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Kommentierung zu
Vorb. zu Art. 376-378 StPO

Eine Kommentierung von Tommaso Caprara

Herausgegeben von Sonja Koch

I. Im Allgemeinen zu den besonderen Verfahrensarten

1 Die Schweizerische Strafprozessordnung (StPO)

besteht aus 12 Titeln. Während in ihrem 7. Titel das (ordentliche) erstinstanzliche Hauptverfahren
geregelt wird, finden sich im 8. Titel Bestimmungen zu besonderen Verfahrensarten. Dazu gehören das Strafbefehlsverfahren
und das Übertretungsstrafverfahren
, das abgekürzte Verfahren
, das Verfahren bei selbstständigen nachträglichen Entscheiden des Gerichts
, das Verfahren bei Abwesenheit der beschuldigten Person
und die selbstständigen Massnahmeverfahren. Bei Letzteren unterscheidet die StPO zwischen der Anordnung der Friedensbürgschaft
, dem Verfahren bei einer schuldunfähigen beschuldigten Person
und dem selbstständigen Einziehungsverfahren.

2 Massnahmen im Sinne des Schweizerischen Strafgesetzbuches (StGB)

werden grundsätzlich im Rahmen des erstinstanzlichen Hauptverfahrens angeordnet, in welchem die gegen eine bestimmte Person oder die gegen bestimmte Personen erhobene Anklage wegen bestimmten Straftaten behandelt und beurteilt wird.
Es sind jedoch Konstellationen denkbar, in denen Massnahmen losgelöst von einem ordentlichen Hauptverfahren anzuordnen sind. Diese Konstellationen bilden Gegenstand der in der StPO geregelten selbstständigen Massnahmeverfahren.

II. Im Besonderen zum selbstständigen Einziehungsverfahren (Art. 376-378 StPO)

3 Beim selbstständigen Einziehungsverfahren nach Art. 376-378 StPO handelt es sich um eine besondere Verfahrensart im oben genannten Sinne. Diese Verfahrensart ist deshalb eine «besondere», weil die Einziehung im Sinne von Art. 69 ff. StGB grundsätzlich im Rahmen eines ordentlichen Strafverfahrens gegen einen oder mehrere Beschuldigten akzessorisch angeordnet wird.

4 Die Anordnung der Einziehung erfolgt damit in der Regel zusammen mit der materiellen Beurteilung der Straftat.

Die akzessorische Einziehung kann entweder vom Gericht im Sachurteil (Art. 351 Abs. 1 StPO)
oder vom Staatsanwalt im Strafbefehl (Art. 352 Abs. 2 StPO)
angeordnet werden.

5 Meist erfolgen akzessorische Einziehungen in einer strafrechtlichen Verurteilung. Möglich ist aber auch, dass ein Freispruch

oder eine Verfahrenseinstellung
akzessorisch mit einer Einziehung verbunden wird. Denn die Anordnung der Einziehung erfolgt grundsätzlich ohne Rücksicht auf die Strafbarkeit einer bestimmten Person.
Es genügt eine tatbestandsmässige und rechtswidrige
(nicht aber notwendigerweise schuldhafte) Anlasstat.

6 Als Synonyme werden zum Teil die Bezeichnungen «Verfahren in personam»

für die akzessorische Einziehung und «Verfahren in rem» für die selbstständige Einziehung verwendet.

7 Es obliegt der zuständigen Behörde, von Amtes wegen und mit der erforderlichen Sorgfalt die Frage der Einziehung zu prüfen.

Die Anordnung dieser strafrechtlichen sachlichen Massnahme
ist grundsätzlich
obligatorisch, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt sind.

8 Gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung sollte das Einziehungsverfahren nicht ohne Not von einem pendenten Strafverfahren abgekoppelt werden, da primär im Strafverfahren darüber zu befinden ist, ob eine strafbare Handlung vorliegt und der Gegenstand oder Vermögenswert dadurch hervorgebracht oder erlangt worden ist.

In der Literatur wird in diesem Sinne zu Recht darauf hingewiesen, dass die Möglichkeit der selbstständigen Einziehung nach Art. 376 ff. StPO kein Freipass sei, sich nur noch um die finanziellen Folgen eines Delikts zu kümmern.

9 Die Möglichkeit der Durchführung eines selbstständigen Einziehungsverfahrens ist nicht nur im Rahmen der StPO vorgesehen (vgl. Art. 1 StPO). Vielmehr sieht auch das Bundesgesetz über das Verwaltungsstrafrecht (VStrR)

diese Möglichkeit in Art. 66 VStrR im Rahmen von Verwaltungsstrafverfahren vor, d.h. in Fällen, in denen die Verfolgung und Beurteilung von Widerhandlungen einer Verwaltungsbehörde des Bundes übertragen ist (Art. 1 VStrR).

III. StPO-Revision

10 Im Rahmen der letzten StPO-Revision, die am 1. Januar 2024 in Kraft getreten ist,

wurden auch die Bestimmungen betreffend das selbstständige Einziehungsverfahren teilweise angepasst.
Die Änderungen bzw. Ergänzungen betreffen Art. 377 StPO und damit die einzige StPO-Bestimmung, welche das Verfahren der selbstständigen Einziehung zum Gegenstand hat. Darauf wird im Rahmen der Kommentierung des genannten Artikels näher eingegangen.

Zum Autor

Dr. iur. Tommaso Caprara, Rechtsanwalt, CAS Forensics, ist Gerichtsschreiber bei der II. strafrechtlichen Abteilung des Schweizerischen Bundesgerichts in Lausanne.

Literaturverzeichnis

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Daphinoff Michael, Kommentierung zu Art. 352 StPO, in: Niggli Marcel Alexander/Heer Marianne/Wiprächtiger Hans (Hrsg.), Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 3. Aufl., Basel 2023.

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Heimgartner Stefan/Niggli Marcel Alexander, Kommentierung zu Art. 351 StPO, in: Niggli Marcel Alexander/Heer Marianne/Wiprächtiger Hans (Hrsg.), Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 3. Aufl., Basel 2023.

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Jositsch Daniel/Ege Gian/Schwarzenegger Christian, Strafrecht II, Strafen und Massnahmen, 9. Aufl., Zürich 2018.

Jositsch Daniel/Schmid Niklaus, Schweizerische Strafprozessordnung, Praxiskommentar, 4. Aufl., Zürich 2023.

Markwalder Nora/Frank Friedrich, Die Beschlagnahme im selbständigen Einziehungsverfahren des Verwaltungsstrafrechts, forumpoenale 2 (2023), S. 143 ff.

Nadelhofer Do Canto Simone, Vermögenseinziehung bei Wirtschafts- und Unternehmensdelikten (Art. 70 f. StGB), Zürich 2008.

Oberholzer Niklaus, Grundzüge des Strafprozessrechts, 4. Aufl., Bern 2020.

Pitteloud Jo, Code de procédure pénale suisse (CPP), Commentaire à l'usage des praticiens, Zürich/St. Gallen 2012.

Schmid Niklaus, Kommentierung zu Art. 70-72 StGB, in: Schmid Niklaus (Hrsg.), Kommentar Einziehung, Organisiertes Verbrechen, Geldwäscherei, Band I, 2. Aufl., Zürich 2007.

Scholl Marcel, Kommentierung zu Art. 70 StGB, in: Jürg-Beat Ackermann (Hrsg.), Kommentar Kriminelles Vermögen - Kriminelle Organisationen, Band I, Zürich 2018.

Schwarzenegger Christian, Kommentierung zu Art. 376 StPO, in: Donatsch Andreas/Lieber Viktor/Summers Sarah/Wohlers Wolfgang (Hrsg.), Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung (StPO), 3. Aufl., Zürich 2020.

Thommen Marc, Kommentierung zu Art. 69 StGB, in: Jürg-Beat Ackermann (Hrsg.), Kommentar Kriminelles Vermögen - Kriminelle Organisationen, Band I, Zürich 2018.

Weingart Denise, Das Einspracheverfahren gegen den selbstständigen Einziehungsbefehl nach Art. 377 Abs. 4 StPO, Besonderheiten und offene Fragen, in: Bopp Dominik/Kistler Alexander/Lisik Natalie/Reber Kristof (Hrsg.), Der Prozess, Zürich 2023, S. 261 ff.

Materialienverzeichnis

Botschaft vom 30.6.1993 über die Änderung des Schweizerischen Strafgesetzbuches und des Militärstrafgesetzes (Revision des Einziehungsrechts, Strafbarkeit der kriminellen Organisation, Melderecht des Financiers), BBl 1993 III 277 ff. (zit. Botschaft 1993).

Botschaft vom 21.12.2005 zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts, BBl 2006 1085 ff. (zit. Botschaft StPO).

Botschaft vom 28.8.2019 zur Änderung der Strafprozessordnung (Umsetzung der Motion 14.3383, Kommission für Rechtsfragen des Ständerats, Anpassung der Strafprozessordnung), BBl 2019 6697 ff. (zit. Botschaft 2019).

Fussnoten

  • Schweizerische Strafprozessordnung vom 5.10.2007 (StPO; SR 312.0).
  • Art. 328-351 StPO.
  • Art. 352-356 StPO.
  • Art. 357 StPO.
  • Art. 358-362 StPO.
  • Art. 363-365 StPO.
  • Art. 366-371 StPO.
  • Art. 372 f. StPO.
  • Art. 374 f. StPO.
  • Art. 376-378 StPO.
  • Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21.12.1937 (StGB; SR 311.0).
  • Vgl. Art. 326 Abs. 1 lit. f StPO (zur Anklage), Art. 351 Abs. 1 StPO (zur Urteilsfällung und -eröffnung) und Art. 81 Abs. 3 lit. a und Abs. 4 lit. b StPO (zum Inhalt des Urteils); Jositsch/Schmid, Vor. Art. 372-378 StPO N. 1; vgl. dazu bereits Botschaft StPO, S. 1303 Ziff. 2.8.6, wonach Massnahmen als Sanktionen des Strafrechts üblicherweise zusammen mit einem Strafurteil und damit anknüpfend an einen Schuldspruch wegen bestimmter Straftatbestände ausgefällt werden.
  • Vgl. Oberholzer, Rz. 2006.
  • BGE 144 IV 1 E. 4.1.1 = Pra 107 (2018) Nr. 87; Schwarzenegger, Art. 376 StPO N. 2; Weingart, S. 264; in diesem Sinne bereits BGer 6B_801/2008 vom 12.3.2009 E. 2.3, wonach die Einziehung von Vermögenswerten «im Regelfall» im Rahmen des Strafverfahrens erfolgt.
  • Thommen, Art. 69 StGB N. 47.
  • BSK-Heimgartner/Niggli, Art. 351 StPO N. 12; Thommen, Art. 69 StGB N. 47.
  • BSK-Daphinoff, Art. 352 StPO N. 31; Jeanneret/Kuhn, Rz. 18031; Thommen, Art. 69 StGB N. 47.
  • BSK-Heimgartner/Niggli, Art. 351 StPO N. 12; Thommen, Art. 69 StGB N. 47.
  • Vgl. zur Anordnung der Einziehung in einer Einstellungsverfügung: BGE 142 IV 383 E. 2.2 mit Hinweisen.
  • Dies gilt sowohl bei der Sicherungseinziehung nach Art. 69 StGB (vgl. Art. 69 Abs. 1 StGB: «ohne Rücksicht auf die Strafbarkeit einer bestimmten Person») als auch bei der Einziehung von Vermögenswerten nach Art. 70 StGB, obwohl ein entsprechender Passus im Gesetz bei der zweitgenannten Einziehungsart fehlt (vgl. Botschaft 1993, S. 307 Ziff. 223; BSK-Baumann, Art. 70/71 StGB N. 18; Jeanneret/Kuhn, Rz. 18027; Schmid, Art. 70-72 StGB N. 25).
  • Das Vorliegen einer tatbestandsmässigen und rechtswidrigen Anlasstat ist etwa bei einer straflosen Vorbereitungshandlung im Sinne von Art. 19b BetmG (SR 812.121) zu verneinen (BGE 149 IV 307 E. 2.6.1 mit Verweis auf BGer 6B_1273/2016 vom 6.9.2017 E. 1.6.2 und 1.7.1).
  • BGE 149 IV 307 E. 2.6; BGE 132 II 178 E. 4; BGE 125 IV 4 E. 2a/bb; BSK-Baumann, Art. 70/71 StGB N. 18; Schmid, Art. 70-72 StGB N. 25.
  • Da sie im Rahmen eines (ordentlichen) Strafverfahrens gegen eine bestimmte Person oder mehrere bestimmte Personen angeordnet wird (vgl. oben N. 3).
  • Botschaft StPO, S. 1306 Ziff. 2.8.6.3; Bernasconi, Art. 376 StPO N. 1; Conti/Tunik, Art. 376 StPO N. 4 f.; Pitteloud, Rz. 1098; vgl. dazu auch BGer 6S.68/2004, 6P.119/2004 vom 9.8.2005 E. 11.2.1 (selbstständiges Einziehungsverfahren als «Verfahren gegen Sachen oder Werte»); kritisch gegen letztgenannte Bezeichnung: BSK-Baumann, Art. 376 StPO N. 1; Nadelhofer Do Canto, S. 152 f.
  • BGE 144 IV 1 E. 4.1.1 = Pra 107 (2018) Nr. 87; BSK-Baumann, Art. 70/71 StGB N. 21.
  • Die sog. sachlichen Massnahmen knüpfen im Unterschied zu den sog. persönlichen Massnahmen nicht an der Strafbarkeit der sie betreffenden Person an (Jositsch/Ege/Schwarzenegger, S. 219); vgl. OK-Caprara, Art. 376 StPO N. 7.
  • Sofern etwa in Bezug auf die Einziehung von Vermögenswerten kein Ausschlussgrund nach Art. 70 Abs. 2 StGB vorliegt (Schmid, Art. 70-72 StGB N. 11). Vgl. dazu BGer 6B_989/2023 vom 22.4.2024 E. 4.2.3; 7B_135/2022 vom 9.1.2024 E. 4.2.2; BGer 6B_1354/2021 vom 22.3.2023 E. 4.3; je mit Hinweisen.
  • BGE 144 IV 1 E. 4.1.1 = Pra 107 (2018) Nr. 87; BGE 139 IV 209 E. 5.3; BGer 6B_1435/2021 vom 16. November 2022 E. 2.1.1; Schmid, Art. 70-72 StGB N. 11; Scholl, Art. 70 StGB N. 105.
  • BGE 144 IV 1 E. 4.1.1 = Pra 107 (2018) Nr. 87; BGE 142 IV 383 E. 2.1; BGer 6B_733/2011 vom 5.6.2012 E. 3.1; BGer 6S.68/2004, 6P.119/2004 vom 9.8.2005 E. 11.2.2.
  • BSK-Baumann, Art. 70/71 StGB N. 21.
  • Bundesgesetz über das Verwaltungsstrafrecht vom 22.3.1974 (VStrR; SR 313.0).
  • Siehe dazu Frank, Art. 66 VStrR N. 1 ff.; Frank/Caprara, S. 118 ff.; Garland/Frank, S. 479 ff.; Markwalder/Frank, S. 143 ff.
  • AS 2023 468.
  • Botschaft 2019, S. 6768 Ziff. 4.1.
  • Vgl. OK-Caprara, Art. 377 StPO N. 28 f.

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