Eine Kommentierung von Katja Gfeller
Herausgegeben von Andreas Glaser / Nadja Braun Binder / Corsin Bisaz / Bénédicte Tornay Schaller
Art. 48 Wahlzettel
Die Kantone lassen den Stimmberechtigten mindestens drei und frühestens vier Wochen vor dem Wahltag einen Wahlzettel zustellen.
I. Entstehungsgeschichte
1 Bei der Einführung des heutigen (gemischten) Nationalratswahlsystems im Jahr 1919 sah das Bundesgesetz betreffend die Wahl des Nationalrates die Zustellung des Wahlmaterials an die Stimmberechtigten am Freitag vor dem Wahlsonntag vor.
2 Mit Art. 33 und Art. 48 BPR wurde auch die Zuständigkeit für den Druck und die Verteilung des Wahlmaterials erstmals für alle Kantone einheitlich geregelt und der öffentlichen Hand übertragen. Zuvor richtete sich diese nach dem kantonalen Recht. Dabei wurden in gewissen Kantonen nicht etwa staatliche Stellen, sondern die Parteien als für die Erstellung und Verteilung der (nicht amtlichen) Wahlzettel zuständig erklärt.
3 Mit der Teilrevision des BPR vom 26. September 2014 wurde der Zeitpunkt der Zustellung des Wahlmaterials bei eidgenössischen Wahlen mit demjenigen bei eidgenössischen Volksabstimmungen
II. Bedeutung der Vorschrift
A. Zuständigkeit und Zeitpunkt der Zustellung
4 Art. 48 BPR legt primär den Zeitpunkt bzw. Zeitrahmen für die Zustellung der Wahlzettel an die Stimmberechtigten bei den Nationalratswahlen in Majorzkantonen fest. Die Wahlzettel haben mindestens drei und frühestens vier Wochen bzw. in der vierletzten Woche vor dem Wahltag bei den in der Schweiz wohnhaften Stimmberechtigten einzutreffen.
5 Weiter wird mit Art. 48 BPR die Zuständigkeit der Kantone (und Gemeinden) für die Zustellung des Wahlmaterials an die Stimmberechtigten gesetzlich verankert.
B. Urnenwahl
6 In der Schweiz können Wahlen von Behördenmitgliedern grundsätzlich anlässlich einer Versammlung der Stimmberechtigten oder durch – persönliche oder briefliche – Urnenwahl vorgenommen werden.
7 Mit Glarus und Appenzell Innerrhoden kennen auf kantonaler Ebene zwei der aktuell sechs Majorzkantone noch heute die Versammlungsdemokratie in Form der Landsgemeinde. So ist im Kanton Appenzell Innerrhoden das Ständeratsmitglied zwingend an der Landsgemeinde zu wählen.
C. Persönliche oder briefliche Stimmabgabe
8 Mit der Teilrevision des BPR von 1993 wurde die briefliche Stimmabgabe der Stimmabgabe an der Urne gleichgestellt.
9 Die automatische Zustellung der Wahlunterlagen gilt grundsätzlich auch für im Ausland wohnhafte Schweizerinnen und Schweizer, die bei den Nationalratswahlen stimmberechtigt sind.
D. Rechtsvergleich
10 Im kantonalen Recht wird betreffend die Zustellung des Wahlmaterials grundsätzlich konkretisiert, welche weiteren Unterlagen (insb. Stimmrechtsausweis, Stimmkuvert, Erläuterungen, Rücksendecouvert) den Stimmberechtigten nebst den Wahlzetteln zuzustellen sind.
11 Überdies halten grundsätzlich auch die kantonalen Rechtsordnungen den Zeitpunkt der Zustellung in der viertletzten Woche vor dem Wahltag gesetzlich fest, wobei diesen Bestimmungen gegenüber Art. 48 BPR indes keine eigenständige Bedeutung zukommt. Hingewiesen sei an dieser Stelle lediglich auf die Regelung im Kanton Appenzell Ausserrhoden, wonach die Gemeinden bei den Nationalratswahlen dafür sorgen, dass das Wahlmaterial und die Wahlanleitung spätestens zehn Tage vor dem Wahlsonntag im Besitz der Stimmberechtigten sind.
III. Kommentierung des Normtextes
A. Zuständigkeit der Kantone (und Gemeinden)
12 Auch wenn es sich bei den Nationalratswahlen um eidgenössische Wahlen handelt und der Bundesgesetzgeber das Wahlverfahren in Art. 16–57 BPR geregelt hat, obliegt die Durchführung der Nationalratswahlen im Wesentlichen den Kantonen und Gemeinden.
13 Die innerkantonale Aufgabenteilung bei Erstellung, Druck und Versand des Walmaterials zwischen Kanton und Gemeinden ergibt sich aus dem kantonalen Recht. Die heutigen Majorzkantone Glarus, Nidwalden, Obwalden, Uri und Appenzell Ausserrhoden erklären die Gemeinden als für die Zustellung zuständig.
14 Falls die Kantone, Gemeinden oder Bezirke Aufgaben wie namentlich Druck, Verpackung oder Versand der Wahlunterlagen delegieren oder auslagern, müssen sie durch eine entsprechende Aufsicht sicherstellen, dass die Wahlen korrekt abgewickelt und die Anordnungen des Bundesrats betreffend die Durchführung der Wahlen befolgt werden.
B. Zeitpunkt der Zustellung
15 Die Wahlzettel sind den Stimmberechtigten gemäss Art. 48 BPR frühestens vier und spätestens drei Wochen, d.h. in der viertletzten Woche vor dem Wahltag, zuzustellen. Für die Zustellung des Wahlmaterials in den Proporzkantonen sieht Art. 33 Abs. 2 BPR denselben Zeitpunkt vor. Ob die Kantone die Wahlunterlagen in der viertletzten Woche vor dem Wahltag versenden oder ob diese dann bei den Stimmberechtigten eintreffen müssen, ergibt sich weder für die Proporz- noch die Majorzkantone eindeutig aus dem Gesetz. Beachtet man jedoch, dass der Zustellungszeitpunkt des Wahlmaterials im Zuge der Teilrevision des BPR vom 26. September 2014 an denjenigen der Abstimmungsunterlagen bei eidgenössischen Abstimmungen angepasst wurde,
16 Die Zustellung der Unterlagen ist so mit der Post zu koordinieren, dass die gesetzlichen Zustellfristen eingehalten werden können.
17 Eine Ausnahme von der in Art. 48 BPR vorgesehenen Zustellfrist gilt für stimmberechtigte Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer. Der Versand der Wahlzettel an im Ausland wohnhafte Stimmberechtigte darf frühestens eine Woche vor dem offiziellen Versand erfolgen.
C. Amtliche Wahlzettel
18 Gemäss Art. 48 BPR ist den Stimmberechtigten ein Wahlzettel zuzustellen. Seit dem Erlass des BPR ist bei den Nationalratswahlen nur noch die Verwendung amtlicher Wahlzettel zugelassen.
19 In denjenigen Majorzkantonen, in welchen das kantonale Recht die Möglichkeit einer stillen Wahl bei der Nationalratswahl vorsieht, werden die Namen aller fristgerecht vorgeschlagenen Kandidierenden auf dem Wahlzettel vorgedruckt.
20 Im Unterschied zu den Proporzkantonen wird in den Majorzkantonen – aufgrund der Einfachheit des Mehrheitswahlverfahrens – keine Wahlanleitung verteilt.
D. Wahltag
21 Gemäss Art. 19 Abs. 1 BPR finden die Wahlen für die ordentliche Gesamterneuerung des Nationalrats am zweitletzten Sonntag im Oktober statt. Ersatz- und Ergänzungswahlen setzt die Kantonsregierung auf den nächstmöglichen Termin an. Die Bestimmung gilt für alle Kantone, mithin sowohl die Proporz- als auch die Majorzkantone. Die Zustellung des Wahlmaterials in der viertletzten Woche vor dem Wahltag erfolgt damit jeweils Ende September.
Materialien
Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung zu einem Bundesgesetz über die politischen Rechte vom 9.4.1975, BBl 1975 I S. 1317 ff. (zit. Botschaft BPR).
Botschaft über eine Teiländerung der Bundesgesetzgebung über die politischen Rechte vom 1.9.1993, BBl 1993 III S. 445 ff. (zit. Botschaft 1993).
Botschaft über die Einführung der allgemeinen Volksinitiative und über weitere Änderungen der Bundesgesetzgebung über die politischen Rechte vom 31.5.2006, BBl 2006 S. 5261 ff. (zit. Botschaft 2006).
Kreisschreiben des Bundesrates an die Kantonsregierungen vom 19.10.2022 über die Gesamterneuerungswahl des Nationalrates vom 22.10.2023, BBl 2022 S. 2547 ff. (zit. Kreisschreiben 2022).
Literaturverzeichnis
Glaser Andreas/Zubler Clio, IV. Modi der Wahlrechtsausübung / Briefliche und elektronische Wahl – Problemfelder des Wahlverfahrens in der Schweiz, in: Glaser Andreas/Langer Lorenz (Hrsg.), Das Parlamentswahlrecht als rechtsstaatliche Grundlage der Demokratie, Zürich 2020.
Häfelin Ulrich/Haller Walter/Keller Helen/Thurnherr Daniela, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 10. Aufl., Zürich et al. 2020.
Hangartner Yvo/Kley Andreas/Braun Binder Nadja/Glaser Andreas, Die demokratischen Rechte in Bund und Kantonen der schweizerischen Eidgenossenschaft, 2. Aufl., Zürich et al. 2023 (zit. Hangartner et al.).
Horlacher Maj-Britt, Die politischen Rechte der Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer, Zürich 2017.
Tschannen Pierre, Staatsrecht der Schweizerischen Eidgenossenschaft, 5. Aufl., Bern 2021.
Fussnoten
- Vgl. Art. 11 des Bundesgesetzes betreffend die Wahl des Nationalrates vom 14.2.1919 (AS 35 359); zur Wahl am Sonntag vgl. Art. 2 des Bundesgesetzes betreffend die Wahl des Nationalrates vom 14.2.1919 (AS 35 359).
- Vgl. Art. 1 Abs. 2 des Bundesgesetzes betreffend die Wahl des Nationalrates vom 14.2.1919 (AS 35 359).
- Vgl. Art. 33 Abs. 2 BPR (AS 1978 688); Art. 48 Abs. 2 BPR (AS 1978 688).
- Botschaft BPR, S. 1342.
- Vgl. Botschaft BPR, S. 1339.
- Art. 5 Abs. 1 BPR; siehe auch Botschaft BPR, S. 1330.
- Vgl. Art. 11 Abs. 3 BPR.
- Für die Proporzkantone vgl. Art. 33 Abs. 2 BPR (AS 2015 543); für die Majorzkantone vgl. Art. 48 BPR (AS 2015 543).
- Art. 33 Abs. 2 und Art. 48 BPR; siehe auch nachstehend Rz. 10.
- Glaser/Zubler, S. 148; zur Landsgemeinde und der bundesgerichtlichen Anerkennung dieser Institution siehe BGE 121 I 138 E. 4 und 5.
- Art. 20bis der Verfassung für den Eidgenössischen Stand Appenzell Innerrhoden vom 24.11.1872 (SR 131.224.2); vgl. hierzu Hangartner et al., Rz. 200.
- Glaser/Zubler, S. 148.
- Vgl. Art. 5 Abs. 3 BPR (AS 1994 2414).
- Art. 8 Abs. 1 Satz 1 BPR.
- Dazu und zum Folgenden Glaser/Zubler, S. 155 f.
- Art. 16 Abs. 1 ASG.
- Art. 19 Abs. 1 ASG.
- Vgl. z.B. Art. 26 ff. des Gesetzes des Kantons Uri vom 21.10.1979 über die geheimen Wahlen, Abstimmungen und die Volksrechte (WAVG/UR; RB 2.1201); Art. 15 des Einführungsgesetzes des Kantons Nidwalden vom 27.5.2009 zur Bundesgesetzgebung über die politischen Rechte (EG BPR/NW; NG 131.1).
- Art. 26 Abs. 2 des Gesetzes des Kantons Appenzell Ausserrhoden vom 24.4.1988 über die politischen Rechte (GPR/AR; bGS 131.12).
- Vgl. vorstehend N. 3.
- Vgl. auch Art. 7a VPR; siehe weiter Hangartner et al., Rz. 169 f.; Tschannen, Rz. 1761; exemplarisch Art. 4 EG BPR/NW; Art. 25 Abs. 1 des Gesetzes des Kantons Obwalden vom 17.2.1974 über die Ausübung der politischen Rechte (Abstimmungsgesetz; AG/OW; GBD 122.1); Art. 6 Abs. 1 WAVG/UR; in Appenzell Innerrhoden erfolgt die Durchführung der Nationalratswahl in den Bezirken, vgl. Art. 2 Abs. 3 der Verordnung des Kantons Appenzell Innerrhoden vom 23.10.2017 über die Urnenabstimmungen (VUA/AI; GS 160.010).
- Vgl. Art. 17 VPR.
- Dies, obwohl es sich – im Unterschied zu Art. 33 BPR für die Proporzkantone – nicht ausdrücklich aus Art. 48 BPR ergibt, siehe BGer 1P.120/1996 vom 12.9.1996, E. 4b, in: ZBl 98/1997, S. 355 ff.; Botschaft 1993, S. 542; vgl. auch Kreisschreiben 2022, Ziff. 5.8.
- Vgl. Art. 86 Abs. 1 BPR; vgl. auch Botschaft BPR, S. 1339.
- Vgl. Art. 9 Abs. 4 der Verordnung des Kantons Glarus vom 21.11.2017 über die politischen Rechte (VPR/GL; GS I D/22/3); Art. 15 EG BPR/NW; Art. 28 Abs. 1 AG/OW; Art. 28 Abs. 1 WAVG/UR; Art. 26 Abs. 2 GPR/AR.
- Art. 20 Abs. 1 VUA/AI.
- Kreisschreiben 2022, Ziff. 5.4.3.
- Siehe hierzu auch vorstehend N. 2.
- Kreisschreiben 2022, Ziff. 5.4.2.
- BGer 1C_243/2011 vom 15.9.2011 E. 2.1; BGE 104 Ia 236 E. 2c; Entscheid des basellandschaftlichen Verfassungsgerichts vom 8.6.1994, in: BLVGE 1994, S. 20 ff., S. 26; vgl. auch Häfelin/Haller/Keller/Thurnherr § 45 Rz. 1390.
- BGer 1C_243/2011 vom 15.9.2011 E. 2.1; BGE 114 Ia 42 E. 4c; Horlacher, Rz. 160; Tschannen Rz. 1838; vgl. auch Urteil des Freiburger Kantonsgerichts 601 2019 204 vom 27.11.2019.
- Dazu und zum Folgenden z.B. BGE 114 Ia 42 E. 4a m.w.H.; BGE 140 I 338 E. 4.4 m.w.H.; zum Ganzen auch Entscheid des basellandschaftlichen Verfassungsgerichts vom 8.6.1994, in: BLVGE 1994, S. 20 ff.
- BGE 114 Ia 42 E. 4b.
- Vgl. BGE 104 Ia 236 E. 2c; Entscheid des basellandschaftlichen Verfassungsgerichts vom 8.6.1994, in: BLVGE 1994, S. 20 ff., S. 27 f.
- Vgl. Art. 2b VPR; Art. 12 Abs. 3 V-ASG.
- Kreisschreiben 2022, Ziff. 5.5.1.
- Art. 12 Abs. 4 V-ASG; noch zum inhaltlich gleichlautenden Art. 10 Abs. 3 VPRAS vgl. Urteil des Berner Verwaltungsgerichts vom 5.5.2011 E. 4.4 und 4.5, in: BVR 2011 S. 529 ff., bestätigt mit BGer 1C_243/2011 vom 15.9.2011 E. 2; siehe auch Horlacher, Rz. 160.
- Art. 13 Abs. 1 V-ASG; vgl. auch Art. 18 Abs. 3 ASG.
- Art. 13 Abs. 2 V-ASG.
- Art. 5 Abs. 1 BPR; siehe auch Botschaft BPR, S. 1330.
- Vgl. auch Art. 49 Abs. 1 lit. b BPR.
- Art. 50 Abs. 1 BPR.
- Vgl. bereits BGE 113 Ia 291 E. 3b; siehe auch Urteil des OGer AR vom 1.7.2015 E. 2.1, in: AR GVP 27/2015 Nr. 3648, S. 69 ff.
- Vgl. Urteil des OGer AR vom 1.7.2015 E. 2.2, in: AR GVP 27/2015 Nr. 3648, S. 69 ff.
- Vgl. Art. 34 BPR; Botschaft 2006, S. 5302; vgl. auch Kreisschreiben 2022, Ziff. 5.4.1.
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