252 ZGB N. 12e; siehe ausführlich hierzu bereits Biderbost, S. 65 ff.
  • BSK-Schwenzer/Cottier, Art. 252 ZGB N. 12d.
  • CHK-Reich, Art. 252 ZGB N. 5.
  • BSK-Schwenzer/Cottier, Art. 252 ZGB N. 12f und 12g.
  • OFK-Stehli, Art. 252 ZGB N. 2.
  • Gespalten, weil die genetische Abstammung und die rechtliche Mutterschaft auseinanderfallen.
  • Die genetische Mutter ist die Keimzellenspenderin währenddessen biologische Mutter die austragende Frau ist vgl. Büchler, S. 1178; CHK-Reich, Art. 252 ZGB N. 9.
  • Vgl. Botschaft FMedG, S. 253 und S. 279; BGE 141 III 328 E. 5.2; Büchler/Maranta, S. 354 f.
  • Vgl. Büchler, S. 1178; Wolf/Minnig, Rz. 991, mit Hinweis auf BGE 141 III 328 E. 4.4 und BGE 144 III 1 E. 4.1.
  • KUKO-Rusch/Götschi, Art. 252 ZGB N. 4.
  • OFK-Stehli, Art. 252 ZGB N. 2.
  • Vgl. Büchler, S. 1178.
  • In diesem Sinne auch CHK-Reich, Art. 252 ZGB N. 12.
  • OFK-Stehli, Art. 252 ZGB N. 3.
  • BSK- Schwenzer/Cottier, Art. 252 ZGB N. 3.
  • OFK-Stehli, Art. 252 ZGB N. 4.
  • KUKO-Rusch/Götschi, Art. 252 ZGB N. 10.
  • BSK-Schwenzer/Cottier, Art. 252 ZGB N. 14; weiter Wolf/Minnig, Rz. 990.

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