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Kommentierung zu
Art. 36 BPR
defriten

I. Entstehungsgeschichte

1 Die Vorschrift hat keine Vorgängerbestimmung im Nationalratswahlgesetz (NWG) 1919. Sie war im Entwurf des Bundesrates für das BPR 1976 noch nicht enthalten, sondern geht auf einen Antrag der zuständigen Kommission des Nationalrates zurück, der im Plenum diskussionslos angenommen wurde.

Der Ständerat stimmte ebenfalls ohne Diskussion zu.
Im Zuge der Revision von 2014 fand eine formelle Anpassung des Wortlautes des Verweises auf Art. 29 Abs. 4 statt. Diese Änderung geht wiederum nicht auf einen Entwurf des Bundesrates, sondern auf einen im Nationalrat diskussionslos angenommenen Antrag der Staatspolitischen Kommission zurück,
dem der Ständerat ebenso diskussionslos folgte.

2 Den Anlass für die erstmalige Regelung der Verwertung von Stimmen zugunsten Verstorbener bildeten zwei Fälle bei den Nationalratswahlen 1975 in den Kantonen Bern und Solothurn, wo Kandidaten im Zeitraum zwischen der Drucklegung der Wahlzettel und dem Wahltermin verstorben waren.

Die ausdrückliche Normierung der Rechtsfolgen sollte die bei den Wählenden und den Behörden aufgetretene Rechtsunsicherheit beseitigen. Die für die verstorbene Person abgegebene Stimme konnte mangels mutmasslicher Kenntnis bei den Wählenden nicht für ungültig erklärt werden. Unklar blieb dabei aber, ob und in welcher Form die faktisch wertlose Stimme der betreffenden Liste zugerechnet werden konnte.

II. Bedeutung der Vorschrift

A. Allgemeines

3 Die Vorschrift regelt eine besondere Konstellation im Rahmen des Systems der Einzelstimmenkonkurrenz. Kandidatenstimmen bilden den hauptsächlichen Anteil der für die Mandatsverteilung auf die Listen massgeblichen Parteistimmen. Im Zeitraum zwischen der Erstellung der Listen und der Nationalratswahl verstorbene Kandidierende können nicht mehr wirksame Begünstigte von Kandidatenstimmen sein und damit grundsätzlich auch keine Parteistimmen liefern. Auch ohne die Regelung in Art. 36 würden Stimmen zu deren Gunsten wohl in Form von Zusatzstimmen als Parteistimmen an die gewählte Liste fliessen (Art. 37 Abs. 1 Satz 1 BPR). Ausnahmsweise würden die Stimmen zugunsten Verstorbener aber als leere Stimmen verfallen, wenn es an einer Listenbezeichnung fehlt, weil entweder ein Wahlzettel ohne Vordruck verwendet und keine Liste bezeichnet wurde, oder auf einem Wahlzettel mit Vordruck die Listenbezeichnung gestrichen wurde (Art. 37 Abs. 1 Satz 2 BPR).

4 In den meisten Fällen würden bereits die sonstigen Regelungen zu einer Verwertung der Stimmen führen, die im Sinne der Wählenden sein dürfte. Art. 36 BPR bestätigt insoweit ausdrücklich, dass die Stimmen für verstorbene Personen als Kandidatenstimmen gezählt werden und damit der Liste der verstorbenen Kandidierenden als Parteistimmen zugutekommen.

5 Eigenständigen Regelungsgehalt entfaltet Art. 36 BPR daneben zunächst für den Fall, dass die Wählerin oder der Wähler eine inzwischen verstorbene Person panaschiert hat. Ohne Spezialregelung würde die Stimme zugunsten einer verstorbenen Person möglicherweise der bezeichneten Liste zufliessen. Ob dies dem mutmasslichen Willen der Wählenden entspricht, ist nicht eindeutig zu bestimmen. Dafür könnte sprechen, dass explizit eine bestimmte Person aus einer anderen Liste panaschiert wurde. Wenn diese Person nicht mehr wirksam gewählt werden kann, soll die Stimme als Zusatzstimme und damit als Parteistimme an die originär gewählte Liste fliessen. Das Gesetz trifft in Art. 36 BPR jedoch die entgegengesetzte Annahme. Die Stimme wird als Kandidatenstimme der verstorbenen Person und damit zugunsten der Liste der Panaschierten als Parteistimme fingiert. Im Ergebnis wirkt sich die Stimme also zugunsten der am besten gewählten Kandidierenden auf der Liste der Panaschierten aus. Die Wählerin oder der Wähler hat letztlich nur noch die Partei der oder des Verstorbenen gewählt, da die verstorbene Person nicht mehr wählbar war. Es erscheint zweifelhaft, ob dies dem mutmasslichen Willen der Wählenden gerecht wird. Die gesetzliche Lösung führt aber die Wirkung von Panaschierstimmen zugunsten der anderen Liste konsequent fort und ist aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht zu beanstanden.

6 Ebenfalls von Bedeutung ist Art. 36 BPR für den Fall, dass die wählende Person einen Wahlzettel ohne Vordruck verwendet und keine Listenbezeichnung einträgt. Die Vorschrift führt dazu, dass die (unwirksame) Stimme zugunsten der verstorbenen Person nicht verfällt, sondern als Kandidatenstimme fingiert und damit als Parteistimme gezählt wird. Auch in dieser Konstellation ist fraglich, ob Wählende, die ausdrücklich eine individuell zusammengesetzte Liste erstellen, mit ihrer Stimme die Liste der verstorbenen Personen unterstützen wollen. Auch insoweit ist die Regelung aber die logische Folge der Wirkung von Kandidatenstimmen zugunsten der jeweiligen Liste.

B. Rechtsvergleich

7 Viele Kantone regeln die Konstellation des Versterbens einer kandidierenden Person zwischen der Bereinigung der Listen und dem Wahltermin nicht ausdrücklich. Soweit die Kantone eine Regelung treffen, entspricht diese Art. 36 BPR. In den Kantonen Bern, Solothurn, St. Gallen und Waadt werden Stimmen für Kandidatinnen und Kandidaten, die seit der Bereinigung der Wahlvorschläge verstorben sind, ausdrücklich als Kandidatenstimmen gezählt.

8 In den Kantonen ohne ausdrückliche Regelung dürften die Stimmen für verstorbene Personen in der Praxis wohl ebenfalls als Kandidatenstimmen der jeweiligen Liste zugutekommen. So nahm der Staatsrat des Kantons Wallis am 19. November 2018 mit Blick auf die Wahl des Verfassungsrates am 25. November 2018 aus aktuellem Anlass eine Präzisierung für den Fall des Hinschieds eines Verfassungsratskandidaten vor.

Der Staatsrat führte unter anderem aus: «Die Kandidatenstimmen, welche dem vor der Wahl verstorbenen Kandidaten gegeben werden, sind gültig und werden als solche vom Auszählbüro gezählt. Befindet sich ein verstorbener Kandidat am Abend der Wahl unter den Gewählten, wird sein Platz durch den ersten Nichtgewählten eingenommen». Im Kanton Luzern wurde bei den Kantonsratswahlen 2019 in Bezug auf den Umgang mit dem Tod eines Kandidaten Art. 36 BPR analog angewendet.

III. Kommentierung des Normtextes

9 Der Anwendungsbereich der Vorschrift erfasst die Konstellation, dass eine kandidierende Person zwischen dem Zeitpunkt der Bereinigung der Listen gemäss Art. 29 Abs. 4 Satz 1 und Satz 3 BPR, also dem zweiten Montag nach dem Schlusstermin für die Wahlanmeldung beziehungsweise nach abweichendem kantonalem Recht dem ersten Montag nach dem Schlusstermin, und dem Tag der Nationalratswahl (vgl. Art. 19 BPR) verstirbt. Das kantonale Recht bestimmt einen Montag im August des Wahljahres als letzten Termin für den Wahlanmeldeschluss (Art. 21 Abs. 1 BPR).

10 Die verstorbene Person muss im Zeitpunkt der Bereinigung der Listen gemäss Art. 143 BV in den Nationalrat wählbar gewesen sein. Obwohl die inzwischen verstorbene Person im Zeitpunkt der Wahl nicht mehr wählbar war, ist eine Stimme zu ihren Gunsten nicht ungültig (vgl. Art. 38 Abs. 1 BPR). Die verstorbene Person kann aber weder gewählte Person noch Ersatzperson (vgl. Art. 43 BPR) sein. Art. 36 BPR regelt, wie mit der Stimme für eine verstorbene Person zu verfahren ist.

11 Art. 36 BPR legt fest, dass eine Stimme für eine im Zeitpunkt der Wahl verstorbene Person als Kandidatenstimme «gezählt» wird. Dies hat zur Folge, dass die Stimme in die Summe der Parteistimmen der betreffenden Liste einfliesst (Art. 39 lit. e BPR). Die Regelung entspricht somit funktional der Figur der Zusatzstimme. Die Liste profitiert von einer Stimme, die nicht von einer Stimme für eine wählbare Person gedeckt ist.

Literaturverzeichnis

Muheim Anton, Wahl des Nationalrates, in: Hangartner Yvo (Hrsg.), Das Bundesgesetz über die politischen Rechte, St. Gallen 1978, S. 65 – 89.

Fussnoten

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10.17176/20240120-131640-0

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