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Kommentierung zu
Art. 715a OR

Eine Kommentierung von Nicolas Facincani / Lukas Gayler / Seline Wissler

Herausgegeben von Lukas Müller

defriten

I. Einleitung

1 Das Recht der Mitglieder des Verwaltungsrates auf Auskunft und Einsicht ist seit der Aktienrechtsrevision von 1991 in einer eigenen Bestimmung in Art. 715a OR geregelt. Diese Bestimmung blieb im Rahmen der Aktienrechtsreform 2020 unverändert bestehen, obwohl die Regelung der Informationsrechte des Aktionärs geändert wurde.

2 In Art. 715a Abs. 1 OR wird der Grundsatz des unbeschränkten Auskunftsrechts festgehalten. Absatz 2 wiederum präzisiert die Auskunftsbegehren während der Verwaltungsratssitzungen. Für Begehren um Auskunft ausserhalb von Verwaltungsratssitzungen schränkt Absatz 3 das Auskunftsrecht teilweise ein. Das Recht auf Einsicht in Bücher und Akten ist in Absatz 4 geregelt. Absatz 5 beinhaltet eine Verfahrensbestimmung, wenn der Verwaltungsratspräsident ein Gesuch um Auskunft, Anhörung oder Einsicht abweist.

Abschliessend stellt Absatz 6 klar, dass Regelungen und Beschlüsse des Verwaltungsrates, welche das Auskunfts- bzw. Einsichtsrecht der Verwaltungsratsmitglieder erweitern, zulässig sind.
Damit lassen sich die in den Absätzen 1 bis 4 enthaltenen Rechte als unentziehbar bzw. als zwingender Mindeststandard qualifizieren. Auf der anderen Seite können die in den Absätzen 3 und 4 aufgestellten Beschränkungen auch vollständig aufgehoben oder der Kreis der Auskunftspflichtigen ausgedehnt werden.

3 Mitglieder des Verwaltungsrates können während Sitzungen des Verwaltungsrates von den übrigen Mitgliedern des Verwaltungsrates und allenfalls anwesenden weiteren Personen, die mit der Geschäftsführung betraut sind, Auskunft verlangen.

Ausserhalb von Verwaltungsratssitzungen kann ein Mitglied des Verwaltungsrates Auskünfte über einzelne Geschäfte nur mit Ermächtigung des Präsidenten verlangen. Auch für die Einsichtnahme in Bücher und Akten ist grundsätzlich die Zustimmung des Verwaltungsratspräsidenten notwendig.

4 Das Einsichts- und Auskunftsrecht steht in einem Spannungsfeld zwischen Informationsbedürfnissen des Verwaltungsrates und deren missbräulicher Verwendung. Die Verantwortlichkeit des Verwaltungsrates für Pflichtverletzungen setzt einen umfassenden Wissensstand und folglich auch einen entsprechenden Zugang zu Informationen voraus.

Demgegenüber steht das vordringliche Bedürfnis der Gesellschaft, allfälligen Missbräuchen durch einzelne Mitglieder des Verwaltungsrates vorzubeugen.

5 Ein Missbrauchstatbestand kann zum einen dann vorliegen, wenn Informationen im Eigeninteresse eines Verwaltungsratsmitglieds verwendet werden, wobei vorausgesetzt wird, dass solche Eigeninteressen dem Gesellschaftsinteresse zuwiderlaufen und das Verwaltungsratsmitglied demzufolge in den Ausstand treten müsste.

Zum anderen können Missbrauchstatbestände auch bei der Weitergabe von Geschäftsgeheimnissen vorliegen.
Entsprechend umstritten ist in der Lehre, ob das Geheimhaltungsinteresse der Gesellschaft den Informationsbedürfnissen des Verwaltungsratsmitgliedes entgegensteht bzw. diese einschränken kann.

II. Der auskunftspflichtige Personenkreis

6 Bereits aus dem Wortlaut des Gesetzes ergibt sich, dass die Mitglieder des Verwaltungsrates und die mit der Geschäftsführung betrauten Personen auskunftspflichtig sind (Art. 715a Abs. 2 OR). Dementsprechend erstreckt sich die Pflicht zur Auskunft auch auf Delegierte, Direktoren, Prokuristen, Bevollmächtigte und Angestellte, welche unter der Aufsicht der Geschäftsführung selbständig sowie in eigener Kompetenz Aufgaben der Geschäftsführung wahrnehmen.

Somit werden auch stille und faktische Verwaltungsratsmitglieder als auch Suppleanten auskunftspflichtig.
Von der Auskunftspflicht ausgenommen sind damit nur nicht zeichnungsberechtigte Angestellte und Hilfspersonen.

III. Die Ausübung des Auskunfts- und Einsichtsrechts: Der "Instanzenzug"

7 Der "Instanzenzug" für die Geltendmachung des Auskunfts- und Einsichtsrechts ist wie folgt ausgestaltet:

  • Auskunftsbegehren sind grundsätzlich an den Präsidenten des Verwaltungsrates zu richten.

  • Während Sitzungen des Verwaltungsrates können Anfragen direkt an sämtliche auskunftspflichtige Personen (vgl. N. 3) gestellt werden. In diesem Rahmen wird keine Ermächtigung des Präsidenten oder des Gesamtverwaltungsrates vorausgesetzt.

  • Ausserhalb von Sitzungen des Verwaltungsrates ist ohne anderweitige Regelung in einem Organisationsreglement der ordentliche "Instanzenzug" einzuhalten. Dies ist im Hinblick darauf von Bedeutung, dass eine gleichmässige Information aller Mitglieder des Verwaltungsrates sichergestellt werden muss. Der Präsident des Verwaltungsrates muss deshalb über das Auskunftsbegehren und dessen Beantwortung in Kenntnis gesetzt werden, um bei Bedarf die übrigen Mitglieder des Verwaltungsrates informieren zu können.

    Wenn der Präsident über ein Gesuch auf Auskunft oder Einsicht zu entscheiden hat, so muss er seinen Entscheid nach pflichtgemässem Ermessen und einer Interessenabwägung fällen.
    Der Präsident hat die Ablehnung eines Gesuches i.S.v. Art. 715a Abs. 3 und 4 OR zu begründen.
    Wird das Gesuch vom Präsidenten abgewiesen, so kann das betroffene Mitglied des Verwaltungsrates an den Gesamtverwaltungsrat gelangen, dessen Entscheid unter Vorbehalt einer gerichtlichen Überprüfung (vgl. N. 23 ff.) endgültig ist. Dieser hat nach denselben Kriterien zu entscheiden wie der Präsident.
    Unseres Erachtens hat das gesuchstellende Mitglied im Rahmen des Entscheids des Gesamtverwaltungsrates in den Ausstand zu treten, da es sich in einem Interessenkonflikt befinden dürfte.

8 Ausgenommen vom Instanzenzug sind Anfragen über den Geschäftsgang. Der Bericht über den Geschäftsgang soll dem einzelnen Mitglied des Verwaltungsrates die Erfüllung oder Nichterfüllung der Geschäftsaussichten in der letzten Zeitperiode sowie besondere Ereignisse zur Kenntnis bringen.

9 Sofern der Verwaltungsrat Ausschüsse gebildet hat, welche nicht vom Präsidenten des Verwaltungsrates geleitet werden, ergibt sich ein anderer "Instanzenzug". So müssen sich Verwaltungsratsmitglieder, welche diesen Ausschüssen nicht angehören, direkt beim Vorsitzenden des Ausschusses erkundigen. Im Weiteren muss der Ausschuss im Rahmen seiner Arbeit auch direkt Informationen von Mitgliedern der Geschäftsleitung beschaffen können.

IV. Der Umfang der Auskunftsrechte

A. Das umfassende Auskunftsrecht während Verwaltungsratssitzungen

10 Gemäss Art. 715a Abs. 1 und 2 OR ist das Auskunftsrecht im Rahmen von Verwaltungsratssitzungen umfassend. Umfassend bedeutet, dass der Verwaltungsrat Anspruch auf Information über alle die Gesellschaft betreffenden Angelegenheiten hat. Das beinhaltet sowohl einen Anspruch auf Informationen über den allgemeinen Geschäftsgang als auch einen Anspruch auf detaillierte Angaben über einzelne Sachgeschäfte.

Vorausgesetzt ist einzig, dass ein gewisser Zusammenhang zwischen dem Verwaltungsratsmandat und der Auskunft besteht.
Auch wenn sich das Auskunftsrecht primär auf Vorgänge innerhalb des Unternehmens selbst beschränkt, erstreckt sich das Auskunftsrecht eines Verwaltungsratsmitgliedes bei einer Konzernmutter auch auf Vorgänge, welche die Tochtergesellschaft betreffen. Vom Auskunftsrecht ausgeschlossen bleiben Auskünfte betreffend Privatangelegenheiten von Mitarbeitern oder solche, die zur Befriedigung von Privatinteressen der Verwaltungsratsmitglieder dienen.

11 Sämtliche Mitglieder des Verwaltungsrates und die mit der Geschäftsführung betrauten Personen sind uneingeschränkt auskunftspflichtig.

Damit ist mehr gemeint als nur die Beantwortung von gestellten Fragen. Vielmehr sind die bezeichneten Personen von sich aus auch spontan zur Berichterstattung über Angelegenheiten verpflichtet, die für den Verwaltungsrat von Bedeutung sind.
Schliesslich kann nur ein informierter Verwaltungsrat auch die richtigen Fragen stellen.

12 Der Präsident muss sicherstellen, dass Fragen gestellt und auch von der zuständigen Person beantwortet werden können.

In diesem Zusammenhang muss er entweder die sachlich zuständigen Personen zur Sitzung einladen oder aber schriftliche Unterlagen zusammenzutragen.
Von den auskunftspflichtigen Personen kann allerdings nicht gefordert werden, dass sie bei spontanen Anfragen stets abrufbereit zur Verfügung stehen. Vielmehr hat die Auskunft in einem solchen Fall sobald als praktisch möglich nachgereicht zu werden.

B. Das unbeschränkte Auskunftsrecht über den Geschäftsgang ausserhalb von Verwaltungsratssitzungen

13 Als Korrelat zur persönlichen Verantwortlichkeit des Verwaltungsrates hat dieser ein unbeschränktes Auskunftsrecht über den Geschäftsgang auch ausserhalb von Sitzungen des Verwaltungsrates.

Mit Genehmigung des Präsidenten kann er darüber hinaus Auskunft über einzelne Geschäfte verlangen. Die Ermächtigung durch den Verwaltungsratspräsidenten ist grundsätzlich zu erteilen. Nur in den bereits umschriebenen Schranken (vgl. dazu insbesondere die unter N. 5 aufgeführten Missbrauchstatbestände) ist die Ermächtigung zu verweigern, wobei stets die Verhältnismässigkeit zu wahren ist.
Der Verhältnismässigkeitsgrundsatz kann auch dazu führen, dass einem Auskunftsgesuch lediglich teilweise stattgegeben wird.

C. Der Anspruch auf rechtzeitige und vollständige Abgabe von Unterlagen vor der Verwaltungsratssitzung

14 Als Teilgehalt des Auskunftsrechts besteht der Anspruch der Verwaltungsratsmitglieder auf rechtzeitige und vollständige Abgabe von Unterlagen vor der jeweiligen Sitzung. Dabei richtet sich der Umfang der entsprechenden Unterlagen nach den traktandierten und zu behandelnden Themenkreisen.

Mit anderen Worten besteht ein Recht auf umfassende Information vor einer Verwaltungsratssitzung.
Dabei werden die Informationen zur Vorbereitung einer Verwaltungsratssitzung im Gesetz nicht besonders geregelt. Der Präsident des Verwaltungsrates ist verantwortlich für die Vorbereitung und Leitung der Sitzung. Gemäss Swiss Code of Best Practice 2023 ist der Präsident des Verwaltungsrates Garant der Information. Er hat im Zusammenwirken mit der Geschäftsleitung für eine rechtzeitige Information der Verwaltungsratsmitglieder über alle für die Willensbildung und die Überwachung erheblichen Aspekte der Gesellschaft zu sorgen.
Im Zusammenhang mit dem Anspruch auf rechtzeitige und vollständige Abgabe von Unterlagen vor der Verwaltungsratssitzung ist im Swiss Code von "übersichtlich aufbereiteten und verständlichen Unterlagen" die Rede, welche den Verwaltungsratsmitgliedern zur Verfügung gestellt werden müssen. Unseres Erachtens überzeugt diese Formulierung in sachlicher Hinsicht, weshalb der Swiss Code in der Praxis als Auslegungshilfe herangezogen werden kann.

15 Die Mitglieder des Verwaltungsrates sollten die übersichtlich aufbereiteten Unterlagen, soweit möglich, vor der Sitzung zugestellt erhalten, wobei die Zustellung sowohl postalisch als auch elektronisch erfolgen kann, unabhängig davon, ob die Sitzung im Nachgang physisch, elektronisch oder virtuell stattfindet. Andernfalls lässt der Präsident die Unterlagen mit genügender Zeitvorgabe vor der Sitzung zum Studium auflegen. Dadurch wird sichergestellt, dass sich alle Verwaltungsratsmitglieder eine fundierte Meinung im Hinblick auf Entscheidungen bilden können.

16 Die Unterlagen für eine Verwaltungsratssitzung müssen rechtzeitig vorliegen. Ist dies nicht der Fall, müssen die Verwaltungsratsmitglieder aktiv werden. Gegebenenfalls müssen sie an der Sitzung beantragen, das Geschäft abzulehnen oder zu vertagen.

Welche Frist noch als angemessen gilt, muss im Einzelfall beurteilt werden.

V. Das Einsichtsrecht in Bücher und Akten

17 Die Mitglieder des Verwaltungsrates haben sowohl inner- als auch ausserhalb von Verwaltungsratssitzungen ein individuelles Recht auf Einsicht in Bücher und Akten. Die Begriffe sind extensiv auszulegen und umfassen sämtliche auf schriftlichen oder elektronischen Datenträgern erfassten Gesellschaftsakten, auf welche die Gesellschaft Zugriff hat.

Namentlich haben die Mitglieder Anspruch auf das Sitzungsprotokoll und die entsprechenden Dokumentationen, sofern nicht ein Missbrauchstatbestand (vgl. N. 5) vorliegt. Das gilt auch für Mitglieder, welche sich im Ausstand befinden.

18 Unter den Begriff der "Bücher" fallen die eigentlichen Geschäftsbücher i.S.v. Art. 957 ff. OR sowie die Korrespondenz.

Nicht darunter fällt hingegen das Aktienbuch, da jedem Mitglied des Verwaltungsrates ein diesbezüglich unbeschränktes Einsichtsrecht zusteht, da es hierfür die Verantwortung mitträgt.
Schliesslich hat auch jedes Mitglied des Verwaltungsrates freien Zugang zu den Akten des Verwaltungsrates, seiner Ausschüsse und insbesondere des Präsidialausschusses.
Unter den Begriff der "Akten" fallen grundsätzlich alle Dokumente mit Bezug zur Tätigkeit der Gesellschaft,
insbesondere auch sämtliche relevanten Computerdaten.

19 Dabei umfasst das Einsichtsrecht nicht das voraussetzungslose Recht, Kopien der Unterlagen anzufertigen und diese mitzunehmen. Jedoch kann der Präsident im Interesse der Gesellschaft ein Kopieren relevanter Teile der internen Dokumentation zulassen.

Das Einsichtsrecht ist persönlich auszuüben, wobei das einsichtsnehmende Mitglied des Verwaltungsrates dem Präsidenten ein Gesuch stellen kann, um sich von einem zuständigen Experten begleiten zu lassen.

20 Das Einsichtsrecht gemäss Art. 715a Abs. 4 OR ist gesetzlich am stärksten eingeschränkt. So können die Bücher und Akten nur eingesehen werden, "soweit es für die Erfüllung einer Aufgabe erforderlich ist". Ob diese Voraussetzung erfüllt ist, hängt damit vor allem von der Organisation der betreffenden Aktiengesellschaft ab.

Das um Einsicht ersuchende Mitglied des Verwaltungsrates hat gegenüber dem Verwaltungsratspräsidenten anzugeben, inwiefern die Einsicht für seine Aufgabenerfüllung von Relevanz ist.
Ob für das Einsichtsbegehren (oder auch für Informationsbegehren) an den Verwaltungsratspräsidenten Schriftlichkeit verlangt werden darf, ist in der Lehre umstritten. Aus Beweisgründen kann sich die Schriftform für das Gesuch (und evtl. die Antwort darauf) aufdrängen. Unseres Erachtens kann die schriftliche Form verlangt werden und ergibt sich aus dem Recht und der Pflicht des Verwaltungsrats zur Selbstorganisation.
Die Anforderungen an die Form sollten aber in jedem Fall nicht zu hoch angesetzt werden: Ein Einsichtsbegehren per E-Mail sollte in jedem Fall als ausreichend erachtet werden, auch wenn das Organisationsreglement Schriftlichkeit verlangt. Ob dem Verwaltungsratsmitglied Einsicht gewährt wird, entscheidet der Präsident.

VI. Der zeitliche Aspekt der Informationsrechte gemäss Art. 715a OR

21 Der Anspruch auf Auskunftserteilung beginnt mit der Wahl zum Mitglied des Verwaltungsrates und endet mit dessen Ausscheiden

durch Ende der Amtszeit, Rücktritt oder Abwahl.
Nach Ausscheiden als Mitglied des Verwaltungsrates wird dieses entweder zum gewöhnlichen Aktionär oder zu einem aussenstehenden Dritten, welchem kein Recht auf zusätzliche Information zukommt.
Dies gilt grundsätzlich auch dann, wenn das Auskunftsbegehren Umstände oder Dokumente betrifft, welche auf die Zeit der Aktivität des Verwaltungsrates zurückgehen.
Dies wird mit dem fehlenden Interesse eines ehemaliges Verwaltungsratsmitglieds an der Geltendmachung des Rechts auf Auskunft und Einsicht begründet.
Droht einem Verwaltungsrat die Abwahl, beispielsweise weil dessen Abwahl an der bevorstehenden Generalversammlung traktandiert ist, so ist die Beantragung von vorsorglichen Massnahmen (auch superprovisorisch) beim zuständigen Gericht grundsätzlich denkbar. Jedoch werden derartige Massnahmen nur unter wesentlich erhöhten Anforderungen gewährt.

22 Nur wenn ein ehemaliges Mitglied des Verwaltungsrates wegen eines Rechtsstreites – insbesondere aus Verantwortlichkeit oder wegen Honoraransprüchen – auf den Zugang zu den benötigten Informationen während der früheren Amtszeit angewiesen ist, besteht auch noch nach dem Ausscheiden ein entsprechender Anspruch gegen die Gesellschaft.

VII. Die gerichtliche Durchsetzung des Auskunfts- und Einsichtsrechtes

23 In der Lehre war die Frage nach der gerichtlichen Durchsetzbarkeit des Informationsanspruches von Mitgliedern des Verwaltungsrates gemäss Art. 715a OR mittels Leistungsklage lange Zeit stark umstritten.

Eine Klagemöglichkeit ist im Gesetz nicht explizit statuiert.
Im Jahr 2018 entschied das Bundesgericht die Frage zugunsten Zulässigkeit einer Leistungsklage.
Demnach kann das Informationsrecht also auch ausserhalb von Verwaltungsratssitzungen gerichtlich durchgesetzt werden.
Das Bundesgericht kam nach einer ausführlichen Auseinandersetzung mit den Lehrmeinungen sowie einer Auslegung der entsprechenden Bestimmung zum Schluss, dass Art. 715a OR den Zweck habe, sicherzustellen, dass der Verwaltungsrat seine Aufgaben als Führungs- und Aufsichtsgremium wirksam und effizient wahrnehmen könne. Wenn der Gesetzgeber demnach davon ausginge, dass die von Art. 715a OR geschützten Informationsrechte notwendig für eine wirksame Erfüllung der erwähnten Aufgaben seien, spreche vor allem dieser Zweck für die Klagemöglichkeit.
Zudem könne das Wissen, dass Informationsrechte nicht klagbar sind, einer Auskunftsverweigerung des Verwaltungsrates zu Unrecht Auftrieb geben. Diesbezüglich würde auch die Klage auf Nichtigkeit des Verwaltungsratsbeschlusses keine Abhilfe schaffen, hätte diese keine Informationsgewährung zur Folge.
Das Gericht habe aber stets im Einzelfall zu prüfen, ob die verlangten Informationen zur Erfüllung des Verwaltungsratsmandats notwendig sind oder ob der Einsicht überwiegende Interessen der Gesellschaft entgegenstehen würden.

24 Der Entscheidung des Bundesgerichts ist u.U. beizupflichten, bilden die in Art. 715a OR statuierten Auskunfts- bzw. Einsichtsrechte der Verwaltungsratsmitglieder denn eine grundlegende Voraussetzung für deren pflichtgemässe Aufgabenerfüllung gemäss Art. 717 OR.

Eine solche Leistungsklage fällt in den Anwendungsbereich des summarischen Verfahrens.

25 Der Anspruch gemäss Art. 715a OR ist persönlicher Natur und kann nicht abgetreten werden. Da mittels Leistungsklage Informationen erhältlich gemacht werden sollen, welche der Wahrnehmung der gesetzlichen Aufgaben dienen sollen, ist grundsätzlich nur derjenige aktivlegitimiert, der nicht nur bei der Klageeinleitung, sondern auch bei der Urteilsfällung noch Mitglied des Verwaltungsrates ist.

Eine Ausnahme hat beim erwähnten Beispiel des ehemaligen Mitgliedes des Verwaltungsrates zu gelten, welches im Rahmen eines Rechtsstreites auf die Informationen angewiesen ist (vgl. N. 22). Passivlegitimiert ist nicht etwa der Verwaltungsratspräsident oder der Gesamtverwaltungsrat, sondern die Gesellschaft.

Literaturverzeichnis

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Fussnoten

  • Vgl. Forstmoser/Küchler, S. 425.
  • Vgl. BSK-Wernli/Rizzi, Art. 715a OR N. 1.
  • Solche Erweiterungen werden etwas als zweckmässig erachtet, wenn Ausschüsse gebildet werden; von der Crone, S. 626. Ebenso wird der direkte Zugang zum Vorsitzenden der Geschäftsleitung, bei Kenntnisgabe an den Verwaltungsratspräsidenten, empfohlen; Forstmoser, S. 57.
  • Zum Ganzen vgl. BSK-Wernli/Rizzi, Art. 715a OR N. 11.
  • Mit der Beschränkung auf "mit der Geschäftsleitung betraute Personen" wird verhindert, dass sich die Verwaltungsratsmitglieder direkt an untergeordnete Personen wenden. Die Berichterstattung im Verwaltungsrat durch nicht der Geschäftsleitung angehörender Personen ist aber zulässig und auch üblich. Siehe zum Ganzen Forstmoser, S. 55.
  • Vgl. BSK-Wernli/Rizzi, Art. 715a OR N. 11.
  • Moschen/von der Crone, S. 306; BGE 133 III 133 E. 3.3; BGE 144 III 100 E. 5.2.2.
  • Böckli, § 9 Rz. 232 ff.; BSK-Wernli/Rizzi, Art. 715 OR N. 3; Forstmoser/Meier-Hayoz/Nobel, § 28 N. 78; Müller/Lipp/Plüss, Rz. 2.33; Moschen/von der Crone, S. 306f.
  • Böckli, § 9 Rz. 235.
  • Vgl. Müller/Lipp/Plüss, Rz. 233.
  • Während sich Böckli, § 9 Rz. 237 auf den Standpunkt stellt, dass nur, aber immerhin, der "harte Kern" der Geschäftsgeheimnisse einen solchen Vorrang haben können, vertreten BSK-Wernli/Rizzi, Art. 715a OR N. 5 unter Verweis auf die Geheimhaltungs- und Schweigepflicht gemäss Art. 717 OR der Verwaltungsratsmitglieder die Ansicht, dass Geheimhaltungsinteressen der Gesellschaft die Informationsrechte der Verwaltungsratsmitgliedern nicht einschränken können.
  • Vgl. BSK-Wernli/Rizzi, Art. 715a OR N. 7 m.w.H.
  • Bächtold, S. 104, Krneta, N. 955; CHK-Plüss/Facincani-Kunz, Art. 715a OR N. 5.
  • Bächtold, S. 109 ff.
  • Vgl. Müller/Lipp/Plüss, Rz. 234 / Fn. 54.
  • Müller/Lipp/Plüss, Rz. 2.56.
  • Müller/Lipp/Plüss, Rz. 2.53.
  • CHK-Plüss/Facincani-Kunz, Art. 715a OR N. 10.
  • Müller/Lipp/Plüss, Rz. 2.53.
  • Vgl. Böckli, § 9 Rz. 270 ff.
  • Vgl. Müller/Lipp/Plüss, Rz. 2.56.
  • BSK-Wernli/Rizzi, Art. 715a OR N. 6.
  • BSK-Wernli/Rizzi, Art. 715a OR N. 4.
  • Zum Ganzen vgl. BSK-Wernli/Rizzi, Art. 715a OR N. 4 m.w.H.
  • Forstmoser/Meier-Hayoz/Nobel, § 28 N. 98; Böckli, § 9 Rz. 250; Müller/Lipp/Plüss, Rz. 2.43. Durch den faktischen Wissensstand wird das Recht um Auskunft aber faktisch eingeschränkt, siehe hierzu von der Crone, S. 625.
  • Müller/Lipp/Plüss, Rz. 2.43.
  • Vgl. BSK-Wernli/Rizzi, Art. 715a OR N. 8.
  • Böckli, § 9 Rz. 251.
  • Müller/Lipp/Plüss, Rz. 2.44.
  • BSK-Wernli/Rizzi, Art. 715a OR N. 7.
  • Vgl. BSK-Wernli/Rizzi, Art. 715a OR N. 9. Ohne Ermächtigung des Verwaltungsratspräsidenten können somit nicht Auskünfte über einzelne Geschäfte verlangt werden, von der Crone, S. 626.
  • Vgl. dazu Böckli, § 9 Rz. 232 ff.; BSK-Wernli/Rizzi, Art. 715a OR N. 10; Müller/Lipp/Plüss, Rz. 2.44.
  • Vgl. BSK-Wernli/Rizzi, Art. 715 OR N. 9b.
  • Vgl. Böckli, § 9 Rz. 276.
  • Vgl. Ziffer 17 des Swiss Code of Best Practice 2023 Siehe zur Rechtsnatur von Selbstregulierungsreglementen etwa Urteil des BVGer B-2233/2020 vom 16.2.2021 bzw. BVGE 2021 IV/1; Müller/Lipp/Plüss, Rz. 10.80; Böckli, § 12 Rz. 150.
  • Vgl. Böckli, § 9 Rz. 276.
  • Vgl. Müller/Lipp/Plüss, Rz. 2.41.
  • ZK-Bühler, Art. 715a OR N. 54.
  • Vgl. Müller/Henry, S. 62 f.
  • Vgl. BSK-Wernli/Rizzi, Art. 715 OR N. 11.
  • Vgl. Böckli, § 9 Rz. 287.
  • Vgl. Böckli, § 9 Rz. 288.
  • ZK-Bühler, Art. 715a OR N. 54.
  • Vgl. Böckli, § 9 Rz. 284
  • Vgl. Böckli, § 9 Rz. 285.
  • Vgl. Böckli, § 9 Rz. 286.
  • Müller/Lipp/Plüss, Rz. 2.51.
  • Vgl. Böckli, § 9 284; Moschen/von der Crone, S. 309. Wie hier bejahend mit dem Hinweis auf die Selbstorganisation etwa Forstmoser, S. 57, verneinend etwa Roth Pellanda, N. 692.
  • Vgl. Böckli, § 9 Rz. 284; Müller/Lipp/Plüss, Rz. 2.50.
  • Vgl. BSK-Wernli/Rizzi, Art. 715 OR N. 4; CHK-Plüss/Facincani-Kunz, Art. 715a OR N. 2.
  • Vgl. Müller/Lipp/Plüss, Rz. 2.70.
  • ZK-Bühler, Art. 715a OR N. 37.
  • BGE 129 III 499 E. 3.3; gleicher Meinung ist auch, BSK-Wernli/Rizzi Art. 715a OR N. 4 m.w.H.
  • BGE 129 III 499 E. 3.3; BGer 4C.7/2003 vom 26.5.2003 E. 6.2.
  • OGVE 2014/15 Nr. 08, Böckli, § 9 Rz. 293. Zur gerichtlichen Durchsetzung siehe nachfolgend N. 23 ff.
  • BGE 129 III 499 E. 3.3 m.w.H.; Böckli, § 9 Rz. 243.
  • Für die Zulässigkeit einer solchen Leistungsklage sprach sich u.a. Bächtold, S. 178 ff. aus.
  • Vgl. Moschen/von der Crone, S. 307.
  • Vgl. BGE 144 III 100 E. 5.2.2.
  • Müller/Lipp/Plüss, Rz. 2.49.
  • BGE 144 III 100 E. 5.2.2 m.w.H.
  • BGE 144 III 100 E. 5.2.2.
  • BGE 144 III 100 E. 5.2.3, Moschen/von der Crone, S. 309.
  • Dazu ausführlich auch Naef/Rieger, S. 604.
  • BGE 144 III 100 E. 6.
  • Zum Ganzen Killias, S. 343.
  • BGE 144 III 100 E. 5.2.3.2; von der Crone, S. 627.

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